Die Schweiz auf schiefer Bahn (Folge 3)

Wir müssen auch über die Institutionen reden

Seit der Jahrtausendwende gab es in Schlüsselbereichen staatlicher Aktivität viele Reformanläufe, die in Blockaden, teuren Nullrunden oder faulen Kompromissen endeten. Bei all diesen Ergebnissen unserer politischen Institutionen spielten die direkten Volksrechte eine entscheidende Rolle. In wichtigen Vorlagen entschied das Stimmvolk, zum Teil massiv, gegen Bundesrat und Parlament. Wer entgegnet, das sei ja gerade der Zweck der direkten Volksrechte, argumentiert meiner Meinung nach zu sehr im Oberflächlichen. Denn die seit Jahrzehnten unveränderte Version der direkten Volksrechte ist aus logischer Sicht wohl kaum das Nonplusultra. Ihr grösster Trumpf ist die breite Akzeptanz. Niemand will über Optimierungen nachdenken, und wer das laut tut, wird sofort als Abschaffer marginalisiert.

Abgrundtiefe Gräben zwischen Parlament und Stimmvolk
In Folge 2 zu diesem Thema hatte ich ein Quorum für Referenden vorgeschlagen und mit den Abstimmungen vom 24. November getestet. Mit meinem Quorum wären alle drei gescheiterten Vorlagen angenommen worden. In einem kritischen Kommentar wurde mit Recht gefordert, dass der Ständerat bei der Berechnung der Stimmenanteile das gleiche Gewicht erhalten sollte wie der Nationalrat. In einer entsprechend korrigierten Berechnung wären aber die Referenden gegen die drei Vorlagen vom 24. November noch deutlicher gescheitert, weil der Ständerat den Vorlagen mit noch höheren Ja-Anteilen zugestimmt hatte als der Nationalrat.

In diesem Beitrag wird nun mein Quorumsvorschlag an früheren Volksabstimmungen getestet, bei denen der Graben zwischen Parlament und Stimmvolk Rekordtiefen erreichte. Die Tabelle unten zeigt die Resultate von fünf wichtigen Referenden seit dem Jahr 2002. Mein Vorschlag für ein Quorum bei Referenden ist in die Tabelle zusätzlich eingebaut (hellblaue Spalten 8 und 9).

Der Graben zwischen Parlament und Stimmvolk war schon beim Referendum gegen das Elektrizitätsmarktgesetz EMG im Jahr 2002 eklatant. Der Anteil Ja-Stimmen in den beiden Kammern betrug sagenhafte 91 Prozent (Spalte 5). Doch beim Stimmvolk scheiterte die Vorlage mit dem knappen Ergebnis von unter 53 Prozent Nein-Stimmen (Spalte 7). Mit dem vorgeschlagenen Quorum wäre die Vorlage klar angenommen worden, denn die kombinierten Ja-Anteile (Spalte 8) übertrafen das Volksnein (Spalte 7) bei weitem.

Unter dem Schock der Niederlage ging es bei Bundesrat und Parlament danach schneller als sonst üblich. Die als Zwischenlösung gedachte Teilliberalisierung für Grossverbraucher – neu im Service-Public-Jargon als „Stromversorgungsgesetz“ referendumsresistenter präsentiert – trat schon 2009 in Kraft. An den Folgeschritt zur Vollliberalisierung mit referendumsfähigem Bundesbeschluss wagten sich die zuständigen Behörden nach der Abstimmungsniederlage von 2002 bis heute nicht, obwohl es ohne eine Marktöffnung kein Stromabkommen mit der EU geben wird.

Vier von fünf Referenden trotz Quorum erfolgreich
Bei den anderen vier Referenden in der Tabelle waren die Ja-Anteile im Parlament (Spalte 5) zwar kleiner als beim EMG, aber die Ablehnung beim Stimmvolk dafür umso klarer, ganz krass bei den drei sozialpolitischen Vorlagen (Spalten 6 und 7). Deshalb wären die Referenden auch mit dem vorgeschlagenen Quorum erfolgreich gewesen. Die Nein-Anteile beim Stimmvolk sind höher als die kombinierten Ja-Anteile (Spalten 7 und 8).

Genau wie die vier Vorlagen vom 24. November 2024 waren diese fünf früheren Vorlagen ideologisch aufgeladen. Es lag eine klare Links-rechts-Spaltung vor. Wenn es um Reformen in den Bereichen Sozialpolitik (Altersvorsorge, Gesundheitswesen), Service Public (nach weit gefasstem Verständnis der Linken) oder Steuerreformen geht, sieht sich die politische Linke im Parlament regelmässig in die Minderheit versetzt. Also wählen die linken organisierten Interessen, oft unterstützt von wechselnden Sonderinteressen (Kantone, Baugewerbe, Ärzteverbände etc.), den Weg über ein Referendum.

So war es auch in den fünf Abstimmungen in der Tabelle. Die Referendumssieger gegen Bundesrat und Parlament waren durchwegs linke Interessen, Parteien oder Verbände, als Initianten der Referenden meist an vorderster Front. Beim Scheitern der KVG-Revision kamen Anbieter von medizinischen Leistungen dazu, die um ihre Pfründe fürchteten. In der Gesundheitspolitik spielen immer auch kantonale Sonderinteressen eine Rolle, beim Strom die kommunalen oder regionalen staatlichen Monopolanbieter.

In der Tabelle nicht aufgeführt ist die wichtige, aber im Referendum gescheiterte Vorlage „Altersvorsorge 2020“ vom September 2017. Dies war ein weiterer Versuch, die Altersvorsorge insgesamt nachhaltiger zu gestalten. Die Vorlage war zum Schluss mit all den immer notwendigen Überbrückungs- und Ausgleichsmassnahmen derart komplex, dass sich schon im Parlament keine klare Mehrheit dafür erwärmen konnte. Die Vorlage erhielt nur eine knappe Zustimmung, ebenso die damit verbundene Erhöhung der Mehrwertsteuer. Offenbar hatte man erwartet, dass sich mit einer Kombination AHV-BVG bessere Kompromisse erzielen liessen. Umgekehrt musste man damit rechnen, dass sich Ablehnungsgründe auch kumulieren könnten.

Der Quorumsvorschlag – ein Versuchsballon
Der Vorschlag für ein Quorum dieser Art bei Referenden ist nur ein Versuchsballon, der im Idealfall eine Reformdebatte entzünden kann. Man muss natürlich die Formel für die Entscheidung über Sieg und Niederlage möglichst einfach halten. Das ist, neben der hohen Akzeptanz, der Hauptvorteil des einfachen Mehrs. Aber den Stimmberechtigten wird in heutigen Abstimmungen, zum Beispiel in der Energie- und Klimapolitik, jeweils eine Informiertheit und Urteilskompetenz abverlangt, die weit über das hinausgeht, was meine Quorumsformel an Kopfarbeit erfordert.

Die abgrundtiefen Gräben zwischen Parlament und Stimmvolk in wichtigen Reformprojekten werfen Fragen auf, die mithilfe der Vorabstimmungs-Umfragen und anhand der jeweiligen VOX- oder VOTO-Befragungen nach den Abstimmungen vertieft untersucht werden können. In einer späteren Folge zum Thema werde ich darauf eingehen.

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