Zu den Versuchen, eine optimale Anti-COVID19-Politik zu „berechnen“
Die Politik erwartet von den Experten, vor allem aus den Fachkreisen von Emidemiologie und Ökonomie, datengestützte Schätzungen über das optimale Vorgehen gegen die Pandemie. Es geht um das Abwägen zwischen den schädlichen Folgen der Corona-Seuche und den Opfern und Kosten des gesellschaftlichen Shutdowns.
Unsichere Annahmen – stark abweichende Ergebnisse
Wer sich in den letzten Wochen über Testergebnisse, Infektionsraten und Mortalität in verschiedenen Ländern zu informieren suchte, dürfte eher verwirrt als aufgeklärt sein. Einerseits liegt dies an der grossen Zahl von journalistisch aufbereiteten Berichten aus verschiedensten Quellen. Anderseits liest man von stark abweichenden Ergebnissen aus fundierten Studien mit modellierten Krankheitsverläufen. Der bekannte „Undercover Economist“ Tim Harford hat als regelmässiger Kolumnist in der Financial Times dazu interessantes Material geliefert, auf das ich mich nachstehend teilweise stütze.
Eine neue Studie der Universität Oxford gelangt zu fast unglaubhaft beruhigenden Ergebnissen, dies jedoch aufgrund sehr optimistischer Annahmen über den Verlauf von COVID19. Die Autoren nehmen an, dass die meisten Infektionen so mild verlaufen, dass sie behördlich nicht erfasst und vielleicht von den Erkrankten gar nicht bemerkt wurden. Die Annahme einer hohen Dunkelziffer bedeutet, dass ein Grossteil einer Bevölkerung nach einigen Woche bereits infiziert und inzwischen bereits wieder geheilt und wahrscheinlich gegen Corona-Viren immunisiert ist. Aufgrund dieser „Eisberg-Theorie“ kommt man statistisch auf eine sehr niedrige Mortalitätsrate, weil die Grundgesamtheit unter Einschluss einer hohen geschätzten Dunkelziffer sehr gross ist. Dies würde erlauben, rigorose Massnahmen gegen die Ausbreitung von COVID19 relativ rasch wieder aufzuheben.
Nun gibt es natürlich Studien, die bei weitem nicht so optimistische Annahmen treffen. Experten des Imperial College in London, die ebenfalls Krankheitsverläufe statistisch modellierten, warnten, dass es ohne aggressive politisch verordnete Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens in Grossbritannien eine halbe Million COVID19-Sterbefälle geben könnte.
Auf der Website „Marginal Revolution“ findet sich schliesslich ein Eintrag des US-amerikanischen Ökonomen Tyler Cowen, der die Schlussfolgerung einer Studie des American Enterprise Institute – AEI paper by Anna Scherbina – zitiert, ohne sich damit zu identifizieren. Geschätzt wird darin die optimale Länge einer strikten COVID19-Verhinderungspolitik aufgrund von drei unterschiedlichen Annahmen über die Infektionsrate. Die Ergebnisse für die USA sind eher ernüchternd, so dass man hoffen muss, die Realität werde die Studie widerlegen:
We investigate the optimal duration of the COVID-19 suppression policy. We find that absent extensive suppression measures, the economic cost of the virus will total over $9 trillion, which represents 43% of annual GDP. The optimal duration of the suppression policy crucially depends on the policy’s effectiveness in reducing the rate of the virus transmission. We use three different assumptions for the suppression policy effectiveness, measured by the R0 that it can achieve (R0 indicates the number of people an infected person infects on average at the start of the outbreak). Using the assumption that the suppression policy can achieve R0 = 1, we assess that it should be kept in place between 30 and 34 weeks. If suppression can achieve a lower R0 = 0.7, the policy should be in place between 11 and 12 weeks. Finally, for the most optimistic assumption that the suppression policy can achieve an even lower R0 of 0.5, we estimate that it should last between seven and eight weeks. We further show that stopping the suppression policy before six weeks does not produce any meaningful improvements in the pandemic outcome.
Neben den Annahmen über die Dunkelziffer haben somit auch die zugrunde gelegten Infektionsraten einen entscheidenden Einfluss auf die Wahl eines optimalen trade-offs politischen Handelns. Was meines Wissens auch noch mit Unsicherheit behaftet ist, sind die Daten über Sterbefälle durch Corona-Infektion. Unter den fast ausschliesslich alten tödlichen Opfern gab es bekanntlich auch viele, die nicht an, sondern mit einer COVID19-Infektion starben und in den COVID19-Sterbefällen mitgezählt wurden.
Testaktivismus: Föderalismus als Handicap
So steht also die Politik vor der undankbaren Aufgabe, aus all diesen unterschiedlichen und teils widersprüchlichen Expertenmeinungen die richtigen Massnahmen zu beschliessen und glaubhaft zu vermitteln. Um die Datenlage zugunsten der Politik zu verbesssern, schlug deshalb der prominente Verhaltensökonom Ernst Fehr (Universität Zürich) in einem Video-Interview mit der NZZ wiederholte Tests in einer landesweiten Stichprobe von rund 5’000 Personen vor. Daraus liessen sich Unsicherheiten über die Zahl der bereits Infizierten bzw. Genesenen (inkl. Dunkelziffer), über Infektionsraten und Ausbreitungsgeschwindigkeit sowie über die Mortalität reduzieren, und der Politik stünde eine bessere Datengrundlage für ein optimales Vorgehen zur Verfügung. Dieser Ansatz führt automatisch zum Kampfruf „testen, testen, testen!“, eine Politik, die Südkorea offenbar erfolgreich umgesetzt hat.
Das föderalistisch fragmentierte schweizerische Gesundheitswesen scheint für diesen speziellen Fall für einmal nicht besonders gut gerüstet zu sein. So las man am 3. April auf NZZ online:
In der ganzen Schweiz werden viele neue Testzentren eingerichtet. Vorgegangen wird allerdings uneinheitlich. Im Kanton Bern können sich in einem Drive-in-Testzentrum auf dem BEA-Expo-Gelände alle testen lassen, die den Verdacht hegen, angesteckt worden zu sein. Dafür reicht eine Bestätigung nach dem Ausfüllen eines Online-Fragebogens. Im Kanton Waadt, der schweizweit am meisten Infizierte aufweist, wird nur getestet, wer vom Arzt überwiesen wird. Der Kanton Genf hat vier Testzentren eingerichtet und ein mobiles Team aufgebaut, das Tests im Notfall auch bei Patienten zu Hause durchführen kann. Jan Fehr, Infektionsspezialist der Universität Zürich, warnt jedoch davor, dass jeder Kanton nun für sich agiert: «Wir brauchen keinen Flickenteppich, wir müssen orchestriert vorgehen.»
Wie das halt heute so läuft mit dem Überfluss an Informationen über die COVID19-Entwicklung, muss ich eine im Blogbeitrag oben gelieferte Information selbst relativieren. Bei der Schätzung des Londoner Imperial College von bis zu einer halben Million Sterbefälle in Grossbritannien handelt es sich wohl um den „worst case“. In der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Weltwoche war zu lesen, das Imperial College habe seine Prognose inzwischen schrittweise auf etwa 5’700 Opfer gesenkt. Falls dies zutrifft, lägen die Autoren des Imperial College nicht mehr so extrem weit entfernt von den Kollegen der Studie der Oxford University.