Die Schweiz auf schiefer Bahn (Folge 1)

Wir müssen auch über die Institutionen reden

Wenn die anderen entwickelten Demokratien, mit denen man sich vergleicht, im Abwärtstrend sind, und man steht immer noch besser da als diese, schliesst dies nicht aus, dass man sich selbst auf schiefer Bahn befindet. Dass dies auf die Schweiz zutrifft, dafür gibt es schon seit einiger Zeit genügend Anzeichen. Nicht zufällig hatte jüngst ein neuer Dokumentarfilm des bekannten früheren Fernseh-Journalisten Reto Brennwald mit dem Titel „Das Erfolgsgeheimnis der Schweiz“ Première. Dem Titel widersprechend, geht es um eine kritische Sicht problematischer Trends: immer mehr Staat, immer mehr Umverteilung, immer mehr Bürokratie, ohne dass die wirklich grossen Aufgaben gelöst wären. Meine Hypothese, die ich in mehreren losen Folgebeiträgen zu begründen suche, lautet: Der aktuelle Gebrauch und die Wirkung der direkten Volksrechte spielen bei dieser Entwicklung eine wichtige Rolle.

Nichts Neues nach dem jüngsten Urnengang
Alle vier Abstimmungen vom 24. November 2024 betrafen ideologisch aufgeladene Vorlagen, also solche, bei denen es eine klare Links-rechts-Spaltung gibt. In den jeweiligen Referendumskomitees waren links-grüne Parteien und Verbände federführend: SP, Grüne, Juso, SGB Gewerkschaftsbund, VPOD, Mieterverband etc. Mithilfe des Stimmvolks waren diese in drei von vier Vorlagen erfolgreich und zeigten nicht nur Bundesrat und Parlament den Meister, sondern auch den vielen, die für die Vorlagen eintraten – fast die Hälfte derer, die abstimmten. Das vierte Referendum ging, trotz über 80 Prozent Zustimmung im Parlament, auch nur knapp verloren. Linke Parteien und Verbände hatten in diesem Jahr schon ihre Volksinitiative für die 13. AHV-Monatsrente und das Referendum gegen die BVG-Revision mit dem überzeugenden Argument „BVG-Bschiss“ gewonnen.

Die Diskrepanz zwischen den beiden Parlamentskammern einerseits und dem Stimmvolk anderseits war bei den Vorlagen vom 24. November etwas kleiner als in früheren wichtigen Urnengängen, auf die ich in einem Folgebeitrag eingehen werde. Man vergleiche in Spalten 5 und 6 der Tabelle die Ja-Anteile:

Über eine längere Zeit betrachtet, entsteht der Eindruck, dass unsere Institutionen aus dem Gleichgewicht geraten sind. Die direkten Volksrechte haben mittlerweile gegenüber den repräsentativen Organen Bundesrat und Parlament ein klares Übergewicht. Diese Machtverteilung war historisch nie so gewollt. Die eifrigsten Nutzer der direkten Volksrechte sitzen im ideologischen Spektrum an den Polen links und rechts. Dort findet man die beiden grössten Parteien, in der Regierung mit je zwei Bundesräten vertreten.

Ein Reformvorschlag als erster Denkanstoss
Eine Reform der direkten Volksrechte im Sinne einer neuen Ausgewogenheit unter dem Begriff „Verwesentlichung“ war schon im Rahmen der Nachführung der Bundesverfassung Mitte der 1990er-Jahre vorgesehen. Die widersprüchlichen Vernehmlassungen zu den Vorschlägen des Bundesrats waren aber nicht auf einen Nenner zu bringen. Die ganze Übung endete in einer Nullrunde. Symptomatisch dafür steht das einzige Überbleibel des Reformfehlversuchs: Die Allgemeine Volksinitiative wurde ungenutzt wenige Jahre nach der Einführung in einem obligatorischen Referendum wieder abgeschafft. Begründung: nicht praxistauglich. Dabei hätte sie eine bedeutende Verbesserung gebracht; nicht verfassungswürdige Volksinitiativen hätten auch auf Gesetzesebene geregelt werden können. Heute landet alles, was erfolgreiche Volksinitiativen beinhalten, auch nicht Verfassungswürdiges, in der Verfassung. Und so sieht sie auch aus.

Eine Reform der direkten Volksrechte in ihrer heutigen Form kann beim Gebrauch und bei der Wirkung ansetzen. Der Gebrauch bezieht sich auf die Bedingungen für das Zustandekommen einer Volksabstimmung. Die Wirkung betrifft die Bedingungen für Annahme oder Ablehnung (einfaches Mehr, Quorum etc.) Zu Demonstrationszwecken beginne ich in der nächsten Folge, im Sinne einer Anregung zum Nachdenken, mit einem Reformvorschlag bei den Entscheidungsregeln (Wirkung). Die Entscheidungsregel nach der einfachen Mehrheit ist zwar einfach, hat aber kaum überzeugende andere Vorteile, besonders angesichts einer durchschnittlichen Stimmbeteiligung von knapp 45 Prozent.

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