Klimapolitik und der «neue Moraladel»

Klimaleugner kann man heutzutage ebenso rasch und unverhofft werden wie «Rassist». Es genügt, das 1,5-Grad- oder das Netto-null-Ziel kritisch zu hinterfragen. Roger Pielke Jr. etwa, ein Politikwissenschafter an der University of Colorado in Boulder, wurde als «Klimaleugner» diffamiert, bloss weil er in akribischen Datenanalysen zu Dürren, Überschwemmungen, Buschbrände oder Orkanen – entgegen dem verbreiteten Alarmismus – keine klaren Trends zu extremeren globalen Wetterereignissen feststellen konnte.

Wohlhabende Wachstumskritiker

Pielke äusserte zudem, wenn man sich in der Klimadebatte bewege, werde man oft von Leuten angegriffen, die sagen, zur Senkung von CO2-Emissionen müsse das Wirtschaftswachstum gestoppt werden. Er höre diese Argumentation meistens von wohlhabenden Akademikern in noblen Universitätsstädten in den reichen Teilen der Welt. Das ist auch in der Schweiz nicht anders. Umfrageergebnisse zu den Referenden gegen das Energiegesetz vom Mai 2017 (gescheitert) oder gegen das CO-Gesetz vom Juni 2021 (erfolgreich) bestätigen Pielkes Aussage über die klimabesorgten wohlhabenden Wachstumskritiker.

Beide Gesetzesvorlagen appellierten an wachstumskritische Kreise, was man aus dem Zustimmungsgefälle von links (hoch) nach rechts (niedrig) ablesen kann. Interessanter ist jedoch das Gefälle nach Bildungsgrad. Akademisch Gebildete (Fachhochschule/ Uni/ETH) machten in beiden Abstimmungen mit grossem Vorsprung die höchsten Anteile an Ja-Stimmen aus. Während Stimmende mit beruflicher Grundbildung/ Berufslehre das Energiegesetz mit nur 45 Prozent Ja-Stimmen ablehnten, stimmten 74 Prozent der akademisch Gebildeten dem Gesetz zu. Beim CO-Gesetz waren die Hochgebildeten mit einem Ja-Anteil von 64 Prozent die einzige zustimmende Kategorie. Gleichzeitig glänzten die akademisch Gebildeten wie immer mit der klar höchsten Stimmbeteiligung.

Dieses Abstimmungsverhalten der Hochschul-Gebildeten hat wenig mit fundierterem Wissen zum konkreten Thema, jedoch viel mit Werten und Moral zu tun. Hält man sich an die Kategorien des US-amerikanischen Politikwissenschafters Jason Brennan, passen die Hochgebildeten gut in seine Gruppe der politischen «Hooligans». Diese halten sich für politisch gut informiert, pflegen aber ein festgefügtes Weltbild. «Having opinions» gehört für sie zur persönlichen Ausstattung. Diese Meinungen gelten auch als Ausdruck moralisch höherer Werte und werden gegen Sachargumente und neue Information mit aller Kraft verteidigt.

Werte versus Wirkungen

Jenseits der Interpretationen der VOX- und VOTO-Umfrageforscher zu den beiden Referenden fördert eine vertiefte Analyse einen grundsätzlichen Unterschied in den wichtigsten Abstimmungsmotiven von Befürwortern und Gegnern zutage. Etwas plakativ ausgedrückt: Befürworter wünschen sich eine Welt nach ihren eigenen Idealvorstellungen. Dazu passt, dass auch die erwarteten Folgen gerne idealisiert werden, vorzugsweise ganz unbescheiden als Einsatz für eine bessere Welt, zur Rettung des Planeten oder für künftige Generationen. Gegner dagegen fragen sich: Wenn wir das tun, welche Folgen wird das haben? Den ersten geht es um Werte, den zweiten um Wirkungen.

Das Leben nach bestimmten Werten dient oft auch der Selbstinszenierung. Ein Leben in höheren Sphären der Moral ist jedoch oft mit Kosten verbunden. Man denke nur an die üblichen Preise für Angebote ethischen Konsums aller Art. Doch Werte müsse man sich leisten können, schrieb der Kulturwissenschafter Wolfgang Ullrich vor einigen Jahren in einem Beitrag in der NZZ. Werte zur Geltung zu bringen, sei an Ressourcen und Aufwand gebunden. Deshalb sei die Lebensorientierung an Werten «die Seligkeit nur von Eliten». Der «neue Moraladel» könne es sich dank seiner privilegierten sozialen Stellung leisten, einen wertebewussten Lebensstil zu verwirklichen und sich damit auch über andere Menschen zu erheben.

Im Lichte dieser Erkenntnisse kann es nicht verwundern, dass eine Orientierung an Werten in der meist auch materiell gut versorgten Bildungselite besonders verbreitet ist. Deren hohe Zustimmung zum Energiegesetz mit seinem hohen moralischen Anspruch als Einstieg in die «Energiewende» – gepaart mit der Forderung nach einem Ausstieg aus der bösen Kernenergie, bestätigt dies.

Doch der akademisch gebildete «Moraladel» ist nicht nur in Bezug auf die Klima- und Energiepolitik in den meinungsmachenden Institutionen (Politik, staatliche Verwaltung, Medien, Wissenschaft und Kultur) stark übervertreten. Der übergrosse Einfluss dieser Meinungsmacht auf die öffentliche Meinungsbildung gilt für alle ideologisch aufgeladenen gesellschaftlichen Fragen. Oder besser gesagt: Der neue «Moraladel» ist bestrebt, möglichst jedes gesellschaftliche Thema zu einer Frage der richtigen Gesinnung zu machen.

Dieser Text erschien leicht gekürzt am 29. Dezember 2022 auf nzz.ch

America first – auf Kosten der Europäer?

Ergänzende Bemerkung zu einem herumschwirrenden globalstrategischen Narrativ

Der von Putin angezettelte Ukrainekrieg hat eine ganze Reihe von strategischen Versäumnissen Europas, bzw. der europäischen Wohlfahrtsstaaten, ins Bewusstsein gerückt. Natürlich denkt man zuallererst an die akute Krise der Energieversorgung. Deren Grundlage haben allerdings all die von illusionären rot-grünen Ideen getriebenen „Energiewenden“ gelegt. Der Ukrainekrieg hatte nur beschleunigende Wirkung auf dem Weg des Scheiterns.

In der heutigen europäischen Debatte dominiert ein bestimmtes Narrativ, das in den Medien weiterhin herumgereicht wird. Deshalb erlaube ich mir eine Wiederholung meiner Argumentation im Blog-Beitrag „Die schiefen Analogien von Roger Köppel“. Hier das Narrativ: Die Vereinigten Staaten haben die berechtigten europäischen Interessen an einem friedlich-fruchtbaren Verhältnis zu Russland gering geschätzt. Als Sieger der früheren Rivalität der Supermächte wollten sie Russland auf dem Niveau einer Regionalmacht halten. Ausgerechnet Obama (und nicht Trump) soll sich einmal entsprechend ungeschickt und provozierend ausgedrückt haben.

Diese Erzählung entlastet Europa von eigener Verantwortung und belastet die USA. Sie ist aber in einem entscheidenden Punkt unvollständig und deshalb falsch. Die europäischen Wohlfahrtsstaaten haben es sich nach dem Ende des Kalten Kriegs unter dem US-amerikanischen militärischen Schutzschirm bequem eingerichtet, und sie haben praktisch ausnahmslos ihre militärischen Budgets zugunsten sozialpolitischer Wohltaten vernachlässigt, und dies in den wichtigsten Volkswirtschaften (Frankreich, Italien, Deutschland, UK) bei schleichender Erhöhung der Staatsverschuldung. Immer wieder wurden die europäischen Regierungen von den USA aufgefordert, mehr Mittel für ihre Armeen zu sprechen – ohne Erfolg.

Die Europäischen Staaten und die EU als Staatengemeinschaft sind deshalb in der heutigen geostrategischen Konstellation selbstgewählt zu Leichtgewichten geworden. Nichts könnte die schleichende Dekadenz Europas besser illustrieren als diese Entwicklung. Wenn es in labilen politischen Mehrheitsverhältnissen jeweils nur noch darum geht, mit allen Mitteln und um jeden Preis Wahlen zu gewinnen, kann man nicht erwarten, dass in wohlfahrtsstaatlich konditionierten Bevölkerungen Parteien Erfolg haben, die höhere Ausgaben für die militärische Sicherheit fordern. Wenn dann doch ein Krieg da ist, wechselt die allgemeine Stimmung abrupt, nur ist es dann zu spät.