Brauchen wir in der Schweiz „Bevölkerungsräte“?
Auf nebelspalter.ch lese ich: „Laut einer repräsentativen weltweiten Umfrage vertrauen Schweizer ihrer Demokratie deutlich mehr als Menschen in anderen westlichen Nationen.“ Nun gut, das ist ja auch kein Wunder, sie sind ja gleichsam selbst diese Demokratie. Die Schweiz ist das populistischste Land der Welt. Es gilt die Devise, die in anderen Ländern sogenannte Rechtsaussenparteien vertreten: Alle Macht dem Volk und durch das Volk.
Doch braucht die direkteste Demokratie der Welt wirklich noch mehr Partizipation durch „Bevölkerungsräte“? Aus den Medien erfuhr man, dass ein „Bevölkerungsrat 2025“ die Einführung eines nationalen Gesundheitsgesetzes befürworte. Es geht um ein Projekt der Universitäten Zürich und Genf in Kooperation mit dem Zentrum für Demokratie Aarau. In diesem Projekt debattierte ein zufällig ausgeloster Querschnitt der Schweizer Bevölkerung, bestehend aus 100 Personen ab 16 Jahren, über Reformvorschläge im Gesundheitswesen. Nach mehreren Diskussionstagungen in den vergangenen Monaten verabschiedete der Bevölkerungsrat 2025 am letzten Märzwochenende Reformvorschläge.

Hehre Ziele und Erwartungen
Hauptmotiv des Projekts war gemäss den Initianten die Sorge um die gesunkene politische Beteiligung der stimmberechtigten Bevölkerung. Und wenn nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleich häufig teilnehmen würden, erhöhe dies die Gefahr von verzerrten Entscheidungen. Seit einiger Zeit würden deshalb neue Formen der politischen Beteiligung entwickelt und ausprobiert mit dem Ziel, die Bürgerinnen und Bürger (wieder) zu aktivieren und die Demokratie neu zu beleben.
Projektinitiator Daniel Kübler, Professor an der Universität Zürich, sagte zum Start des Projekts: „Mit diesem Projekt möchten wir eine neue Form der Demokratie testen“. Und Co-Initiator Professor Nenad Stojanović von der Universität Genf, ergänzte: „Das Thema ‚steigende Gesundheitskosten‘ wurde in einem breiten Prozess gewählt, weil es uns alle betrifft und festgefahrene Diskussionen neu beleben soll.“ Und Nationalrätin Melanie Mettler, Mitglied der politischen Begleitgruppe des Bevölkerungsrats, meinte: „Ich kann mir vorstellen, dass der Bevölkerungsrat Ideen voranbringt, die sonst nicht im Zentrum der politischen Diskussionen stehen. Diese Ideen könnten dann in die Entwicklung mehrheitsfähiger Lösungen einfliessen“.
Das Gesundheitswesen ist tatsächlich eines der politischen Problemfelder, wo Reformen seit x Jahren dringend gefragt wären, aber kaum Fortschritte erzielt werden. Die Hoffnungen auf Kostensenkungen durch Reformen wie Fallpauschalen oder neuerdings die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen zerschellen regelmässig an den Realitäten. Die Gesundheitskosten steigen ungebremst weiter. Wir erleben das Micro-Macro-Paradox, ein Denkkonzept, das aus Studien über die Wirkungen von Entwicklungshilfe bekannt ist. Im Kleinen gelingen gelegentlich Detailverbesserungen, aber auf das Gesamtsystem hat dies keine sichtbaren Auswirkungen. Offenbar reagieren im Gesundheitswesen Anbieter und Patienten mit Verhaltensanpassungen.
Eine Politikfeldanalyse als Grundlage
Eine 50-seitige Politikfeldanalyse zum Thema der steigenden Gesundheitskosten diente dem Projektteam als Grundlage (Interface: Bevölkerungsrat 2025: Politikfeldanalyse „steigende Gesundheitskosten“ – Politikfeldanalyse zuhanden des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA)). Der Bericht ist zwar zwingend detailüberladen, weil er ein bürokratisches Monster beschreibt. Trotzdem nennt die Politikfeldanalyse die wichtigen Gründe für das Kostenwachstum: Fehlanreize zur Überversorgung auf Anbieter- und Nachfrageseite („moral hazard“); Vertragszwang der Krankenkassen, der den Wettbewerb behindert; föderalistisch fragmentiertes System und fehlende Koordination; Mehrfachrolle der Kantone mit Eigeninteressen im Spitalwesen; zu viele kleine Spitäler; mangelndes Wissen der Leute über das Gesundheitswesen; Ausbau der versicherten Grundleistungen.
Diese Politikfeldanalyse identifizierte fünf Themenfelder, die mit den steigenden Gesundheitskosten zusammenhängen: Grundversicherung, Spitäler, Mengenausweitung, Koordination der Versorgung sowie Gesundheitsförderung und Prävention. Daraus sollten die 100 Teilnehmer ein Themenfeld auswählen. Dazu liest man auf der Projekt-Webseite: „Gemeinsam erarbeiteten die Teilnehmenden die Grundlagen für die Abstimmung, bei der sich die Mehrheit für ‚Gesundheitsförderung und Prävention‘ entschied. Mir scheint es bezeichnend, dass der Bevölkerungsrat 2025 dieses Themenfeld auswählte. Das Verständnis für die strukturellen Ursachen des Kostenwachstums, wie in der Politikfeldanalyse beschrieben, ist auch in der breiten Bevölkerung unterentwickelt.
Eine akademische Fingerübung
Die Vorschläge, die dieser „Bevölkerungsrat 2025“ gegen das Kostenwachstum im Gesundheitswesen erarbeitet hat, interessieren hier weniger als die von den Initianten erhofften Auswirkungen auf die praktische Politik. Und da habe ich meine grossen Zweifel. Wer kann schon erwarten, dass ein solches Gremium irgendwelche neuen Ideen entwickelt, auf die noch niemand gekommen ist! Seit Jahrzehnten ist das Gesundheitswesen mit seiner dynamischen Kostenentwicklung ein Dauerthema. Alles ist schon in Wissenschaft, Politik, Medien, Verbänden, Parteien, Parlamenten und an Stammtischen von links nach rechts, kreuz und quer und von oben und unten durchgekaut worden. Zudem gab es auf Bundes- und Kantonsebene zahlreiche Volksabstimmungen zu gesundheitspolitischen Themen.
Wenn andere Länder Bevölkerungsräte testen und einführen, ist dies als Ergänzung zu einer repräsentativen Demokratie verständlich. Zwischen den Wahlen vergeht dort viel Zeit. Dem Wahlvolk fehlt eine institutionalisierte Möglichkeit, sich themenspezifisch gegen oben bemerkbar zu machen. Umfragen sind dafür kein Ersatz.
Dagegen sind Bevölkerungsräte in der Schweiz eine überflüssige Einrichtung, egal zu welchem Themenfeld. Wir haben bereits bei weitem die Demokratie mit dem grössten Ausmass an Partizipation. Auch da gibt es ein Optimum. Je mehr Akteure mitreden, desto komplizierter wird es. Die Schweiz ist schon jetzt durch ein Übermass an mehrdimensional institutionalisierter Partizipation teilweise gelähmt. Und dass die Stimmberechtigten, besonders die politisch weniger interessierten, dank Bevölkerungsräten vermehrt an Abstimmungen teilnehmen oder sich politisch generell mehr engagieren, ist nach meiner Einschätzung nicht zu erwarten.
Was wir hingegen brauchen, ist eine unbefangene Diskussion über das gestörte Gleichgewicht der Institutionen. Die direkten Volksrechte haben über die Jahrzehnte seit deren Einführung gegenüber den repräsentativen Organen Parlament und Regierung ein klares Übergewicht gewonnen. Zudem ist die „instant democracy“ durch digitale Partizipation im zeitgeistigen Aufwind. Die Reformfähigkeit in Bezug auf nachhaltige Lösungen – nicht nur im Gesundheitswesen – ist durch diese Zustände eingeschränkt. Dazu gibt es in diesem Blog die Reihe „Die Schweiz auf schiefer Bahn“. Bisher sind sechs Folgen erschienen. Vielleicht wäre das mal ein Thema für einen Bevölkerungsrat.