Die Schweiz auf schiefer Bahn (Folge 4)

Wir müssen auch über die Institutionen reden

In Folge 3 der Serie „Die Schweiz auf schiefer Bahn“ hatte ich als Versuchsballon einen Vorschlag für ein Quorum bei Referenden gemacht. Nicht mehr das einfache Mehr von 50 Prozent plus eine Stimme gegen eine Vorlage soll entscheiden, sondern der prozentuale Nein-Anteil gegen eine Vorlage muss höher sein als das Mittel der Ja-Anteile von Parlament und Stimmvolk. Mein Quorum hatte ich an verschiedenen Abstimmungen getestet.

Ein radikaler Quorumsvorschlag aus den 1990er-Jahren
Vor gut 30 Jahren reichte der damalige Berner SVP-Ständerat Ulrich Zimmerli eine Parlamentarische Initiative ein, in der er für Referenden und Volksinitiativen Quoren forderte. Zimmerli war der Meinung, Abstimmungskampagnen seien zunehmend geprägt von Schlagworten, unzulässigen Vereinfachungen, falschen Behauptungen und öffentlichen Auseinandersetzungen, die der Verweigerungsmentalität Vorschub leisteten. Dadurch würden die verfassungsmässigen Gewichte der Staatsgewalten in bedenklicher Weise verschoben. Dieser letzte Satz klingt ähnlich, wie das, was ich auch schon vertreten hatte. Zimmerlis Initiative forderte, dass die Bundesverfassung wie folgt geändert wird:

1. Die Bestimmungen über das Referendum sind so zu ergänzen, dass eine Vorlage der Bundesversammlung bei einer Stimmbeteiligung von weniger als zwei Dritteln angenommen ist, wenn sie nicht von mindestens einem Drittel der Stimmberechtigten und – wenn das Ständemehr erforderlich ist – von der Mehrheit der Stände abgelehnt wird.
2. Die Bestimmungen über die Volksinitiative sind so zu ändern, dass eine Initiative bei einer Stimmbeteiligung (gesamtschweizerischer Durchschnitt) von weniger als zwei Dritteln angenommen ist, wenn ihr mindestens ein Drittel der Stimmberechtigten und die Mehrheit der Stände zugestimmt haben.

Nur in seltensten Fällen erreicht die Stimmbeteiligung zwei Drittel. Also käme fast immer das Quorum „ein Drittel der Stimmberechtigten“ zur Anwendung. In der Tabelle unten zeigt sich die radikale Wirkung des Quorums-Vorschlags von Ulrich Zimmerli. Die Referenden, die ich in den Folgen 2 und 3 dieser Serie untersucht hatte, wären mit einer Ausnahme (AHV 2004) alle gescheitert. Das von mir vorgeschlagene Quorum wirkt deutlich milder. Die Hälfte der Abstimmungen, zudem besonders schwerwiegende, wäre gleich ausgegangen wie in der Realität:

(Quelle: admin.ch/eigene Berechnungen)

Ulrich Zimmerli zog seine Parlamentarische Initiative nach Kritik von allen Seiten zurück. Seitdem hat es nie mehr jemand gewagt, an den bestehenden Regeln zu rütteln. Wer es trotzdem riskiert, hat die verbreitete Sakralisierung der direkten Volksrechte gegen sich. Doch der Glaube, je mehr direkte Bürgerpartizipation, desto besser für die Demokratie und für die Qualität der Politik, erscheint mir in einem Land, dessen Volk permanent mit Urnengängen konfrontiert ist, als eine besondere Form des politischen Extremismus. Bundesrat und Parlament machen in den wichtigsten Dossiers Politik unter dem permanenten Druck von Referenden und Volksinitiativen. Das hat unangenehme Folgen, auf die schon früher gewichtige Stimmen verwiesen haben.

Kuhhändel und schummrige Nummern
In einem Editorial unter dem Titel „Übler Deal“ hatte Roger Köppel die Verknüpfung der Reform der Unternehmensbesteuerung mit der von der Linken geforderten Kompensation bei der AHV eine „schummrige Nummer“ genannt. Man verquicke zwei völlig sachfremde Geschäfte miteinander. Ins gleiche Horn hatte zuvor schon der Wirtschaftspublizist Gerhard Schwarz in einer Kolumne geblasen. Besonders beliebt sei, dass man sich auf sachfremden Gebieten entgegenkomme, Mit solchen „Kuhhändeln“ wolle das Parlament die Zustimmung zu Reformen erkaufen.

Was in diesen Klagen fehlt, ist die Fortsetzung der halbfertigen Kritik mit einem unbefangenen Blick auf die institutionellen Zwänge. Dem Parlament Vorwürfe zu machen, scheint mir verfehlt. Wer zustimmend verkündet, in der Schweiz habe immer das Stimmvolk das letzte Wort, soll konsequenterweise auch akzeptieren, dass die finale Verantwortung für das, was politisch läuft und entschieden wird, immer beim Stimm- und Wahlvolk liegt.

Denn „Kuhhändel“ sind die logische Folge der direkten Volksrechte mit dem Druckmittel der Referendums- oder Initiativdrohung. Wenn das Volk in zentralen Reformbereichen wie der Altersvorsorge, im Gesundheitswesen oder bei der Unternehmensbesteuerung wiederholt dringliche Reformvorlagen versenkt, ist es naheliegend, dass das Parlament nach referendumssicheren Wegen sucht. Solche „Verbundvorlagen“ werden dann mit all den Bemühungen des Austarierens aller Interessen leicht so kompliziert, dass das Abwägen von Kosten und Nutzen die meisten Leute verständlicherweise überfordert. Zudem ritzt man dabei nicht selten das Gebot der Einheit der Materie.

Auch die bekannte Wirtschaftsprofessorin Monika Bütler beklagte in einer früheren NZZaS-Kolumne, Schweizer Politiker versuchten immer häufiger, die direkte Demokratie mit alternativlosen Gesamtpaketen auszuhebeln. Bütler schrieb, im politischen Alltag würden unsere Parlamentarier und Regierenden dem Urteil des Stimmvolks nicht immer trauen. Die Vor- und Nachteile der direkten Demokratie müssten aber offen diskutiert werden können. Genau dies tue ich hier bereits in Folge vier.

Bald wird sich in der dramatisch verschlechterten Lage der Bundesfinanzen unter dem Druck all der aufgeschobenen Grossreformen und -projekte zeigen, ob in unserem politischen System noch mehr als „üble Deals“, „Kuhhändel“ und „alternativlose Gesamtpakete“ möglich sind.

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