Die Schweiz auf schiefer Bahn (Folge 5)

There is a difference between democracy and freedom.
Freedom is not measured by the ability to vote.
It is measured by the breadth of those things on which we do not vote.
Freedom must be protected from democracy.
A good constitution will do that.
John T. Wenders (1935–2006)

Sinngemäss übersetzt lautet das Zitat des amerikanischen Ökonomieprofessors Wenders: Es gibt einen Unterschied zwischen Demokratie und Freiheit. Freiheit misst sich nicht an den Möglichkeiten, abzustimmen. Freiheit misst sich am Umfang der Angelegenheiten, über die wir nicht abstimmen können. Die Freiheit muss vor der Demokratie geschützt werden. Eine gute Verfassung schafft dies. Von dieser Auffassung haben wir uns in der Schweiz sehr weit entfernt. Viele verwechseln direkte Demokratie mit Freiheit.

Je mehr direkte Demokratie, desto besser?
Seit bald 30 Jahren beschäftige ich mich mit der Frage der Optimierung der direkten Volksrechte. Startpunkt war die Tagung „Direkte Demokratie in der Schweiz“, die ich 1996 zusammen mit dem verstorbenen Basler Wirtschaftsprofessor Silvio Borner in Zug organisierte. Daraus entstand das oben abgebildete Buch. Es enthält die Referate und Diskussionen der Teilnehmer:

Jenseits des Optimums?
Der Buchtitel „Wie viel direkte Demokratie verträgt die Schweiz“ enthält die typisch ökonomische Denkfigur des Optimums. Auch für die direkte Demokratie gibt es ein Optimum, das überschritten werden kann. Dies kann in einer dynamischen Gesellschaft auch dann passieren, wenn man an den formalen Regeln der direkten Volksrechte gar nichts ändert.

Nach der Einführung der Volksinitiative auf Teilrevision der Verfassung im Jahr 1891 brauchte es mindestens 50’000 Unterschriften, damit eine Initiative zur Abstimmung gelangte. Das waren rund 8 Prozent der Stimmberechtigten. Heute sind wir mit den notwendigen 100’000 Unterschriften noch bei etwa 1,8 Prozent. Dieser Wert hat sich über die Jahrzehnte ständig vermindert, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass ausgerechnet 1,8 Prozent ein Optimum sein sollte. Aber niemand wagt es heute, daran zu rütteln.

Ebenso wichtig sind die Veränderungen im politischen System. Zur Zeit der Einführung von Referendum (1874) und Volksinitiative (1891) waren Parlament und Bundesrat als Ergebnis des Mehrheitswahltrechts fest in den Händen der FDP. Die direkten Volksrechte sollten den unterrepräsentierten Minderheiten eine Möglichkeit geben, den Lauf der Dinge über Volksabstimmungen zu beeinflussen. Heute ist die politische Schweiz aber eine bis zum Exzess durchproportionalisierte und ins Extreme ausgeartete Vernehmlassungsdemokratie. Es herrscht eine wahre Partizipationsmanie.

Die eifrigsten Nutzer der direkten Volksrechte sind heute die beiden grössten Parteien, die SP immer im Verein mit ihren zugewandten Verbänden, Parteien und ihren Jugendabteilungen. Beide Parteien sind mit je zwei Bundesräten in der Regierung vertreten. Der historische Vergleich zeigt, dass sich die Rolle und Bedeutung der direkten Volksrechte total gewandelt haben. Aber offenbar entspricht es dem verbreiteten schweizerischen Verständnis von Demokratie, dass diese Entwicklung nur in eine Richtung gehen kann und soll: Je mehr und je leichter die direkte Partizipation, desto besser.

So wurde die politische Agenda über die Zeit immer mehr von Referenden und Volksinitiativen geprägt, vor allem auch solchen, die nur angedroht werden oder einfach permanent drohend im Raum stehen. Die Arbeit des Parlaments bei wichtigen Themen steht unter Dauerdruck solcher Referendums- und Initiativrisiken. Und die Macht der Drohungen wird mit jeder gewonnen Abstimmung grösser und lädt zu noch mehr ein.

Je mehr direkte Demokratie, desto besser?
In den 1990er-Jahren gab es eine Gruppe von (politischen) Ökonomen, die man als Fans der direkten Volksrechte bezeichnen kann: Bruno S. Frey, Werner Pommerehne, Gebhard Kirchgässner, Lars Feld und andere. Sie wiesen mithilfe statistischer Methoden nach, dass Teilstaaten (Kantone oder Bundesstaaten) mit mehr direkter Demokratie in Bezug auf Zielgrössen wie Wohlstand, Wachstum, Staatsquote, Staatsverschuldung und Bürgerzufriedenheit besser abschnitten als Teilstaaten mit weniger direkter Bürgerpartizipation.

Diese Untersuchungen, obwohl gut 30 Jahre alt, werden bis heute gerne zitiert, wenn die Vorteile der direkten Demokratie empirisch begründet werden sollen. Das wichtige methodische Problem, von einer begrenzten Zahl Teilstaaten auf den Einzelfall des Zentralstaates, also des Bundes, zu schliessen, soll hier nicht weiter vertieft werden. Problematisch ist die krude Botschaft, welche diese Analysen – auch ohne Absicht – in die Öffentlichkeit tragen: Je mehr direkte Volksrechte, desto besser. Eine solche Folgerung ist natürlich Unsinn. Mit maximaler direkter Bürgerpartizipation entstünde ein unregierbares Staatsgebilde.

Heinrich Koller zum bundesrätlichen Reformprojekt
An der Zuger Tagung informierte der damalige Direktor des Bundesamtes für Justiz, Heinrich Koller, über das bundesrätliche Konzept und die Ergebnisse der Vernehmlassung im Projekt „Reform der direkten Volksrechte“, das im Zuge der Revision der Bundesverfassung mitlief. Einig war man sich damals über die unbestrittene Reformbedürftigkeit und die Notwendigkeit einer Versachlichung der Diskussion. Wegleitend war das Anliegen, die Verbindung von direkt-demokratischen und repräsentativen Elementen sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Kollers Diagnose enthielt schlagwortartig folgende Punkte:

  • Wir haben vermehrt das Gefühl, dass wir zwar viel abstimmen, aber nicht mehr über das Wichtige.
  • Das System leidet unter Ineffizienz mit den Folgen Verzögerungen, Beschränkung der (internationalen) Handlungsfähigkeit, blockierte Entwicklung des Landes.
  • Die Politik agiert in einem geänderten Umfeld: Globalisierung und Konkurrenz der politischen Systeme.
  • Mit der zunehmenden Komplexität und Interdependenz der Probleme wird es schwieriger, Probleme, Lösungsmöglichkeiten und Vorschläge den Leuten verständlich zu vermitteln.
  • Wir erleben eine Akzeleration gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse, die das gemächliche politische System herausfordern.
  • Das Ja-nein-Schema verunmöglicht eine differenzierte Meinungsäusserung. Einzelne kontroverse Punkte können sich kumulieren. Scherbenhaufen sind keine Seltenheit
  • Referendumsdrohungen zwingen zu starken Kompromissen.

Die Vernehmlassung zeigte, dass eine Mehrheit die Reformnotwendigkeit bejahte. Man war sich weitgehend einig, dass die Volksrechte, eine Errungenschaft des 19 Jahrhunderts, einer Anpassung bedürfen . Ziel war es, die Handlungs- und Funktionsfähigkeit der Institutionen zu wahren und zu stärken. Die damaligen Begründungen für den Reformbedarf sind heute immer noch gültig. Die Reformvorschläge, die in der Vernehmenlassung Zustimmung fanden, waren der nüchternen Diagnose dann allerdings nicht angemessen:

  • Allgemeine Volksinitiative
  • Fakultatives Verwaltungs- und Finanzreferendum
  • Erweitertes Staatsvertragsreferendum mit gleichzeitiger Beschränkung des Gesetzesreferendums für den Transfer ins nationale Recht
  • Alternativen bei Verfassungsvorlagen und Gesetzesvorlagen.
  • Neuorganisation der Gültigkeitsprüfung von Initiativen: Bei Ungültigkeitserklärung durch die Bundesversammlung entscheidet das Bundesgericht abschliessend
  • Als Ausgleich zu den genannten Erweiterungen Verdoppelung der Unterschriftenzahlen auf 200’000/100’000.

Abgelehnt wurden in der Vernehmlassung folgende radikaleren Reformansätze, unter anderem auch das von mir vorgeschlagene Quorum für Annahme/Ablehnung von Vorlagen:

  • Quoren für Teilnahme, Annahme/Ablehnung
  • Kein Referendum, wenn qualifizierte Mehrheit im Parlament
  • Nachträgliches aufhebendes Referendum.

Im Verlauf der weiteren Behandlung der Vorschläge starben dann auch die zunächst mehrheitlich akzeptierten einen stillen Tod – mit Ausnahme der Allgemeinen Volksinitiative. Diese wurde aber ungenutzt wenige Jahre später in einem obligatorischen Referendum wieder abgeschafft. Begründung: nicht praxistauglich. Dabei hätte sie eine bedeutende Verbesserung gebracht; nicht verfassungswürdige Volksinitiativen hätten auch auf Gesetzesebene geregelt werden können. Somit endete das Vorhaben schliesslich in einer der inzwischen typisch eidgenössischen Nullrunden.

Koller schloss seine Ausführungen mit der Bemerkung, die direkte Demokratie lebe von Voraussetzungen, die sie selbst nicht gewährleisten könne: Gemeinsinn, Willen zur Diskussion, Bereitschaft zur Verständigung. Davon ist heutzutage immer weniger zu sehen. Die wenig überraschende Erkenntnis der ganzen Reformübung war, dass Erweiterungen populärer sind als Einschränkungen. Der bekannte Staatsrechtler Kurt Eichenberger (1922 – 2005) sprach von der Irreversibilität der direkten Volksrechte. Von ihm stammt auch der Hinweis, Volksrechte seien nie Instrumente des Volkes gewesen, sondern immer ein Instrument von mehr oder weniger organisierten Gruppen mit Partikularinteressen.

Verweigerte Rückkoppelung
All die Nullrunden, Blockaden und faulen Kompromisse der jüngeren Zeit haben mit den direkten Volksrechten zu tun. Seit einem Vierteljahrhundert schiebt man die grossen Reformprojekte vor sich her. Möglich sind nur noch kleinste Schritte, bei denen am Ende unklar ist, ob es sich wirklich um einen Fortschritt handelt. Vorausschauend strategisches Handeln und Entscheiden ist in einem von den direkten Volksrechten permanent übersteuerten System unmöglich. Die Schweiz ist in den Fesseln ihrer Institutionen gefangen. Notwendig wäre die Rückkoppelung, die ich in der ersten Folge dieser Serie schon gezeigt hatte:


Die Einhaltung der institutionellen Regeln legitimiert die politischen Ergebnisse. Wenn jedoch eine Rückkoppelung von (schlechten) Ergebnissen zu den Verfahren blockiert ist, bleibt jede Debatte um Reformen im engen Bereich des „politisch Machbaren“ gefangen. Wir zehren bis heute von den Errungenschaften vergangener Zeiten, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, als die Schweiz noch keine direkte Demokratie war.

Wie das „politisch Machbare“ in einer Situation des gestörten Gleichgewichts der Institutionen zustandekommt, werde ich in einer nächsten Folge der Serie „Die Schweiz auf schiefer Bahn“ diskutieren.

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