Zu den menschengemachten Staus vor den Portalen des Gotthard-Strassentunnels
Am Donnerstag, 29. September, meldete Radio SRF1 vor den Mittagsnachrichten je 4 km Stau vor dem Süd- und dem Nordportal des Gotthard-Tunnels – eine Meldung, die inzwischen wie alltägliche Normalität zur Kenntnis genommen wird. Dabei kamen noch vor wenigen Jahren solche Staus an normalen Werktagen nur ausnahmsweise bei Unfällen oder Pannen vor. Mein intuitiv-statistisches Urteil dazu basiert auf einer 12-jährigen Erfahrung. Ich bin zwischen Juli 2010 und September 2022 jedes Jahr gegen zehn Mal in mein Ferienhaus im Piemont gefahren. Die Dynamik des Stauwachstums am Gotthard habe ich gleichsam am lebendigen Leib erfahren.
Dass die gesamtschweizerische Staudynamik von den Verfechtern einer gesteuerten Zuwanderung aufgegriffen wird, kann nicht überraschen. Wie gross der Beitrag des zunehmenden Dichtestresses am Gotthard ist, dürfte schwierig abzuschätzen sein. Studien dazu sind mir nicht bekannt. Nun habe ich aber bei meiner jüngsten Fahrt zurück aus dem Piemont meine eigene Studie gemacht. Sie war ganz einfach aus dem im Stau stehenden Auto zu erledigen. Ich mass mit meinem Handy die Grün- und die Rotphase vor der ersten Tropfenzähler-Ampel vor der Tunneleinfahrt am Südportal.
Die Ampeln blieben genau 12 Sekunden auf grün. Und nach der kurzen Orangephase wartete man bei Rot fast eine halbe Minute – genau waren es 29 Sekunden – auf den Wechsel zu grün. Man kann sich leicht vorstellen, wie wenige Autos in der Grünphase Richtung Tunneleinfahrt passieren konnten, von Lastwagen mit ihrer trägen Beschleunigung ganz zu schweigen. Meine Grobschätzung: zwei Lastwagen und sechs Personenwagen pro Grün-Rotphase (ca. 45 Sekunden). Eine zweite Grobschätzung: Mit einer derart restriktiven Tropfenzähler-Einstellung wird die mögliche Kapazität des Tunnels höchstens zu einem Drittel, wahrscheinlich sogar weniger, genutzt.
Natürlich haben die Tessiner und die Urner Polizei (oder wer immer diese Grün-Rot-Phasen bestimmt) das unangreifbare Argument der Verkehrssicherheit stets auf ihrer Seite. Allerdings stellt sich beim Gotthard-Paradox die Trade-off Frage immer akuter. Wenn bei zunehmendem Verkehr der Tropfenzähler immer restriktiver eingestellt wird (Paradox) und die Staus wachsen und zum alltäglichen Ärgernis werden, verändert sich auch der Trade-off zwischen Verkehrssicherheit im Tunnel und den zunehmenden Staukosten. Irgendwann kippt die Rechnung, und die Staukosten (inklusive Mehrausstoss an CO2 und psychischem Stress) werden schlicht so hoch, dass die Tunnelkapazität aus einer übergeordneten Perspektive wieder erhöht werden muss.
Fazit: Den Dosierungs-Entscheid am Gotthard kann man nicht einfach einer Stelle überlassen, für die die Verkehrssicherheit im Tunnel das einzige Kriterium darstellt. Eine solche Stelle nimmt extrem hohe Staukosten in Kauf, um bei schlimmen Unfällen im Tunnel dem Vorwurf zu entgehen, sie habe für die Verkehrssicherheit zu wenig unternommen.
Dieser Text erschien, minim redigiert, in der Weltwoche, Ausgabe 41/2022 vom 13. Oktober 2022