Alle wollen bessere Politiker. Verdienen wir solche?

Ein paar Gedanken zum Mythos vom rational entscheidenden Wähler

Hans Rosling, der 2017 verstorbene Professor für internationale Gesundheit am Karolinska Institut der Universität Stockholm, zeigt zu Beginn eines TED-Referats, dass Schimpansen in einem einfachen Test besser abschneiden würden als seine Elite-Studenten. Professoren erreichten knapp das Ergebnis der Schimpansen.

In meinem früheren Blog-Beitrag „Bitte mehr Leadership“ hatte ich den verbreiteten Wunsch der Leute nach mehr und besserer Führung in der Politik kommentiert. Am Schluss stellte sich die Frage, ob wir Stimmbürger und Wähler bessere Politiker überhaupt verdienen würden oder ob wir nicht genau die Politiker hätten, die unserem Niveau entsprechen. Ich hatte Zweifel an der ökonomischen Theorie der Demokratie geäussert, die besagt, dass die Wähler rational sind und deshalb wissen, was sie mit ihrer Wahl- oder Abstimmungsentscheidung bewirken. Ich bin nicht allein mit meinen Zweifeln. Es gibt prominentere Skeptiker.

Ein paar ausgewählte Zitate

Von Winston Churchill stammt nicht nur das berühmte Bonmot, die Demokratie sei die schlechteste Regierungsform, wenn man von all den anderen Formen absehe, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden seien. Ebenfalls Churchill zugeschrieben (allerdings von der International Churchill Society als unecht bezeichnet) ist diese unfreundliche Aussage über das Wahlvolk:
Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit dem Durchschnittswähler.

Der Soziologe und Essayist Wolfgang Sofsky schrieb in einem NZZ-Artikel vom Februar 2019 einen Satz, dem man gerade in heutiger Zeit nicht widersprechen möchte:
Einen Vorteil an Sachkompetenz kann die Demokratie kaum für sich beanspruchen.

Thomas Hofmann, Professor an der ETHZ und Experte für künstliche Intelligenz, äusserte sich über die Urteilsfähigkeit der Menschen so:
Ich glaube, wir überschätzen in vielen Bereichen, wie gut Menschen urteilen. Oft entscheiden Menschen sehr schlecht. Zum einen können wir nur schlecht mit Unsicherheit und Wahrscheinlichkeit umgehen. Zum anderen ist unser Urteil durch Vorurteile und subjektive Faktoren getrübt.

Hans Rosling ging nach dem oben erwähnten Einstiegstests mit einer ausgewählten Elite von Erstsemesterstudenten spontan ein Licht auf:
Das Problem für mich ist nicht Ignoranz, sondern es sind Vorurteile.

Jason F. Brennan, ein US-amerikanischer Philosoph und Politikwissenschaftler an der Georgetown University, ist Autor eines Buches mit dem Titel „Against Democracy“. Die deutsche Übersetzung „Gegen Demokratie“ wurde zu einem Spiegel-Bestseller. Im Buch gibt es einen sehr elitär klingenden Satz:
Wenn es um politisches Wissen geht, wissen einige Leute viel, die meisten Leute wissen nichts, und viele Leute wissen weniger als nichts.

Man muss bei Brennan ins Detail gehen, sonst missversteht man den zitierten Satz. Die, die nichts wissen, die politisch Uninteressierten, entsprechen Roslings Schimpansen. Die Uninteressierten sind eher harmlos, da sie sich selten aktiv an der Politik beteiligen (z.B. in schweizerischen Volksabstimmungen nicht selten unter zehn Prozent Beteiligung). Roslings Studenten sind vergleichbar mit Brennans Menschen, die weniger als nichts wissen, weil ihr Wissen von Vorurteilen verzerrt ist. Das sind gemäss Brennan für die Demokratie die Gefährlichen, auch weil sie sich am aktivsten an der Politik beteiligen. Das Beispiel der Top-Studenten von Rosling ist ein Hinweis, dass gerade auch Eliten für Vorurteile anfällig sind.

Der US-amerikanische libertäre Ökonom Bryan Caplan schrieb schon vor Jahren ein Buch mit dem Titel „The Myth of the Rational Voter“. Er machte vier Verzerrungen aus, die das Urteil der meisten Leute verfälschen. Die Abbildung unten stammt aus einem meiner Referate:

Caplan thematisiert speziell das anscheinend nicht-rationale Wählerverhalten des „expressive voting“. Man benützt eine Wahl oder Abstimmung nicht, um sich aufgrund einer nüchternen persönlichen Kosten-Nutzen-Rechnung zur Sachfrage zu äussern, sondern um emotionalen Gewinn aus der Möglichkeit zu ziehen, einer gegnerischen Person, Partei oder Institution eins auszuwischen. Darauf werde ich in einem späteren Beitrag über die Situation in der direktdemokratischen Schweiz zurückkommen. Eidgenössische Volksabstimmungen eignen sich besonders gut für „expressive voting“.

Flucht in eine begrenzte Rationalität

Damit die ökonomische Theorie des rationalen Wählers wenigstens teilweise akzeptabel wird, muss man eine relative Rationalität einführen. Der Wähler ist im Moment der Wahlentscheidung in dem Sinne rational, als er zu jenem Zeitpunkt die ihm verfügbaren Informationen nutzt, um seine Entscheidung zu fällen. So rettete der verstorbene St.Galler Ökonom Gebhard Kirchgässner das Bild vom rationalen Wähler mit dem Rückgriff auf ein „weak rationality principle“. Es besagt, dass wir, wann immer wir menschliches Verhalten erklären wollen, versuchen sollten, es als Ergebnis rationaler Entscheidungen zu erklären. Wir sollten dies unter der Annahme tun, dass die Zwecke und Überzeugungen des Handelnden im Moment der Entscheidung konsistent sind.

Mir scheint ein solches Rationalitätsprinzip „very weak“, mit einem Anflug von Tautologie. So gesehen, wird jede Entscheidung im Zeitpunkt null rational. Besonders fragwürdig scheint mir die Annahme der ökonomischen Theorie der Demokratie, dass die Leute wissen, was sie mit ihrer Wahl- oder Abstimmungsentscheidung bewirken. Dazu hat die Mehrheit bloss eine Meinung. Von einem „klugen Stimmvolk“ zu reden, wie das schweizerische Politiker gerne anbiedernd tun, scheint mir voll daneben. Daraus folgt, dass demokratische Institutionen so gestaltet sein müssen, dass das politisch-gesellschaftliche System auch mit nur beschränkt rational entscheidenden Menschen funktioniert. Und zur Frage im Titel: Ich glaube nicht, dass wir bessere Politiker verdienen. Sie sind im Durchschnitt nicht schlechter als wir, aber auch nicht besser.

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