Wir müssen auch über die Institutionen reden

Terre del Barolo: Vorne links Castiglione Falletto, hinten rechts La Morra
Dieser Tage war ich gerade in Monforte d’Alba südlich von Alba, der Hauptstadt der weissen Trüffel. Die malerischen Städtchen und Dörfer in dieser berühmten Weinregion sind allein schon vom Klang der Namen her Wortmusik: Barolo, Serralunga d’Alba, Castiglione Falletto, La Morra, Diano d’Alba, Albaretto della Torre, Montelupo Albese, Murazzano. Wer gerät da nicht gleich ins Schwärmen!
Es gibt kaum viele Menschen, die Italien mit seinen unglaublichen kulturellen, landschaftlichen und gastronomischen Qualitäten nicht schätzen oder gar lieben. Erstaunlicherweise zeigen aber die im Internet auffindbaren Länderranglisten bezüglich Beliebtheit Italien nie in den ersten Rängen. Vielleicht trübt die Etikette eines „failed state“ das Bild. Klar, auch das ist Italien:

Staatsstrasse in Dogliani (Piemont) – kein Einzelfall
Tatsächlich hat Italien mit seinen instabilen politischen Verhältnissen vor allem wegen der hohen Staatsverschuldung wirtschaftspolitisch einen schlechten Ruf. Aber selbst da ist nicht alles schlecht.
Berlusconis Rentenreform
Das Rentenalter für Männer und Frauen wurde im Jahr 2009 unter der Mitte-rechts-Koalition von Silvio Berlusconi auf 67 Jahre angehoben. Die Umsetzung geschah mit einer schrittweisen Anpassung, bis 2021 67 Jahre erreicht waren. Ziel war es, die Rentensysteme für Frauen und Männer zu vereinheitlichen und an die steigende Lebenserwartung anzupassen. Diese Reform hat das italienische Rentensystem, zumindest vorübergehend, zu einem der nachhaltigsten in Europa gemacht. Der Reformdruck war grösser als anderswo, weil das italienische System ein reines Umlagesystem ist. Es fehlt eine kapitalgedeckte zweite Säule.
Es ist längst eine Binsenwahrheit, dass die Erhöhung des Rentenalters die wirksamste Massnahme ist, um dem demografischen Druck in einem Rentensystem zu begegnen. Diese Erkenntnis ist schon in zahlreichen Ländern angekommen, auch in der Schweiz. Aber wie geht die Politik damit um? Wie Italien setzten viele OECD-Länder auf eine Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters. Die Übersicht unten zeigt den letztverfügbaren Stand von 2021, allerdings nur für Männer mit voller Berufskarriere, entnommen der OECD-Studie „Pensions at a Glance 2021“.

(Quelle: OECD)
Italien plant eine Erhöhung von 67 auf 71 Jahre! Auch die vier skandinavischen Länder sind bei Reformen vorne dabei. Dänemark will auf 74 Jahre gehen. Schweden ist wahrscheinlich in der Anlehnung an versicherungsmathematisch berechnete Rentenansprüche am konsequentesten. Im OECD-Bericht steht dazu: „Anhebung des Mindestalters für den Zugang zur Grundrente von 65 auf 67 Jahre bis 2026; Einführung eines jährlich überprüften Zielrenteneintrittsalters; Kopplung aller Renteneintrittsalter an die Entwicklung der Lebenserwartung.“
Dagegen die Schweiz
In der Schweiz ist wieder einmal alles anders. Am besten illustriert dies eine Passage aus den Erläuterungen des Bundesrates zur Volksabstimmung über die Renten-Initiative der Jungfreisinnigen vom März 2024. Diese schlug nach schwedischem Muster, nur viel langsamer, eine Verbindung des Rentenalters mit der Lebenserwartung vor. Der Bundesrat lehnte dies mit folgender Begründung ab: „Die Altersvorsorge muss den gesellschaftlichen Entwicklungen laufend angepasst werden. Über zentrale Fragen wie die Höhe des Rentenalters muss in einer direkten Demokratie ein dauernder politischer Dialog geführt werden. Mit einem Automatismus soll jedoch die Frage des angemessenen Rentenalters der politischen Diskussion praktisch entzogen werden. Dies entspricht nicht der politischen Tradition der Schweiz.“
Diese politische Tradition ist allerdings nicht „gratis“. Dazu ein weiteres Zitat aus einem „Bundesrats-Büchlein“, nämlich demjenigen zu den Volksabstimmungen vom 25. September 2022: „In den letzten 25 Jahren sind alle Versuche gescheitert, die AHV zu reformieren und ihre finanziellen Probleme auf längere Sicht zu beseitigen. Die letzte umfassende Reform stammt aus dem Jahr 1997. Danach wurden mehrere Vorlagen entweder bereits vom Parlament oder dann in einer Volksabstimmung abgelehnt.“
Diese Volksabstimmung vom September 2022 über die Angleichung des Rentenalters der Frauen an das der Männer, selbstverständlich mit grosszügigen Kompensationen für Übergangsjahrgänge, war der erste Reformerfolg für die AHV seit Jahrzehnten. Doch das linke Referendum wäre auch dieses Mal beinahe erfolgreich gewesen. Nur 50,6 Prozent der Stimmenden sagten Ja zur Reformvorlage. Bisher völlig erfolglos verliefen die Reformversuche, um die Betriebliche Vorsorge nach BVG (zweite Säule) veränderten Verhältnissen anzupassen. Die nachstehende Chronologie der gescheiterten Vorlagen zur Reform der Altersvorsorge findet man auf der Webseite des Bundesamtes für Sozialversicherungen:
(Quelle: BSV)
„Nicht mehrheitsfähig“
In einer Schweizer Zeitung las ich kürzlich den Vorspann eines Interviews mit Bundesrätin und Sozialministerin Elisabeth Baume-Schneider, wo es hiess: „Ich bin persönlich für Rentenalter 65.“ Und unpersönlich, aus Sicht des Ganzen, ist man versucht zu fragen. Ihr Vorgänger, Alain Berset, fasste sich zu diesem Thema jeweils kurz: „Die Erhöhung des Rentenalters ist nicht mehrheitsfähig.“
So ist es. Umfragen, aber auch Abstimmungen wie diejenige vom März 2024 über die Renten-Initiative der Jungfreisinnigen haben es deutlich gezeigt. Deren Volksinitiative „Für eine sichere und nachhaltige Altersvorsorge“ verlor am gleichen Abstimmungstag im März 2024 krachend gegen die linke Volksinitiative „Für ein besseres Leben im Alter (Initiative für eine 13. AHV-Rente)“. Dabei ging es gar nicht um entweder oder. Wäre die Renten-Initiative erfolgreich gewesen, hätte sie das Finanzierungsproblem der linken Initiative entschärft.
Die AHV ist zu einer sakrosankten Institution geworden. Niemals darf dort gespart werden, auch im aktuellen „Sparpaket“ des Bundesrates nicht. Eine Sotomo-Umfrage zeigt dies deutlich:
(Quelle: Watson/Sotomo)
Läuft es weiter wie bisher, wird der Anteil der AHV-Einnahmen aus den Lohnbeiträgen schleichend sinken, dagegen werden die Beiträge aus Bundesmitteln und Sonderquellen ansteigen. Die heutige Aufteilung sieht so aus:

(Quelle: BSV)
Ich wage eine Prognose: Mit einem unveränderten, direktdemokratisch veredelten Rentenalter wird die AHV künftig nach politischem Opportunismus finanziert – über höhere Einnahmen statt über eine Senkung der Ausgaben. Höhere Lohnbeiträge werden in der Wirtschaft auf Widerstand stossen, also gibt es dort Grenzen. Übrigens verstossen höhere Lohnbeiträge gegen die Generationengerechtigkeit und sind unsozial.
Zum Glück haben wir für alle möglichen Notfälle noch die Mehrwertsteuer. Da sind noch viele Sonderzuschläge möglich, bis man auf dem Niveau des Mindestsatzes der EU von 15 Prozent angelangt ist. Und irgendwelche Sonderquellen zu schaffen, deren Erträge sich in die AHV umleiten lassen – soviel Kreativität traue ich unseren Politikern durchaus zu. Besonders kreativ ist man im linken politischen Lager, das sich in jüngster Zeit speziell auf die Reichen eingeschossen hat. Die JUSO-Erbschaftssteuer ist allerdings schon für das Klima reserviert. Aber wie wäre es mit einer Finanztransaktionssteuer zugunsten der AHV? Eine solche liegt nachgerade in der Luft! 100’000 Unterschriften sind für das von linken Parteien, Verbänden und NGO dominierte professionalisierte Kampagnen-Kartell, das in zwei Wochen über 180’000 Unterschriften für eine zweite Konzernverantwortungsinitiative sammelte, das geringste Problem.
Ein anderes Stimmvolk
Heutzutage sind sowohl die Erhöhung des Rentenalters als auch Einsparungen bei der AHV in der Bevölkerung praktisch tabu. Die Betonung auf „heutzutage“ ist wichtig, denn im Jahr 1995 gelang mit der 10. AHV-Revision noch die Anhebung des Rentenalters der Frauen von 62 auf 64 Jahre, und zwar ohne das endlose Seilziehen um die spätere Erhöhung auf 65 Jahre. Doch das heutige Stimmvolk ist ein anderes als dasjenige, das Mitte der 1990er-Jahre der 10. AHV-Revision zugestimmt hatte. Es ist unwahrscheinlich, dass vor 30 Jahren eine Volksinitiative für eine 13. monatliche AHV-Rente eine Mehrheit gefunden hätte. Überhaupt eine solche Initiative zu lancieren, wäre damals – weil aussichtslos – niemandem in den Sinn gekommen. Im März 2024 stimmte dann sogar fast die Hälfte derer, die sich als SVP-Sympathisanten ausgaben, für die Initiative der Gewerkschaften.
Durch die Mechanik des politischen Systems der Schweiz kommt die Linke ihren Vorstellungen eines „fairen“ Rentensystems mit maximaler Umverteilung automatisch näher. Die demografischen Lasten spielen in diesen Überlegungen kaum mehr eine Rolle, und da ist man ganz nahe beim Volk. Dort weht jetzt ein anderer Geist als noch vor ein paar Jahrzehnten. Es ist einiges passiert, was selbst so extravagante Argumente wie das Folgende populär werden lassen: Wenn der Staat mit Milliarden Grossbanken retten kann, kann er auch für anständige AHV-Renten sorgen. Die ursprüngliche Grundidee und -konzeption des Zweisäulen-Systems geht immer mehr verloren und vergessen.
Welche Folgerungen aus der institutionell blockierten Reformfähigkeit in der Altersvorsorge zu ziehen wären, wird Thema einer weiteren Folge dieser Reihe sein.
Besten Dank für diesen Beitrag. In der SVP, deren Mitglied ich bin, haben viele für die 13. AHV-Monatsrente gestimmt, weil das Geld reichlich für Entwicklungshilfe und so weiter ausgegeben wird. Ich habe zwar dagegen gestimmt, kann jedoch alle SVP-Mitglieder verstehen, welche Ja gestimmt haben.
Man könnte die Sachlage auch so formulieren: Seit Jahrzehnten scheitert jeder Versuch im Parlament, die Geldströme nach dem Ausland in das Inland umzuleiten. Ich konstatiere daher eher eine Krise des Parlaments als eine solche der direkten Demokratie.
Mit besten Grüssen
Simon Niffenegger