Bild: AKW Mühleberg (Bildquelle: SRF-Medienportal)
Meine zweiteilige Jahresbilanz sollte auch ein Urteil darüber ermöglichen, ob das Bild von einer Schweiz auf der schiefen Bahn zutrifft oder nicht. Im ersten Teil meines Rückblicks auf 2024 ging es um die Altersvorsorge und um das Gesundheitswesen. Bei den beiden sozialpolitischen Themen gab es deutlich schwerwiegendere Verschlechterungen oder Unterlassungen als Lichtblicke. Die Nachhaltigkeitsbilanz des sozialpolitischen Aktivismus fällt negativ aus. Mangelnde Nachhaltigkeit zeichnet auch den nächsten für das Wohlergehen des Landes entscheidenden politischen Sektor aus.
Noch keine Wende bei der „Fukushima-Energiewende“
Eine historisch erstmalige weibliche Mehrheit im Bundesrat sorgte wenige Tage nach dem AKW-Unfall von Fukushima mit dem Beschluss für die „Energiewende mit Atomausstieg“ für eines der wenigen Beispiele von „Leadership“ in der Schweizer Politik. Leider geschah dies ausgerechnet für eine fundamentale Weichenstellung, ohne zuvor sorgfältig abgeklärt zu haben, was denn in Fukushima tatsächlich aufgrund der dortigen Untersuchungen passiert war und was für Folgerungen für die schweizerische Energieversorgung daraus abzuleiten wären.
Was danach folgte, hat mit einem schweizerischen Grundproblem zu tun: Alle wichtigen Akteure mit Einfluss auf die öffentliche Meinung sind staatlich oder staatsnah: Die staatlichen Verwaltungen sowieso, die ganze Strombranche, die SRG-Medien, die staatliche beherrschte Unternehmenswirtschaft, die staatlichen Hochschulen oder auch ein grosser Teil des Kulturbetriebs. Zudem agiert auch ein beträchtlicher Teil der privaten Wirtschaft opportunistisch, was man an den braven Abstimmungsparolen von economiesuisse zu den Energie- und Klimavorlagen ablesen kann. Man stellte sich überall dort umgehend staatstreu auf die „Energiewende“-Linie ein. Als das meinungsgegängelte Stimmvolk im Mai 2017 dem Prestigeprojekt der damaligen Energieministerin Doris Leuthard, dem Energiegesetz, zustimmte, erhielt die offizielle Politik noch das Gütesiegel höchster demokratischer Legitimation.
In den fast 14 Jahren seit Fukushima sind in der Schweiz zwei grosse Pumpspeicherwerke eröffnet worden: Linth-Limmern mit 1’000 MW Leistung und Nant de Drance mit 900 MW Leistung. Planung und Bau beider Grossprojekte begannen aber lange vor „Fukushima“. Der SRF-Wissenschaftsjournalist Klaus Ammann schrieb dazu: „Unter dem Strich brauchen Pumpspeicherkraftwerke zum Pumpen mehr Strom als sie produzieren. Gegen die drohende Winterstromlücke sind sie also kein Mittel.“ Klingt plausibel, doch gibt es im Winter gelegentlich auch Wetterlagen mit überschüssigem deutschem Windstrom. Interessant ist der Betrieb jedoch im Sommer, wenn die schweizerischen Stromkonzerne für die Abnahme von überschüssigem deutschem Wind- und/oder Solarstrom kaum etwas bezahlen müssen oder noch Geld bekommen.
Viel ist seit dem Beschluss für die „Energiewende“ gegen die akuter werdende Winterstromlücke, ausser gesetzlichem Aktivismus, noch nicht passiert. Gut, viele Hauseigentümer, die nicht so streng rechnen müssen, lassen sich auf ihre Dächer Solarpanels montieren. Das sieht nach schönen Wachstumsraten aus, bringt aber für den Winter nicht viel. Hingegen wurde nach „Fukushima“ von den BKW-Eignern (52,54% im Besitz des Kantons Bern) die Stillegung des AKW Mühleberg beschlossen. Offiziell geschah dies aus betriebswirtschaftlichen Gründen. Wie mir ein Insider wider das offizielle Narrativ erklärte, spielte der politische Druck (des Kantons) die entscheidende Rolle.
Zustimmung zum „Mantelerlass“
Am 9. Juni kam das Referendum gegen das Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien, der sogenannte „Mantelerlass“, zur Abstimmung. In den Erläuterungen des Bundesrats stand folgender Satz: „Die Vorlage schafft die Grundlagen, damit in der Schweiz rasch mehr Strom aus erneuerbaren Energiequellen wie Wasser, Sonne, Wind oder Biomasse produziert werden kann…“ Das Referendum war einerseits von diversen Umweltverbänden, anderseits von der SVP ergriffen bzw. unterstützt worden. Das war eine sehr unheilige Allianz, da die beiden in Bezug auf die Kernenergie diametral gegensätzliche Position vertreten.
Die Vorlage wurde klar angenommen. Mit anderen Worten: Auch unter SVP-UVEK-Vorsteher Albert Rösti fährt man weiter auf der illusionären Leuthard-Sommaruga-Schiene mit dem Neubauverbot für AKW. Mit einem hilfreichen Stromabkommen mit der EU sollte man besser nicht rechnen, solange das institutionelle Abkommen eine Hängepartie ist. In Bezug auf den raschen Ausbau von Anlagen zur Mehrproduktion von Energie aus Wasser, Sonne und Wind gehören Erwartungen über „express“ im Geflecht der real existierenden eidgenössischen Institutionen ins Reich der Träume, worüber ich mich schon früher geäussert hatte (hier).
Mein Fazit: Eine Wende der „Energiewende“ war 2024 noch nicht in Sicht. Eine solche wird durch den Nachteil staatlicher Dominanz (SRG-Medien, Hochschulen, Energiekonzerne, Kultureinrichtungen) in der öffentlichen Meinungsbildung erschwert. Dennoch gab es im vergangenen Jahr in politischen Zirkeln vermehrt Anzeichen, dass man das Neubauverbot für AKW im Energiegesetz aufheben will. Doch ein Ausbau der Kernenergie unterliegt besonders stark den „vetokratischen“ Blockaden, die jedem grossen Projekt in der Schweiz drohen.
Ungeklärtes Verhältnis zur EU
Auf admin.ch schreibt der Bundesrat: „Bern, 20.12.2024 – Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 20. Dezember 2024 mit Befriedigung Kenntnis genommen vom materiellen Abschluss der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union…. Der Bundesrat hat die betroffenen Departemente beauftragt, die für einen formellen Abschluss der Verhandlungen notwendigen Schritte vorzubereiten.“
Es wird also noch etwas dauern, bis da Klarheit herrscht. Das Thema spaltet das Land wie kaum je zuvor. Ein Kampf mit harten Bandagen tobt. Auf beiden Seiten wird stark übertrieben. Am Schluss wird es eine Volksabstimmung richten.
Mein Fazit: In extremis gelang am Ende des Jahres der materielle Abschluss der Verhandlungen. Unterschrieben und entschieden ist noch gar nichts. Es wird noch einige Zeit dauern, bis eine Entscheidung durch Volksabstimmung gefällt ist. Hier gilt es, zu beachten: Jede Art von Fundamentalismus hat ihren Preis.
Armeeaufbau im Korsett der starren Schuldenbremse
In der Dezembersession beschlossen National- und Ständerat eine Erhöhung des Armeebudgets für 2025 um rund eine halbe Milliarde Franken. Das war im Korsett der Schuldenbremse gerade noch möglich. Die nicht-linken Mehrheiten in den Räten, insbesondere Politiker der FDP und der SVP, wollen in der Finanzplanung aber eine viel stärkere Erhöhung ab 2026. Wie ein solcher Aufbau unter der Fuchtel der starren Schuldenbremse gelingen soll, bleibt ungeklärt. Es sind ja gerade diese beiden Mitte-rechts-Parteien, denen die Schuldenbremse heilig ist. Und Steuererhöhungen wollen sie auch nicht.
Einem Experten würde ich gerne folgende Frage stellen: Ist die Schweiz überhaupt in der Lage, ihre militärische Aufbauplanung flexibel der raschen Entwicklung der modernen Kriegsführung folgen zu lassen, wie wir sie aktuell gerade erleben? Eigenes Know-how dazu ist ja wohl nicht im Überfluss vorhanden, wenn man rein assoziativ so sieht, was zum Beispiel an Informatikprojekten alles schief läuft. Konkretere argumentive Unterstützung dazu, insbesondere auch zu den massiven finanziellen Konsequenzen, lieferte heute nachträglich die NZZ (dieser letzte Satz wurde am 11. Januar eingefügt).
Mein Fazit: Die bescheidene Budgeterhöhung ist ein Lichtblick. Aber auch hier ist eine Erwartung an „express“-Politik Wunschdenken. Die starre Schuldenbremse, ein konjunkturpolitisch gesteuertes Instrument, auf das extrem wichtige Langfristprojekt des Wiederaufbaus einer verteidigungsfähigen Armee (Stichwort „bewaffnete Neutralität“) anzuwenden, ist in meinen Augen Verhältnisblödsinn. Meine Argumente dazu gibt es ausführlicher hier.
Politstau im Strassen- und im Schienenverkehr
Am 24. November votierte eine Mehrheit der Stimmenden in einem erfolgreichen Referendum gegen den Bundesbeschluss über den Ausbauschritt 2023 für die Nationalstrassen. Es sollten sechs wichtige Abschnitt erweitert werden, um Verkehrsengpässe zu beseitigen.
Beim Schienenverkehr laufen die Kosten aus dem Ruder. Der jeweilige föderlistische Basar bei der Ausbauplanung führt zu ständig höheren Budgets. Die Betriebskosten laufen mit. Kürzlich las man wieder wie aus heiterem Himmel über lauernde Mehrkosten von sage und schreibe 16 Milliarden Franken.
Mein Fazit: Das Jahr brachte in beiden Verkehrsbereichen zumindest eine Klärung. Unter Mittelknappheit wird bei den Verkehrsinfrasturkturen einfach künftig alles viel langsamer gehen. Und niemand sollte bei weiteren Kostenüberschreitungen überrascht sein.
Restliches, aber ebenso Wichtiges
Im Bereich von Schule und Bildung wütet im Bereich der obligatorischen Schule seit Jahren eine von der Bildungsbürokratie diktierte Reformitis. Obwohl abnehmende Schulleistungen längst als Warnsignale vorlagen, halten die Widerstände der Behörden und Verbände gegen Klagen von betroffenen Lehrern und Eltern weiter an. Wer mehr über diese Auseinandersetzungen wissen will, sollte sich unbedingt den viel beachteten kritischen Schul- und Bildungsblog condorcet.ch anschauen.
Beim ewigen Projekt des Bürokratie- und Regulierungsabbaus habe ich keine Fortschritte bemerkt, lasse mich aber gerne berichtigen. Die bürokratischen Mühlen mahlen unverdrossen weiter. Kein Musk oder Milei in Sicht. Die hätten auch keine Chance, sondern würden vom Stimmvolk umgehend in den Senkel gestellt. Libertäres Gedankengut ist unschweizerisch, könnte man folgern. Zudem sehen unsere makroökonomischen Daten insgesamt immer noch besser aus als die von Argentinien oder die der USA. Zumindest Ende 2024.
Was die Zukunft bringen wird, ist offen. Vor gut 10 Jahren berechnete die Economist Intelligence Unit (EIU) der britischen Zeitschrift „Economist“ in aufwendigen statistischen Verfahren letztmals ein „Lottery-of-Life“-Ranking. Dieses sollte ausdrücken, wie vorteilhaft es vergleichsweise für einen Menschen ist, der im Jahr 2031 18 Jahre alt wird, 2013 in einem bestimmten Land geboren worden zu sein. Als Fazit ihrer Berechnung schrieb die EIU: „After crunching its numbers, the EIU has Switzerland comfortably in the top spot“. Auch wenn das heute immer noch so sein sollte – das Jahr 2024 hat nach meiner Einschätzung nicht spürbar dazu beigetragen, diese Spitzenposition zu festigen.