Sollten wir zur Kernenergie doch „nein danke“ sagen?
Heutzutage ist im öffentlichen Diskurs viel die Rede von Realitätsverweigerung und Politikversagen. Ich habe als Blogger zu dieser Kritik selbst Einiges beigesteuert. Man fragt sich dann immer wieder mal, ob man eigentlich noch etwas an Fakten und Einsichten zu vermitteln vermöge, was nicht schon anderswo verfügbar ist und was jede(r) sich bei Bedarf selbst beschaffen kann. Vielleicht liegt ein möglicher Ausweg darin, dass man Themen miteinander verknüpft und so eine ungewohnte neue Perspektive gewinnt. Meine heutige Verknüpfung lautet Spaemann-Rushkoff.
Leuthard-Energiewende – nein danke
In meinen energiepolitischen Beiträgen habe ich mich seit Jahren klar als Kritiker der offiziellen Leuthard-Sommaruga-Energiewende mit Atomausstieg positioniert. Die stereotyp vorgebrachten Argumente der „Kernenergie – nein danke“-Lobby sah ich immer als längst widerlegt an. Es sind dies drei Hauptargumente: Kernenergie ist gefährlich, Kernenergie ist zu teuer und das Entsorgungsproblem ist nicht gelöst. Statt einmal mehr auf diese Behauptungen im Einzelnen einzugehen, picke ich nur das Entsorgungsthema heraus, weil ich jüngst auf einen anregenden Aufsatz des Philosophen und Ethikers Robert Spaemann (1927 – 2018) aus dem Jahr 1979 gestossen bin.
Spaemann war einer der führenden konservativen katholischen Philosophen im deutschsprachigen Raum. Auf katholisch.de stand im Nachruf: „In die politischen Debatten der Bundesrepublik mischte sich der einstige Linkskatholik Spaemann unter anderem mit seiner Kritik der Wiederbewaffnung und einer grundsätzlichen Ablehnung der Atomkraft ein.“
Spaemanns Zumutbarkeit von Nebenwirkungen
Unter dem Titel „Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik“ diskutiert Spaemann in einem längeren Essay im Buch „Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns“ die Zumutbarkeit von Nebenwirkungen in einer extrem abstrakt-formalen Weise. Die Frage der Entsorgung von radioaktiven Abfällen ist eine Frage der Nebenwirkungen auf spätere Generationen. Die Argumentation Spaemanns ist sehr akribisch und ausführlich, sodass ich hier nur versuchen kann, die Gedanken, die mir wichtig erscheinen, nach meinem Verständnis wiederzugeben.
Nach Spaemann muss die Zumutbarkeit gerade beim „Atommüll“ unter Berücksichtigung späterer Generationen diskutiert werden. Da man diese Menschen nicht um ihre Meinung fragen kann, müssen wir für sie entscheiden. Was allerdings zumutbar sein wird, hängt davon ab, in was für einer Gesellschaft diese Menschen dannzumal leben werden. Wir gehen bei der Zumutbarkeitsdebatte in einem Anflug von hegelianischem Geschichtsoptimismus stets davon aus, dass sich die menschliche Gemeinschaft in immer höhere Sphären wissenschaftlich-technischer Kompetenzen und wirtschaftlichen Wohlstands bewegt. In Sachen Moral hat man allerdings so seine Zweifel.
Vielleicht gerade deswegen macht Spaemann gegen solchen Optimismus auf die schlimmst mögliche Wendung aufmerksam. Es könnte ja sein, dass die menschliche Zivilisation durch Selbstverschulden oder durch gewaltige Naturkatastrophen auf ein wissenschaftlich-technisch rückständiges Niveau zurückgeworfen wird. Das würde es einer solchen primitiveren künftigen Gesellschaft unmöglich machen, mit den Risiken der gelagerten Atomabfälle richtig umzugehen. Die Unwahrscheinlichkeit einer solchen Entwicklung lässt Spaemann als Argument nicht gelten. Also ist Zumutbarkeit nicht gegeben. Die logische Konsequenz für Spaemann: Die Inbetriebnahme von Kernkraftwerken sei zur Zeit ethisch nicht gerechtfertigt.
„The mindset“ von Rushkoff
Obwohl oder weil Spaemann die Unwahrscheinlichkeit einer zivilisatorischen Katastrophe als Argument ablehnt, soll hier eine passende Verknüpfung mit der Gedankenwelt des amerikanischen Autors und Medientheoretikers Douglas Rushkoff gemacht werden. Mit ihm gibt es auch ein Gespräch auf SRF Kultur Sternstunden.
Screenshot aus der erwähnten Sendung „Sternstunden“
Rushkoff erzählt einleitend in seinem Buch ‚Survival of the Richest. Escape Fantasies of the Tech Billionaires‚ sowie in Interviews und Referaten von einem Treffen mit fünf Tech-Milliardären, das ihm als Inspiration für das Buch diente. Diese Story erschien mir zunächst so schräg, dass ich Google Gemini die Frage stellte: „Ist das Treffen mit den fünf Tech-Milliardären in „Survival of the Richest“ von Rushkoff Fakt oder Fiktion?“ Google Gemini antwortete:
„Das Treffen mit fünf Tech-Milliardären, das Douglas Rushkoff in seinem Buch ‚Survival of the Richest: Escape Fantasies of the Tech Billionaires‘ beschreibt, ist eine wahre Begebenheit, die Rushkoff selbst erlebt hat. Fünf wohlhabende Männer luden ihn in ein Wüstenresort ein, um ihn darüber zu befragen, wie man einen ihrer Meinung nach bevorstehenden gesellschaftlichen Zusammenbruch überleben könne. Rushkoff erkannte, dass es ihnen nicht darum ging, den Zusammenbruch zu verhindern, sondern sich mithilfe von Technologie und Reichtum davor zu schützen – ein Phänomen, das er „The Mindset“ nennt. Das Buch untersucht die Ursprünge und Auswirkungen dieser Denkweise, die seiner Meinung nach eine gefährliche Ideologie ist, die viele der ehrgeizigsten Projekte der Tech-Welt antreibt.“
Es gibt also offenbar eine kleinste elitäre Menschengruppe, für die ein zivilisatorischer Zusammenbruch – welcher Art auch immer – nicht vollkommen ausgeschlossen ist. Wenn man die heutigen Entwicklungen der Tech-Konzerne und von KI in Betracht zieht, wäre es auch denkbar, dass diese Elite zu einem solchen Zusammenbruch sogar beiträgt – ob gewollt oder nicht, bleibe dahingestellt. Genau dies lässt Rushkoff auch durchblicken.
Mein Fazit
Ich vermute, dass die Anwendung von Spaemanns extremer Perspektive der Zumutbarkeit von Nebenwirkungen auch noch andere wirtschaftlich-technische Einrichtungen einer modernen Zivilisation in Frage stellen würde. Zur Zeit, als Spaemann seinen Aufsatz schrieb, waren Energieinfrastrukturen wie Solar- und Windkraftanlagen sowie Batterien im grossen Massstab noch kein Thema. Die Frage nach Alternativen zur Kernenergie und deren Risiken wird von Spaemann nicht behandelt. Bekanntlich sind hochtoxische Abfälle aus der Produktion, dem Betrieb und der Entsorgung solcher Infrastrukturen nicht zu vermeiden, und diese haben keine Halbwertszeit.
Wenn aber Plausibilität von Nebenwirkungen kein Kriterium mehr ist für Zumutbarkeit, erscheint bei mir die Vorstellung einer utopischen Null-Risiko-Gesellschaft. Der Beweis für null Risiko ist nicht zu erbringen. Dann sind auch Kosten-Nutzen-Kalküle wie sie in der Kontroverse über die langfristigen Risiken des Klimawandels zwischen den US-amerikanischen Ökonomen William Nordhaus und Martin Weitzman eine zentrale Rolle spielten, nicht mehr anwendbar (siehe dazu mein Flipbook „Klimakrise oder bloss ‚Klimakrise‘?“).


