Ein nüchterner Blick auf den Wunsch nach mehr politischer Führung
Beim CS-Debakel hätte man sich auch mehr politische Leadership gewünscht
Wenn in unseren westlichen Demokratien grössere Probleme auftauchen oder schon kaum mehr zu bewältigen sind – wie gerade jetzt – dann ertönt allenthalben der Ruf nach mehr Leadership. Das bedeutet in Demokratien, dass wir politisches Personal gewählt haben, das unsere Erwartungen enttäuscht. Offenbar handelt es sich um ein verbreitetes Phänomen. Das Pew Research Center publizierte aufgrund einer Umfrage im Jahr 2023 die unten gezeigte Tabelle. Gefragt wurde nach den am häufigsten genannten Themen, wenn Leute beschreiben, wie die Funktionsweise der Demokratie in ihrem Land verbessert werden könnte.

Der Ruf nach besseren und kompetenteren Politikern übertönt alles andere. Auffallend ist, dass in einigen Ländern auch die „citizens“ als verbesserungswürdig genannt werden. Nur ist dies kaum als Selbstkritik gedacht, sondern gemeint sind dabei wohl einfach „die anderen“. Wenn die nur so wählen oder abstimmen würden wie ich, wäre alles besser.
Der heutige Mangel an Leadership in westlichen Demokratien zeigt sich allein schon darin, dass die Personen an der Macht aus Angst vor einem Popularitätsabfall oder gar einem Verlust des Amtes nicht mehr den Mut haben, den Leuten über akute Problemlagen reinen Wein einzuschenken. Und vor unpopulären Massnahmen schrecken sie ohnehin beim ersten Hauch von Gegenwind zurück. Ein Muster von Leadership bis hin zum hohen Preis des Amtsverlusts lieferte vor gut 20 Jahren noch der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder mit der konfliktreichen Durchsetzung seiner „Agenda 2010“. Deren wirtschaftliche Früchte buchte dann seine Nachfolgerin Angela Merkel in ihre eigene Bilanz. Deshalb dauerte es so lange, bis die einst zur mächtigsten Frau der Welt hochgejubelte Kanzlerin in der Öffentlichkeit als das erkannt wurde, was sie geradezu prototypisch verkörperte – als wendige Opportunistin der Macht.
Lauter offene Fragen
Weshalb wählen die Wahlberechtigten immer wieder Politiker, von denen sie danach enttäuscht werden? Doch stehen bessere und kompetentere überhaupt zur Verfügung? Gehen Leute mit erkennbarem Format heute noch in die Politik? Und würden bessere Politiker von den Parteien auf die Wahllisten gesetzt, oder sind Format und Kompetenz bloss sekundär, um in der Politik Karriere zu machen?
Doch die entscheidende Frage lautet: Was ist das Problem am Ruf nach mehr Leadership in Demokratien? Der Begriff ist ein Import aus der Unternehmensführung. Ein demokratischer Staat ist aber keine Firma – eine triviale Feststellung. Ein Unternehmen hat ein möglichst klares Ziel, auf das alle Tätigkeiten im Idealfall ausgerichtet sind. In einer demokratisch verfassten Gesellschaft driften unterschiedlichste Interessen aber auseinander. Die Essenz der Demokratie besteht in der „Aggregation der Interessen“ mit dem Ziel, Mehrheiten zu finden. Man mus ja immer auch fragen: Leadership wozu oder wohin? Gibt es gemeinsame Ziele, auf die politische Führung auszurichten wäre? Und gibt es Mehrheiten für die daraus abgeleiteten Massnahmen und Programme?
Tiefe, ideologisch aufgeladene Gräben
Mit Gemeinsamkeiten ist es heute nicht weit her. In gewichtigen Demokratien beklagt man zu Recht eine tiefe politische Spaltung. Im Zweiparteiensystem der USA, eine Folge des Majorz-Wahlsystems in Einerwahlkreisen für das Repräsentantenhaus, ist man nach Wählerstimmen nicht weit von einer 50 zu 50-Konstellation entfernt. Die beiden Lager sind aber inhaltlich in jüngerer Zeit weit auseinander gedriftet, weil bei den Demokraten eine progressive Elite die Partei weit nach links geführt hat. Die Wähler haben diese Spaltung mit der erneuten Wahl von Donald Trump korrigiert und damit die Demokraten gezwungen, sich wieder mehr auf die gesellschaftliche Mitte hin zu orientieren. Im Präsidialsystem der USA ist jedoch Leadership in den Institutionen angelegt.
In Deutschland und Frankreich hat die Spaltung eine anderes Gesicht. Hier gibt es grösste Schwierigkeiten, nicht zuletzt wegen „Brandmauern gegen rechts“, überhaupt noch regierungsfähige, programmatisch verträgliche Koalitionen zu bilden. Die Folgen zeigen sich im wirtschaftlichen Abstieg der beiden Länder, dramatischer in Frankreich. Dass eine notdürftig zusammengeschusterte Koalition wie die deutsche Ampelregierung keine für das Land lohnende Leadership-Rolle spielen kann, war angesichts der programmatischen Differenzen von Anfang an absehbar. Zugegeben, man könnte dieser Regierung auch Leadership zubilligen – aber dann „Leadership ins Abseits“. Blickt man noch nach Grossbritannien als einem weiteren wirtschaftlichen Schwergewicht in Europa, sieht es dort bezüglich Leadership auch nicht besser aus.
Und die Schweiz?
Tiefere politische Gräben und verschärfte Richtungskämpfe im Vergleich zu früher gibt es auch bei uns. Zudem zeigen sich in unserer Energiewende-Politik auch Anflüge von „Leadership ins Abseits“. Die direkte Demokratie hat aber wohl den Vorteil, dass sie die Leute eher dazu bringt, sich selbst als Thema enttäuschter Erwartungen an die Politik zu hinterfragen. Gerne wüsste man, ob auch in der Schweiz bessere Politiker als häufigster Wunsch nach einer besseren Politik genannt würden. Leider fehlt die Schweiz auf der Tabelle des Pew Research Centers.
Der verstorbene St.Galler Ökonom Gebhard Kirchgässner äusserte sich in einem Text unter dem Titel „Vom Mythos der politischen Führung“ über Leadership in der direkten Demokratie (publiziert im Buch „Wie viel direkte Demokratie verträgt die Schweiz?“). Unterstelle man wie die ökonomische Theorie der Demokratie, dass die Wähler rational sind und deshalb wissen, was sie mit ihrer Wahlentscheidung bewirken, müsse man die Ergebnisse der Wahlen akzeptieren. Das entspreche dem, was die Wähler anstrebten. Nimmt man die Tabelle oben, verfällt man über die ökonomische Theorie der Demokratie ins Grübeln.
In einem der nächsten Beiträge drehen wir den Spiess um und fragen: Sind wir „Citizens“ denn besser als unsere Politiker? Haben wir nicht genau die Politiker, die unserem Niveau entsprechen? Oder anders gefragt: Stimmt die erwähnte ökonomische Theorie der Demokratie, die besagt, dass die Wähler rational sind und deshalb wissen, was sie mit ihrer Wahl- oder Abstimmungsentscheidung bewirken?