Harte Zeiten für die westlichen Demokratien

Dieser Text erschien unter dem Titel „Lasst euch lumpen“ in der Weltwoche 20.24 vom 16. Mai 2024

Im fernen Jahr 1994 erklärte Paul Krugman, der US-amerikanische Wirtschafts-Nobelpreisträger von 2008, in einem Artikel in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ den wirtschaftlichen Aufstieg der asiatischen Tigerstaaten (Südkorea, Taiwan, Singapur) mit ihren hohen Wachstumsraten wie folgt: „Wenn es ein Geheimnis für das asiatische Wachstum gibt, dann ist es schlicht aufgeschobene Belohnung („deferred gratification“), also die Bereitschaft, für zukünftigen Gewinn aktuelle Bedürfnisbefriedigung zu opfern. Das ist eine schwer zu akzeptierende Antwort, besonders für amerikanische politische Intellektuelle, die vor der tristen Aufgabe zurückschrecken, Defizite abzubauen und die nationale Sparquote zu erhöhen.“

Diese glasklare Begründung, die mit ihrer liberal-konservativen Botschaft so gar nicht zum heutigen linksgewickelten Krugman passt, mag krud erscheinen, aber sie enthält den wesentlichen Punkt. Was zu ergänzen wäre: Um eine Strategie des aufgeschobenen Konsums, hoher Sparquoten und geringer Verschuldung durchzuhalten, brauchte es den „wohlwollenden Diktator“ (Lee Kwan Yew in Singapur) oder autokratische Institutionen mit einer dominierenden Partei (Taiwan und Südkorea). Die Schweiz bot in der Gründerzeit nach 1848 als repräsentative Demokratie mit einer FDP-Einparteienregierung ein frühes Muster des volkswirtschaftlichen Aufstiegs durch „deferred gratification“. Bis heute profitieren wir von den Pionierleistungen jener Periode.

Mit einem Wachstumsprogramm unter dem Slogan „deferred gratification“ sind in den wohlfahrtsstaatlichen Demokratien von heute keine Wahlen zu gewinnen. Besonders die Politiker der hoch verschuldeten Problemländer traten bei ihren auf Gegenwartskonsum fixierten Wählern genau mit der gegenteiligen Strategie „anticipated gratification“ in Erscheinung: schuldenfinanzierte wohlfahrtsstaatliche Expansion. Wer meint, in der Schweiz sei alles anders, das heisst natürlich besser, sollte sich an den 3. März erinnern. Gälte für unsere Politik die Losung „deferred gratification“, hätten die Ergebnisse der beiden AHV-Volksinitiativen umgekehrt lauten müssen. Eine überdeutliche Mehrheit hätte gegen eine 13. Monatsrente stimmen müssen, eine deutliche Mehrheit für die Bindung des Rentenalters an die Lebenserwartung.

Institutionalisierte Dekadenz

Die westlich-europäisch geprägten Demokratien haben sich in den Jahrzehnten seit Krugmans treffender Aussage als Systeme der institutionalisierten Dekadenz erwiesen. Geradezu gesetzmässig wirken Fehlanreize auf Politik und Publikum. Das Stichwort, das fast alles erklärt, was schief läuft, lautet „Wählerkauf“. Was das in der erlebten Wirklichkeit konkret bedeuten kann, lässt sich zum Beispiel an dem oft erbärmlichen Zustand italienischer Staatsstrassen besichtigen. Oder ein anekdotisches Beispiel aus Deutschland: In der Nähe zur Schweizer Grenze empfehle ich die Besichtigung des verwahrlosten Bahnhofs der Kreisstadt Tuttlingen mit immerhin knapp 40’000 Einwohnern.

Dramatisch zeigt sich das Phänomen „Wählerkauf“ auch an der Unwilligkeit der europäischen NATO-Staaten, ihren angemessenen Beitrag zum westlichen Verteidigungsbündnis zu leisten. So haben sie sich sehenden Auges in die Abhängigkeit von strategischen Interessen der USA begeben. Gemeinsam ist den staatlichen Kernaufgaben Militär und Infrastrukturen, dass sie im Vergleich zu direkten Begünstigungen in der Bevölkerung und der Politik eher unpopulär sind.

Die populären Begünstigungen sind überwiegend gesetzlich gebundene, oft sozialpolitisch, zunehmend auch klima- oder industriepolitisch begründete Staatsausgaben. In der Sozialpolitik steigen die Ansprüche allein aus demografischen Gründen. Andernorts, weil Fördergelder nicht wie erhofft wirken und deshalb nach üblicher politischer Logik einfach erhöht werden – nach dem Motto „mehr vom gleichen“. Und immer öfter braucht es zusätzlich Geld, um politische Fehlleistungen auszubügeln.

Konditionierung der Menschen im Wohlfahrtsstaat

Im fortgeschrittenen Wohlfahrtsstaat sind fast alle Interessen auf Bedürfnisbefriedigung in der unmittelbaren Gegenwart gerichtet. Das historische Verständnis für die Ursachen des langfristigen wirtschaftlichen Fortschritt ist verloren gegangen. Mit der Zersplitterung der Parteienlandschaft in den westlichen Demokratien befinden sich die Parteien, von Umfragen getrieben, im Dauerwahlkampf. Denn wenige Prozentpunkte an Wählerstimmen können über die Beteiligung an einer Koalitionsregierung bestimmen. Das steigert die Anreize für schuldenfinanzierte Wohltaten auf Kosten späterer Generationen.

Die hier beschriebenen Entwicklungen werden ausserhalb unserer Gesellschaften als Symptome westlicher Dekadenz wahrgenommen. Die wünschbare echte Zeitenwende zurück zu einem verantwortungsvollen Umgang mit knappen Ressourcen wird dadurch erschwert, dass der Wohlfahrtsstaat menschliches Verhalten konditioniert. Erwartungen an Politik und Staat werden, moralisch aufgeladen, zu Ansprüchen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind, weil sich daraus eine Art Gewohnheitsrecht ableiten lässt. Die Leistungsbereitschaft nimmt in einem solchen Klima Schaden. Das Recht auf Wohlstand ist kein Menschenrecht. Wobei wir nicht sicher sein können, ob der EGMR in Strassburg das nicht anders sieht.

Schweizer Stimmbürger ticken wie amerikanische Wähler

Dieser Text erschien am 6. Mai 2024 auf Nebelspalter online (nebelspalter.ch) in einer leicht anderen Version.

Das Ja des Stimmvolks zur gewerkschaftlichen Volksinitiative für eine 13. AHV-Monatsrente haben wir hinter uns. Vor uns liegen Abstimmungen, die mithilfe linkspopulistischer Rezepte das Kostenwachstum im Gesundheitswesen bremsen wollen. Im rechten politischen Spektrum steht das Thema der illegalen Immigration ganz oben auf der Agenda. Erhebungen im Vorfeld der US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen zeigen, dass die Leute dort ganz ähnlich ticken wie hier.

Eine Umfrage im Auftrag der US-amerikanischen Internet-Plattform „The Liberal Patriot“ testete 40 verschiedene politische Ideen im Zusammenhang mit den Wahlkampagnen der Präsidentschaftskandidaten Biden und Trump. Dieser Kommentar stützt sich auf die ausführliche Analyse auf „The Liberal Patriot„.

Die wichtigsten Themen für Biden waren im Allgemeinen Vorschläge rund um das Gesundheitswesen, von denen die meisten grossen Anklang fanden. Ein Beispiel ist die Erhöhung der Zahl der verschreibungspflichtigen Medikamente, deren Preis Medicare (die bundesstaatliche Krankenversicherung für Senioren) aushandeln kann. Dieser Vorschlag wurde von 81 Prozent der Wähler unterstützt, und nur sechs Prozent lehnten ihn ab, was einer fulminanten Nettounterstützung von 75 Prozentpunkten entspricht. Diejenigen, die diesen Vorschlag unterstützten, unterstützten mit netto 57 Prozentpunkten (72-15) sehr deutlich auch die Nutzung der Befugnisse des Präsidenten, um illegale Grenzübertritte von Migranten an der Grenze zu Mexiko zu stoppen.

Die Befragung ergab bei weiteren Vorschlägen zum Gesundheitswesen und zur illegalen Immigration ein ähnliches Bild: „The Liberal Patriot“ kommentierte dies so, dass Wähler, die im Gesundheitswesen linkspopulistische Ideen zur staatlichen Senkung der Gesundheitskosten unterstützen, mit überwältigender Mehrheit auch einen viel härteren Ansatz gegen die illegale Einwanderung fordern. Eine erstaunlich grosse Zahl von Wählern vertritt eine Kombination von links- und rechtspopulistischen Ansichten.

In der Schweiz brauchen wir weniger Umfragen als in anderen Ländern, weil wir vierteljährlich über alles Mögliche abstimmen. Dabei zeigt sich in jüngerer Zeit, dass Schweizer Stimmbürger ähnlich ticken wie amerikanische Wähler. Offensichtlich reagieren die Leute auf unmittelbar drängende Probleme – Lebenshaltungskosten/Inflation bzw. illegale Immigration/innere Sicherheit – und haben keine Mühe, politisch klar linke mit traditionell rechten Präferenzen zu kombinieren und zu vertreten. Ideologie tritt in den Hintergrund, je drängender die Probleme im Alltag spürbar werden. Diese Einsichten bewahren uns vor Überraschungen bei den kommenden Abstimmungen.