Wenn die Digitalisierung auf halbem Weg stecken bleibt

Ich weiss nicht, ob ein kürzliches Alltagserlebnis für einen schweizerischen Digitalisierungsrückstand symptomatisch sein könnte, ein Rückstand, der zum Beispiel im Gesundheitswesen Milliarden an Kosteneinsparungen und weitere Qualitätsfortschritte verhindert. Doch hier geht es um einen anderen Bereich.

Ich kaufte an einem Freitag auf der Auktionsplattform Ricardo ein Set gebrauchte Kaffeetassen mit Untertellern. Sehr zügig gelangte ich dort zur Bezahlfunktion mit einer Auswahl an Zahlmöglichkeiten. Ich wählte mein Postfinance-Konto, zugänglich über die Postfinance-App. Dort lässt sich der QR-Code, der online auf Ricardo erscheint, scannen und die Zahlung auf der App in Auftrag geben. Bis hierher dauerte der Prozess höchstens zwei Minuten.

Danach passierte aber drei volle Tage nichts, weil ein Wochenende dazwischenlag. Erst am Montag wurde die Zahlung bei Postfinance ausgelöst und erschien dann auf dem Konto des Empfängers. Auch unter der Woche werden Zahlungsaufträge offenbar erst am folgenden Tag ausgeführt. Wird da etwa zum Schutz des Kunden noch irgendetwas „manuell“ kontrolliert? Warum machen die elektronischen Systeme einfach mal Pause?

Antworten auf diese Fragen nehme ich gerne in der Kommentarfunktion entgegen.

Die schiefen Analogien von Roger Köppel

Eine andere Sicht zur Rolle der USA im Ukraine-Krieg

In seinen «Weltwoche daily»-Podcasts verwendet Roger Köppel, der engagierte Gegenredner gegen den Medien-Mainstream (alle Medien ausser der Weltwoche), immer wieder schiefe Analogien. Er will damit unter anderem ausdrücken, dass die USA genauso skrupellos Machtpolitik betrieben oder noch betreiben wie die Russen oder die Chinesen.

Ganz schief ist zum Beispiel die regelmässig vorgebrachte rhetorische Frage, wie wohl die USA reagieren würden, wenn in mexikanischen Gewässern vor der Küste der USA chinesische oder russische Flottenverbände kreuzen würden – also genau so wie die Pazifik-Flotte der USA in den Gewässern vor China und Russland.

Welchem demokratisch verfassten Land in der Nachbarschaft der USA würde es wohl einfallen, die Chinesen oder die Russen zum Schutz vor den Machtgelüsten der USA einzuladen? Höchstens Diktaturen wie Venezuela oder Kuba (wie in den 1960er Jahren bereits gehabt) könnten versucht sein, einen solchen Machtpoker anzuzetteln.

Dagegen fühlen sich im Fernen Osten mehrere demokratische Länder von höchster weltwirtschaftlicher Bedeutung wie Japan, Südkorea und Taiwan völlig berechtigt von den latent aggressiven Ambitionen der chinesischen und russischen Autokratien bedroht und sind heilfroh über die militärische Präsenz der amerikanischen Schutzmacht. Und weshalb gehört auch Vietnam zu diesen Staaten, trotz Vietnamkrieg mit US-amerikanischen Kriegsverbrechen?

Eine andere Sichtweise, die noch zu begradigen wäre, betrifft die Kritik an der Dominanz der US-amerikanischen Interessen im Verhältnis Europas zu Russland.

Es ist hinlänglich bekannt und wurde von amerikanischen Regierungen auch immer wieder bemängelt, dass es sich die europäischen Wohlfahrtsstaaten nach dem Zerfall der Sowjetunion unter dem militärischen Schutzschirm der USA bequem eingerichtet und ihre Wohlfahrtsstaaten fleissig auf Kosten ihrer Militärbudgets ausgebaut haben – Merkel-Deutschland ganz zuvorderst.

Die Folge ist, dass die Schlagkraft der Nato weitestgehend von den Ressourcen der USA abhängig ist. Deshalb ist es völlig unangebracht und scheinheilig, sich als Europäer über die dominierende amerikanische Perspektive in der Auseinandersetzung mit Russland zu beklagen, einem Russland, das für die angrenzenden demokratischen Nachbarländer angesichts historischer Erfahrungen und bereits getätigter russischer Annexionen in jüngerer Zeit eine ständige Bedrohung darstellt.

Dieser Text erschien in einer leicht gekürzten Fassung am 12. November auf Weltwoche online und löste 236 Kommentare sowie zahlreiche „dislikes“ aus.

12 Sekunden grün

Zu den menschengemachten Staus vor den Portalen des Gotthard-Strassentunnels

Am Donnerstag, 29. September, meldete Radio SRF1 vor den Mittagsnachrichten je 4 km Stau vor dem Süd- und dem Nordportal des Gotthard-Tunnels – eine Meldung, die inzwischen wie alltägliche Normalität zur Kenntnis genommen wird. Dabei kamen noch vor wenigen Jahren solche Staus an normalen Werktagen nur ausnahmsweise bei Unfällen oder Pannen vor. Mein intuitiv-statistisches Urteil dazu basiert auf einer 12-jährigen Erfahrung. Ich bin zwischen Juli 2010 und September 2022 jedes Jahr gegen zehn Mal in mein Ferienhaus im Piemont gefahren. Die Dynamik des Stauwachstums am Gotthard habe ich gleichsam am lebendigen Leib erfahren.

Dass die gesamtschweizerische Staudynamik von den Verfechtern einer gesteuerten Zuwanderung aufgegriffen wird, kann nicht überraschen. Wie gross der Beitrag des zunehmenden Dichtestresses am Gotthard ist, dürfte schwierig abzuschätzen sein. Studien dazu sind mir nicht bekannt. Nun habe ich aber bei meiner jüngsten Fahrt zurück aus dem Piemont meine eigene Studie gemacht. Sie war ganz einfach aus dem im Stau stehenden Auto zu erledigen. Ich mass mit meinem Handy die Grün- und die Rotphase vor der ersten Tropfenzähler-Ampel vor der Tunneleinfahrt am Südportal.

Die Ampeln blieben genau 12 Sekunden auf grün. Und nach der kurzen Orangephase wartete man bei Rot fast eine halbe Minute – genau waren es 29 Sekunden – auf den Wechsel zu grün. Man kann sich leicht vorstellen, wie wenige Autos in der Grünphase Richtung Tunneleinfahrt passieren konnten, von Lastwagen mit ihrer trägen Beschleunigung ganz zu schweigen. Meine Grobschätzung: zwei Lastwagen und sechs Personenwagen pro Grün-Rotphase (ca. 45 Sekunden). Eine zweite Grobschätzung: Mit einer derart restriktiven Tropfenzähler-Einstellung wird die mögliche Kapazität des Tunnels höchstens zu einem Drittel, wahrscheinlich sogar weniger, genutzt.

Natürlich haben die Tessiner und die Urner Polizei (oder wer immer diese Grün-Rot-Phasen bestimmt) das unangreifbare Argument der Verkehrssicherheit stets auf ihrer Seite. Allerdings stellt sich beim Gotthard-Paradox die Trade-off Frage immer akuter. Wenn bei zunehmendem Verkehr der Tropfenzähler immer restriktiver eingestellt wird (Paradox) und die Staus wachsen und zum alltäglichen Ärgernis werden, verändert sich auch der Trade-off zwischen Verkehrssicherheit im Tunnel und den zunehmenden Staukosten. Irgendwann kippt die Rechnung, und die Staukosten (inklusive Mehrausstoss an CO2 und psychischem Stress) werden schlicht so hoch, dass die Tunnelkapazität aus einer übergeordneten Perspektive wieder erhöht werden muss.

Fazit: Den Dosierungs-Entscheid am Gotthard kann man nicht einfach einer Stelle überlassen, für die die Verkehrssicherheit im Tunnel das einzige Kriterium darstellt. Eine solche Stelle nimmt extrem hohe Staukosten in Kauf, um bei schlimmen Unfällen im Tunnel dem Vorwurf zu entgehen, sie habe für die Verkehrssicherheit zu wenig unternommen.

Dieser Text erschien, minim redigiert, in der Weltwoche, Ausgabe 41/2022 vom 13. Oktober 2022

Energie- und klimapolitische Verwirrungen

„Auch in der Arktis stehen sich die Großmächte  neuerdings feindselig gegenüber…., denn in der Arktis schlummern im Permafrost Öl und Gas in rauen Mengen.“

Das steht heute im „Pioneer Briefing“ von Gabor Steingart. Die Grossmächte und ein paar weniger gewichtige Anrainerstaaten versuchen, ihre Ansprüche und ihre Präsenz in der Arktis auszuweiten. Der Prozess entwickelt eine Eigendynamik, indem jedes Signal der Ausdehnung der Interessensphäre eines Akteurs die anderen Akteure zu Gegenforderungen provoziert.

Im Lichte der hehren Klimaziele von „Paris 2015“ und angesichts der inflationär wiederholten Selbstverpflichtungen zu netto null CO2 erscheint das geopolitische Gerangel um die fossilen Bodenschätze der Arktis wie aus einer anderen Welt oder Zeit. Man ist versucht, unsere moralisch aufgeladene grün gefärbte Klima- und Energiepolitik als Ausfluss einer infantilisierten Wohlstandsgesellschaft zu sehen. In den komplexen globalen Zusammenhängen ist sie im besten Fall wirkungslos, im schlimmeren, aber auch wahrscheinlicheren Fall sogar kontraproduktiv. Für diesen Fall prägte der prominente deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn den Ausdruck „Das grüne Paradoxon“ – und schrieb ein ganzes Buch mit diesem Titel.

Der Bundesrat missachtet das Verursacherprinzip

Warum man bei Energiemangel zuerst den privaten Haushalten Strom oder Gas abstellen muss, nicht der Wirtschaft

Wie zu vernehmen war, plant der Bundesrat, dass bei Strom- oder Gasknappheit im kommenden Winter zuerst gewissen Branchen der Wirtschaft Strom oder Gas abgestellt wird. Die privaten Haushalte sollen dagegen geschont werden, solange es geht. Überbringerin der frohen Botschaft war Energieministerin Sommaruga. Die bisherige Kritik an dieser Strategie strich die potenziell viel höheren volkswirtschaftlichen Kosten von Strom- und Gasunterbrüchen in der Wirtschaft hervor. Es gibt aber eine ebenso wichtige politisch-institutionelle Perspektive.

Dabei können wir auf einen der rituell wiederholten politischen Glaubenssätze von Weltwoche-Herausgeber Roger Köppel bauen: „Bei uns ist das Stimmvolk der Chef“ – eine Floskel, die in seinem „Weltwoche daily“ rund jedes vierte Mal vorkommt. Was liegt aus dieser Sicht also näher, als die energiepolitische Sackgasse, in die wir uns über Jahrzehnte hineinmanövriert haben, dem Stimmvolk anzulasten.

Das energiepolitische Unheil begann 1987 mit der Aufgabe des AKW-Projekts Kaiseraugst. Der AKW-Unfall von Tschernobyl von 1986 hatte die Stimmungslage in der Bevölkerung verändert, genau so, wie es sich nach der Reaktor-Havarie vom März 2011 in Fukushima wiederholen sollte. Mit dem verseuchten Rückenwind von Tschernobyl reichte der Verein „Nie Wieder Atomkraftwerke“ (NWA) 1987 eine Volksinitiative „Stopp dem Atomkraftwerkbau“ ein. Diese Initiative für ein zehnjähriges nationales Moratorium des Atomkraftwerksbaus wurde im September 1990 vom Stimmvolk mit 54,5 Prozent Ja-Stimmen gutgeheissen.

Der Verein NWA hatte sich zuvor schon mit der Besetzung des Baugeländes des AKW Kaiseraugst in Szene gesetzt und war mit seinem rechtswidrigen Vorgehen im Verein mit anderen militanten Gruppen schliesslich erfolgreich. Man gab dem Druck der Proteste nach, weil auch die nach „Tschernobyl“ veränderte Stimmung in der Bevölkerung den politisch bequemen Rückzug möglich machte. Dass dabei SVP-Übervater Christoph Blocher eine Schlüsselrolle spielte, ging inzwischen in weitesten Kreisen vergessen. Gut, dass Peter Bodenmann dieses pikante Detail in der letzten Weltwoche wieder einmal in Erinnerung rief.

Nach dem Reaktorunfall in Fukushima war die Volksseele erneut aufgewühlt und die Lage vor den Herbstwahlen für politische Wendemanöver günstig. Flugs stoppte ein weiblich dominierter Bundesrat Gesuche für AKW-Rahmenbewilligungen von drei Stromunternehmen und rief die Energiewende mit „Atomausstieg“ aus. Das Parlament erteilte dem Bundesrat den Auftrag zur Erarbeitung einer Energiestrategie unter dem Motto „Versorgungssicherheit mit erneuerbaren Energien“ – ein wahres Oxymoron.

Danach setzte Energieministerin Doris Leuthard sämtliche vefügbaren Hebel in Bewegung, um Wissenschaft, Wirtschaft, Medien und Bevölkerung auf Linie zu bringen. Die Konstellation alle gegen die SVP im Referendum gegen das Energiegesetz führte dazu, dass viele Stimmbürger „expressive voting“ betrieben. Es ging ihnen nicht um die Sache, sondern darum, Blochers und Köppels SVP eins auszuwischen. Das Gesetz als Einstieg in die Energiewende wurde im Mai 2017 mit gut 58 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Der „Atomausstieg“ mit dem Neubauverbot war gemäss VOTO-Analyse das wichtigste Motiv der Ja-Stimmenden.

Selbstverständlich hat die drohende Mangelsituation nichts mit dem AKW-Neubauverbot im Energiegesetz zu tun, sondern mit der seit Kaiseraugst erfolgreichen Dämonisierung der Kernenergie. Diese konnte nur dank der Desinformation der Bevölkerung und dem eklatanten Wissensmangel über die wahren Risiken und Kosten verschiedener Energieträger gelingen. Heute sind die Hürden für ein neues AKW derart hoch, dass es leicht ist, zu behaupten, niemand baue heute in der Schweiz ein AKW.

Bei uns ist die stimmberechtigte Bevölkerung letztverantwortlich für die Politik. Fehlendes Wissen über Fakten und Zusammenhänge entlastet nicht. Das Verursacherprinzip verlangt, dass die Verursacher die Folgen ihres Handelns tragen. Deshalb muss in Mangellagen zuerst den privaten Haushalten Strom und Gas abgestellt werden. Dort leben all die Mehrheiten der Leute, die sich trotz warnenden Stimmen von der Propaganda gegen die Kernenergie und für eine Energiewende allein mit erneuerbaren Energien in die Irre leiten liessen.

Wie Tschernobyl und Fukushima gezeigt haben, braucht es Schocks, um die Menschen aufzuwühlen und Wenden zu ermöglichen. Ein Gegenschock zu den beiden AKW-Unfällen wären Stromausfälle im kommenden Winter. Man möchte dies niemandem wünschen, aber einer Wende hin zu einer sachgerechten und weniger moralisch aufgeladenen Energie- und Klimapolitik könnte ein solcher Weckruf doch dienlich sein.

Eine stark verkürzte Version dieses Textes erschien in der „Weltwoche“ Nr. 32.22 vom 18. August 2022.

Unsere konfuse Energie- und Klimapolitik

Die US-amerikanische online-Plattform RealClearEnergy, berichtete kürzlich, Indien habe die Wiedereröffnung von über hundert stillgelegten Kohleminen angeordnet, um den explodierenden inländischen Strombedarf zu decken. Die Begründung lautete, die Energieversorgung komme für Indien an erster Stelle, vor dem Klimaschutz. Auf derselben Plattform las man in einem Editorial, das vorherrschende energiepolitische Narrativ der Administration Biden schweige darüber, wie man den sechs Milliarden Menschen, die mehr Energie brauchen, um ihr Los zu verbessern, zuverlässige und erschwingliche Energie liefern könne. Dasselbe trifft auf die offizielle schweizerische Klimapolitik zu.

Sommarugas Anmassung

Die Medien berichteten im letzten November von der Glasgower Klimakonferenz COP26, dass Umweltministerin Sommaruga gegen Schluss noch intervenierte, um für die Kohle einen konsequenten Ausstieg zu fordern. Ein allmählicher Ausstieg, der auf die wirtschaftliche Tragbarkeit Rücksicht nehme, genüge nicht. Eine solche Intervention eines Regierungsmitglieds eines Landes, das mit seiner Energieversorgung nur dank importiertem Kohlestrom über die Runden kommt, ist an sich schon fragwürdig. Wenn aber Bundesrätin Sommaruga von 1,4 Milliarden Indern den Kohleausstieg ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Tragbarkeit fordert, finde ich das anmassend. Man könnte den Spiess ja mal umkehren. Was für Forderungen könnte Indien an die Schweiz in Sachen Klima und Energie stellen?

Auch Forscher argumentieren auf der Linie von Sommaruga. Kürzlich referierte der ETH-Klimaphysiker Reto Knutti an einem Anlass einer Bank. Sein Referat gründete auf dem Narrativ unserer offiziellen Klimapolitik. Als Einstieg kamen für das richtige „Framing“ Bilder von ausländischen Waldbränden und Überschwemmungen, danach mit der Simulation des Rückzugs des Aletschgletschers bis ins Jahr 2100 auch noch etwas Einheimisches. Schliesslich unterstützt Klimaforscher Knutti die „Gletscher-Initiative“, die den Leuten suggeriert, es liege an uns, mit einer ambitionierten Klimapolitik die Alpengletscher zu retten.

Die Geschichte, die man uns immer wieder erzählt, lautet so: Um das Klimaziel der Konferenz von Paris im Jahr 2015 zu erreichen, nämlich den Anstieg der Temperatur seit Beginn des Industriezeitalters möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen, müssen wir jetzt sofort handeln. Wir müssen die erneuerbaren Energien aus Wind, Wasserkraft und Photovoltaik massiv ausbauen und die Mobilität und die Gebäude elektrifizieren. Und wir sollten weniger fliegen. Und wir sollten weniger Fleisch essen. Wir sollten einfach weniger fossile Energien Kohle, Öl und Gas verbrauchen und durch CO2-arme Energieträger ersetzen. Dass dabei die Kernenergie auch im Vergleich mit Solar- und Windstrom am besten abschneidet, bleibt ausgeblendet.

Das diffuse „wir“

Die Konfusion, die unsere Klimadebatte belastet, dreht sich um das Wörtchen „wir“. Wen meinen die warnenden Stimmen mit „wir“? Sind es wir Schweizer, dann sind all die Bilder von Waldbränden, Überschwemmungen und schmelzenden Gletschern bloss Stimmungsmache, denn darauf haben wir nicht den geringsten Einfluss. Meinen die Warner(innen) aber das „wir“ global, dann sind wir politisch nicht zuständig, siehe das Beispiel Indien. Auch andernorts auf der Welt kommt das Fressen vor der Moral, gerade in den westlichen Demokratien, wo der Krieg in der Ukraine gerade die hehren Netto-null-Versprechungen entzaubert. Überall herrscht unter unsicheren Regierungs- und Parlamentsmehrheiten ein opportunistisches Gerangel um Wählerstimmen. Energiepreise, besonders der politisch brisante Benzinpreis, sollen jetzt mit allen Mitteln gedeckelt werden – inklusive Bücklinge aller Art vor den Potentaten von Autokratien wie Saudi Arabien oder Venezuela.

An der jüngsten Klimakonferenz in Bonn offenbarten sich die politischen Realitäten. Ernüchtert stellte man fest, dass nur wenige Länder die auf dem COP26-Gipfel versprochenen Pläne für strengere Emissionssenkungen vorgelegt hatten. Zudem fehlt es immer noch an der vollmundig in Aussicht gestellten Finanzierung für arme Länder, damit diese sich besser an den Klimawandel anpassen können. Europäische Staaten sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, die fossilen Energiereserven der Entwicklungsländer zu beanspruchen, ohne ihnen bei der Bewältigung des Klimawandels zu helfen. Ausgerechnet das Energiewende-Land Deutschland plant, die Importe fossiler Brennstoffe zu erhöhen, um die riesigen Gasmengen zu ersetzen, die es bis vor kurzem von Russland kaufte.

Die wachsende Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und politischem Handeln untergräbt die Glaubwürdigkeit der westlichen Demokratien nicht nur zuhause, sondern auch im Rest der Welt.

„Geld bleibt hier“

Das schwächste Argument in der Energie- und Klimadebatte

Energieministerin Sommaruga erzählt dem Volk in ritueller Wiederholung, dass Jahr für Jahr viele Milliarden Franken für Importe fossiler Energieträger ins Ausland abfliessen würden. Ohne sich in mühsamen Details zu verlieren, impliziert diese bundesrätliche Botschaft, mit der sogenannten Energiewende und dem massiven Ausbau der erneuerbaren Energien würden diese Mittel im Land verbleiben.

„Geld bleibt hier“ war erstaunlicherweise im Vorfeld des Referendums vom Mai 2017 über das Energiegesetz auch der auffallendste Slogan auf der Abstimmungs-Werbung der FDP zugunsten der Ja-Parole. Dabei steht ja hinter dem Kürzel FDP noch ein – wie man meinen könnte – programmatisch verpflichtendes „Die Liberalen“. Einziger Trost: Die Parteibasis, im Jargon der VOTO-Nachabstimmungsanalysen FDP-Parteisympathisanten, folgten der Partei-Elite nicht und stimmten mit einem Nein-Anteil von 53 Prozent gegen das Energiegesetz.

Der Slogan „Geld bleibt hier“ verdient den Superlativ „das schwächste Argument“. Schwach ist das Argument ganz generell. Würden alle Staaten dieser Welt nach dem Muster „Geld bleibt hier“ handeln und versuchen, Importe durch eigene Produktion zu substituieren, würden wir in einer armen Welt leben. Was der englische Ökonom David Ricardo (1772-1823) mit seiner Theorie der komparativen Kosten für die Vorteile der Spezialisierung und des internationalen Handels gezeigt hat, ist durch die enormen Wohlstandsgewinne einer globalisierten Welt längst auch empirisch bewiesen.

Noch schwächer wird das Argument, wenn man es konkret auf die Schweiz anwendet. Nicht nur profitieren die Schweizer Wirtschaft und Gesellschaft geradezu weltrekordverdächtig von der Offenheit für den internationalen Handelsaustausch. Die Schweiz verzeichnet auch seit Jahren massive Aussenhandelsüberschüsse, was allerdings oft falsch verstanden wird. Ein Exportüberschuss ist nicht per se etwas Positives, sondern ökonomisch einfach ein Sparüberschuss einer Volkswirtschaft. Anders gesagt: Wir leben seit Jahren unter unseren Konsummöglichkeiten. Die für den Import fossiler Energieträger abfliessenden Milliarden, die Bundesrätin Sommaruga und die FDP.Die Liberalen im Land behalten und investieren möchten, konnten wir uns immer locker leisten.

Zum schwächsten Argument wird „Geld bleibt hier“ aber in der konkreten Anwendung auf die Energiewende. Die im Argument unausgesprochene Folgerung, das Geld würde hier bleiben, wenn wir nur mit der Energiewende und den erneuerbaren Energien vorwärts machen, ist bei genauerer Betrachtung unhaltbar. Woher kommen denn die meisten Rohstoffe, Technologien und Produkte? Fast nichts aus der Schweiz. PV aufs Dach montieren, ist keine innovative Leistung. Bei uns wird einfach zu hohen Kosten installiert, was uns die Chinesen und andere liefern. Zudem haben die Anlagen für Solar- und Windenergie eine eher begrenzte Lebensdauer von 15 bis 20 Jahren und müssen dann ersetzt werden. Die Abhängigkeit von Importen wird kaum kleiner, nur verschieben sich die geopolitischen Gewichte der Lieferländer. Diese erscheinen aus Sicht demokratischer Gesellschaften kaum weniger problematisch als viele der grossen Produzentenländer für Öl und Gas.

Abstimmungspropaganda zeigt immer auch, wie die Absender die Kompetenz der Adressaten, also des Stimmvolks, einschätzen. Vielleicht wissen auch Energieministerin Sommaruga und die FDP-Elite, dass mit dem Argument „Geld bleibt hier“ etwas nicht stimmt. Aber sie könnten ja richtigerweise auch davon ausgehen, dass die meisten Leute hierzulande die obligatorische Schulzeit als ökonomische Analphabeten verlassen – ein Bildungsversagen im schweizerischen Schulsystem. „Geld bleibt hier“ wäre so gesehen als Argument wenigstens politisch rational.

Dieser Text wurde in der „Weltwoche“ Nr. 25 vom 23. Juni 2022 unter dem Titel „Sommarugas Energiewende macht China reich“ publiziert.

„Volksrepublik Schweiz“ – von Stimmvolks Gnaden

Antikapitalistische Reflexe in vielen Volksabstimmungen

In der Weltwoche Nr. 8.22 beleuchtete Rainer Zitelmann anhand von Umfragedaten die kapitalismus- und marktkritische Haltung der Menschen in 14 Ländern.  Die Menschen sind zwar in der Schweiz etwas weniger kapitalismuskritisch als die Bevölkerungen in Deutschland, Grossbritannien, Italien, Österreich Spanien und Frankreich. Doch auch hier überwiegt eine antikapitalistische Einstellung.

Zitelmanns Befunde sollten uns nicht überraschend. Man braucht nur die Ergebnisse von wichtigen Abstimmungen der vergangenen Jahrzehnte zu betrachten. Gegen Reformen für Liberalisierungen, weniger Staat, weniger Umverteilung und mehr wirtschaftliche Freiheit spielt die Referendumsmacht der Linken, gelegentlich auch im Verbund mit Protektionisten aller Art, eine zentrale Rolle. Hier ein Blick auf fünf erfolgreiche Referenden auf den grössten wirtschafts- und sozialpolitischen Baustellen mit teils enormer Diskrepanz zwischen Parlament und Stimmvolk:

Abstimmung NationalratStänderatStimmvolk 
Beitritt zum EWR (1992)128 zu 5838 zu 249,7% zu 50,3%
Elektrizitätsmarktgesetz (2002)160 zu 2436 zu 247,4% zu 52,5%
11. AHV-Revision (2004)109 zu 7334 zu 932,1% zu 67,9%
BVG-Revision (2010)126 zu 6235 zu 127,3% zu 72,7%
KVG „Managed Care“-Vorlage (2012)133 zu 4628 zu 624,0% zu 76,0%
Unternehmenssteuerreform III (2017)139 zu 5529 zu 1040,9% zu 59,1%

EWR-Beitritt: Auch ein Nein der Protektionisten
Der Erfolg von Christoph Blochers SVP gegen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vom Dezember 1992 wäre ohne den Beitrag der Protektionisten jeglicher Couleur nicht zustande gekommen. Der pauschale Liberalisierungsschub, den der EWR-Beitritt der Schweiz gebracht hätte, war in den geschützten Branchen der Binnenwirtschaft nicht populär. Zwar spielten im Abstimmungskampf schon damals die „fremden Richter“ eine Rolle. Gerne wurden aber von EWR-Gegnern die institutionellen Nachteile von Souveränitätseinbussen in den Vordergrund geschoben, um protektionistische Motive nicht zugeben zu müssen. 

Beim Aushandeln der bilateralen sektoriellen Verträge mit der EU galt es stets, den Schutzinteressen der Binnenwirtschaft gerecht zu werden, die auch den bei der Linken geheiligten „Service Public“ umfasst. Auch beim Scheitern des institutionellen Rahmenabkommens spielte die Linke mit ihrem Arbeitsmarktprotektionismus eine entscheidende Rolle. Die flankierenden Massnahmen zum freien Personenverkehr und der Lohnschutz seien nicht verhandelbar, hiess es vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB), der mit dem Referendum drohte. Erst dieser späte kompromisslose Positionsbezug machte einen Absturz in einer Volksabstimmung praktisch sicher.

Liberalisierung des Strommarkts: Ein bis heute unbewältigtes Nein  
Das Elektrizitätsmarktgesetz zielte darauf ab, mit der Strommarktliberalisierung in der EU Schritt zu halten. Die Zustimmung in National- und Ständerat war überwältigend. Die drei grossen Schweizer Gewerkschaften und die Grünen ergriffen das Referendum und siegten. Danach erliess das Parlament ein Stromversorgungsgesetz. Seit 2009 ist nun der Strommarkt für Grossverbraucher liberalisiert. Die Ausweitung des freien Netzzugangs auf Haushalte und andere Kleinverbraucher war fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes vorgesehen, allerdings mit der Hürde des fakultativen Referendums. Lange hatten Bundesrat und Parlament diesen zweiten Schritt aus Angst vor einem erneuten linken Referendum nicht gewagt. Inzwischen liegt nun, verpackt in ein links-grünes Oxymoron namens „Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien“, eine Lösung vor, in der keine vollständige Liberalisierung vorgesehen ist. Haushalte und kleine Betriebe sollen weiterhin das Recht haben, in der Grundversorgung zu bleiben oder vom freien Markt wieder zur Grundversorgung zurückzukehren. 

Altersvorsorge: Der wahre Rentenklau 
Alle Reformversuche, AHV und BVG den demografischen Trends und den unvorhersehbaren Entwicklungen auf den Finanzmärkten anzupassen, scheiterten am Widerstand des Stimmvolks, sofern sie nicht schon im Parlament Schiffbruch erlitten. In den beiden Referenden in der Tabelle siegte die linke Opposition haushoch. Dabei waren die zur Abstimmung gelangenden Vorlagen keine langfristig soliden Lösungen, sondern enthielten unter den unvermeidlichen Referendumsrisiken bereits Kompromisse. Auch die AHV-Massnahmen im Paket mit der neuen Unternehmenssteuervorlage (STAF) ändern nichts an der nicht nachhaltigen Finanzierung der AHV. In der beruflichen Vorsorge verhinderte der Widerstand der Linken bis heute, den milliardenschweren Rentenklau durch die system- und gesetzeswidrige Umverteilung von den Aktiven zu den Rentnern endlich zu mildern. Das bereits seit Jahren andauernde politische Geschacher um die Erhöhung des Rentenalters der Frauen auf 65 Jahre zeigt erneut, welch massiven Einfluss die Referendumsmacht der Linken auf die Gesetzgebung ausübt.

Gesundheitswesen: Keine Aussicht auf Gesundung 
Im Jahr 2008 hatte das Stimmvolk bereits den Verfassungsartikel „Für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Krankenversicherung“ mit fast 70 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Darin sollten die Grundsätze des Krankenpflegesystems in der Verfassung verankert werden: Wettbewerb, Transparenz sowie Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungen. Noch nicht klar geregelt war die Frage der Vertragsfreiheit der Krankenversicherungen mit den Anbietern. Hier setzte die gegnerische Propaganda erfolgreich an. Gemäss VOX-Analyse entscheidend war das dramatisierende Argument, die freie Wahl des Arztes oder des Spitals sei in Gefahr, wenn der Vertragszwang aufgehoben werde. 2010 folgte die noch massivere Abfuhr für die Vorlage „Managed Care“. Der wichtigste Ablehnungsgrund gemäss VOX-Analyse war wiederum die Sorge um die freie Wahl des Arztes oder des Spitals. Hinzu kam die Begründung, die Macht der Krankenkassen würde zu gross werden. Dabei würde gerade die Aufhebung des Vertragszwangs die Macht der Krankenversicherer durch den Wettbewerb im freien Markt begrenzen. 

Unternehmenssteuern: Paradoxe Folgen der direkten Volksrechte 
„Nein zu undurchsichtigen Steuertricks. Nein zu neuen Milliardenlöchern. Nein zum erneuten Bschiss an der Bevölkerung. Ein paar Konzerne machen mit diesen Steuertricks Milliarden.“ Diese vier Hauptargumente für die Volkabstimmung vom 12. Februar 2017 brachte das linke Referendumskomitee gegen die Unternehmenssteuerreform III (USTR III) vor. Und mit diesen emotional aufgeladenen Schlagworten erreichten die Referendums-Initianten ihr Ziel: die mehrheitlich positive Einstellung zur Vorlage gemäss SRG-Umfragen wich einer deutlichen Ablehnung. 

Die VOTO-Nachbefragung bestätigte eine Überforderung des Stimmvolks: drei Viertel der Befragten sagten, die Vorlage sei schwierig zu verstehen gewesen. Der überforderte Stimmbürger wird immer mehr zum Normalfall. Nach der Abstimmungsniederlage wurde unter Zeitdruck das Kombipaket mit der AHV-Finanzierung nach linkem Gusto durchgeboxt, um die Unternehmenssteuervorlage referendumssicher zu machen. Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass die direkten Volksrechte die paradoxe Auswirkung haben, dass sie mit einem solchen Doppelpaket praktisch neutralisiert werden. Wie soll ein Referendum aussehen, wenn eine klare Willensäusserung zu den einzelnen Paketteilen gar nicht möglich ist?

Das Volksnein gegen die Abschaffung der Emissionsabgabe vom Februar 2022 ist nur das jüngste Beispiel für die Wirkung der direkten Volksrechte auf die Mobilisierungskraft linker Anliegen gegen volkswirtschaftlich sinnvolle Vorlagen.

Übergrosser staatlicher Fussabdruck 
Schweizerische Liberalisierungen und Privatisierungen sind auf halbem Weg stecken geblieben, immer unter dem Druck linker Interessen. Die staatliche Post hat immer noch ein Briefmonopol, und gegen die Privatisierung der Postfinance liegen schon Referendumsdrohungen in der Luft. An der Swisscom hält der Bund eine gesetzlich vorgeschriebene Mehrheit. Die Kanäle der öffentlich-rechtlichen SRG dominieren die elektronischen Medien und werden durch eine steuerähnliche Zwangsabgabe finanziert. Kantonalbanken und Stromkonzerne sind ganz oder überwiegend in staatlichem Eigentum. Economiesuisse hat in einer grossen Studie nachgewiesen, dass über die Hälfte der Preise in der Schweiz keine freien Marktpreise sind.

Die grosse Angst vor der institutionellen Frage 
Das Wirtschaftswunder Schweiz der vergangenen 50 bis 100 Jahre ist keine Garantie, dass unsere Institutionen in ihrer heutigen Gestalt und Anwendung auch in Zukunft eine erfolgreiche Entwicklung ermöglichen. So antwortete SECO-Chefökonom Eric Scheidegger in einem Interview mit der NZZ am Sonntag im August 2017 auf die Frage, was geschehe, wenn in Sachen Reformen nichts passiere: «Es droht eine schleichende Erosion des Wohlstandes. Schon heute ist die Produktivität unserer Wirtschaft im internationalen Vergleich eher schwach. Ohne Reformen verschenken wir Wirtschaftswachstum, das in der Schweiz eher bei 2 Prozent liegen könnte statt wie zuletzt bei 1,3 Prozent.» 

Wir profitieren bis heute von Pionierleistungen aus früheren Zeiten, als die Schweiz in Form oder Praxis noch eine mehrheitlich repräsentative Demokratie war und die direkten Volksrechte keine grosse Rolle spielten. Die Entwicklung zu einem immer grösseren Gewicht der direkten Volksrechte und zu einer schleichenden Abwertung des Parlaments ist jüngeren Datums. Die Schwierigkeiten, innerhalb nützlicher Frist zu volkswirtschaftlich vernünftigen Lösungen zu gelangen, haben fast immer mit den Volksrechten zu tun. 

Die Frage, ob es nicht auch ein Zuviel an direkter Demokratie geben könnte, muss erlaubt sein. Angeblich hat die Schweiz bisher mehr Volksabstimmungen durchgeführt als die ganze übrige Welt zusammen. Mit den neuen Online-Kanälen geht der Trend eher hin zu noch mehr Direktpartizipation. Der Glaube, dass mehr direkte Demokratie auch in einem Land, in dem ein Bürger jährlich über zehn Vorlagen auf Bundesebene und zig weitere auf kantonaler und kommunaler Ebene abstimmen soll, strikt besser ist, muss man als politischen Extremismus interpretieren.

Was für Auswege gibt es? Jenseits von auf der Hand liegenden aber politisch unbeliebten Massnahmen wie der Erhöhung der Unterschriftenzahlen (und ihrer Festlegung in Prozent der Anzahl Stimmberechtigten) oder der Kürzung der Sammelfristen wäre es zum Beispiel vorstellbar, dass Bundesvorlagen, die klare Parlamentsmehrheiten gewonnen haben, nicht mehr durch ein einfaches Mehr der Stimmbürger gekippt werden können, sondern dass gewisse Quoren oder qualifizierte Mehrheiten gefordert werden. Oder man könnte sich überlegen, bei Vorlagen, die ohne grossen Schaden reversibel sind, Referenden die aufschiebende Wirkung zu entziehen. So könnte die Bevölkerung mit einer Veränderung erst mal Erfahrungen mit der Neuerung sammeln.

Doris Leuthard canceln?

Zurück zu energie- und klimapolitischer Vernunft

Am 21. Mai 2017 nahm das Stimmvolk das unter der damaligen Energieministerin Doris Leuthard gezimmerte Energiegesetz mit 58.2 Prozent der Stimmen an. Im Anhang zum Gesetz findet sich das Verbot zum Bau von neuen Kernkraftwerken. Da die SVP als einzige Partei das Referendum gegen das Gesetz unterstützt hatte, kam es zum Showdown „alle gegen die SVP“ – eine Konstellation, die nicht wenige Leute gerne dazu benützen, der Blocher-Partei eins auszuwischen, ohne sich jeweils gross um die konkreten Sachverhalte zu kümmern.

Kurzer Weg in die energie- und klimapolitische Sackgasse
Das Energiegesetz trat am 1. Januar 2018 in Kraft. Es enthält das erste Massnahmenpaket der „Energiestrategie 2050“ (ES2050). Betroffen ist mit der Elektrifizierung der Mobilität und der energetischen Gebäudeversorgung vor allem der Stromsektor. Der in Aussicht gestellte Erfolg der ES2050 gründete auf vier Annahmen: Erstens auf einem massiven Ausbau von Solar- und Windstromanlagen sowie von Wasserkraft; zweitens auf Energieeinsparungen durch Effizienzsteigerungen; drittens auf Stromimporten aufgrund eines Stromabkommens mit der EU und viertens auf technologischen Quantensprüngen, insbesondere in der Speichertechnologie, um wegfallende Bandenergie aus KKW durch volatilen Strom aus Solar- und Windanlagen zu ersetzen.

Für das Gelingen der Energiewende müssten alle vier der oben aufgeführten wackeligen Annahmen erfüllt werden. Es sind kumulative Bedingungen, was die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns massiv erhöht. In allen vier Bereichen gibt es enorme Ziellücken. Und so stehen wir heute mit abgesägten Hosen da. Bezeichnend dafür: unter dem Druck der selbstverursachten Umstände mit möglichen Stromunterbrüchen in wenigen Jahren ist plötzlich von unpopulären Gaskraftwerken die Rede. Trotzdem rückte alt Bundesrätin Leuthard in ihren jüngsten Medienauftritten keinen Millimeter von ihren früheren Positionen ab, etwa mit der Behauptung, Kernenergie sei eine Technologie von gestern. Leute, die derart apodiktisch daherreden, werden langsam einsam in einer Zeit, in der die Kernenergie weltweit eine Renaissance erlebt.

Die grüne Lebenslüge – Leitmotiv der Schweizer Energeiepolitik
Schon Jahre vor dem Referendum über das Energiegesetz hatte der Wissenschaftsjournalist Andreas Hirstein in der NZZ am Sonntag vom 14. Dezember 2014 von der grossen Lebenslüge der grünen Bewegung geschrieben, die zum Leitmotiv der offiziellen Schweizer Energiepolitik geworden sei. Alles, was wir politisch wollten, sei auch machbar: Atomausstieg plus Reduktion der CO2-Emissionen plus neue Arbeitsplätze. „In der Energiepolitik genügt es nicht, nur zu wollen. Es gibt technische und wirtschaftliche Grenzen, die kein noch so guter Wille aus dem Weg räumt. Sie zu ignorieren, wird auch in der Schweiz noch teuer werden.“

Nun sind wir so weit, doch fehlt bei den Verantwortlichen der Mut zum Eingeständnis, dass die Realität luftigen Erwartungen nicht gefolgt ist. Es gibt neben der Schweiz nur wenige Länder, in denen die moralisch aufgeladene Verpflichtung zur CO2-Reduktion im Ziel-Trilemma der Energie- und Klimapolitik oberste Priorität hat. In fast allen wichtigen Staaten hat Versorgungssicherheit Vorrang. Bei uns braucht es zuerst eine drohende Notlage, bis die Prioritäten zwangsweise neu geordnet werden.

Neuordnung der Prioritäten im Ziel-Trilemma
Am Paul-Scherrer-Institut (PSI) wurde unter der Leitung von Dr. Stefan Hirschberg eine Methode zur Nachhaltigkeitsbewertung der verschiedenen Technologien der Stromproduktion entwickelt. Die Multi-Kriterien-Analyse genannte Methode hat zum Ziel, die objektiv messbaren wirtschaftlichen und umweltrelevanten Indikatoren mit subjektiven gesellschaftlichen Wertvorstellungen zu kombinieren und im Ziel-Trilemma Wirtschaft – Umwelt – Gesellschaft mehr Transparenz zu schaffen. Die Nachhaltigkeit der einzelnen Technologien hängt davon ab, welches Gewicht den Indikatoren gegeben wird.

Allerdings sind die drei Hauptkriterien nicht unabhängig voneinander. In den weichen Gesellschaftsindikatoren widerspiegelt sich eine verzerrte öffentliche Wahrnehmung von mess- und bewertbaren Indikatoren über Wirtschaftlichkeit und Umweltfaktoren. Setzt man auf eine möglichst breite gesellschaftliche Akzeptanz, erhalten Kernenergie und andere thermische Grosskraftwerke wenig Pluspunkte. Dagegen sind Wind- und Solarstrom in der Bevölkerung populär und kommen in der gesellschaftlichen Bewertung viel besser weg, als sie es aufgrund der tatsächlichen Kosten und Umweltlasten verdienen würden. Wenn die Leute über die wahren Kosten und Umweltbelastungen besser informiert wären, käme bei der gesellschaftlichen Akzeptanz eine andere Bewertung der verschiedenen Technologien der Stromproduktion heraus.

Frau Leuthards jüngste Auftritte trugen zur Aufklärung der Bevölkerung nichts bei. Der Titel „Doris Leuthard canceln!“ ist nicht ganz ernst gemeint, aber weitere Auftritte einer Uneinsichtigen könnte man uns ersparen.

Frau Zünd kommuniziert, solange es ihr passt

Marianne Zünd ist Leiterin Abteilung Medien und Politik und Mitglied der Geschäftsleitung im Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK, Bundesamt für Energie BFE.

Mit Frau Zünd zettelte ich jüngst einen persönlichen kleinen Mailaustausch an, der so ablief:

Sehr geehrte Frau Zünd

Könnten Sie die folgende Fragen an jemanden weiterleiten, der sie beantworten würde? Besten Dank.

Ich habe für mein Reihenhaus die Wirtschaftlichkeit einer PV-Anlage mit Batterie angeschaut. Rein wirtschaftlich rechnet sich die Investition aufgrund heutiger Strompreise und meines Verbrauchs nicht. Das ist einigermassen erstaunlich.  Wieso sollte ich diese Investition tätigen, wenn sie sich nicht bezahlt macht? Ich vermute, die Preise für die Installation einer solchen Anlage seien in der Schweiz – wie halt so üblich – exorbitant hoch, mit typischen Schweizer Margen.

Und jetzt meine zentrale Frage: Ist es nicht so, dass die staatlichen Fördermittel, die private PV-Investoren erhalten, ökonomisch gesehen, gar nicht beim Käufer verbleiben, sondern angesichts der spezifischen Preiselastizitäten überwiegend bei den Anbietern landen, weil diese dann einfach ihre Preise entsprechend erhöhen können?

Freundliche Grüsse
Hans Rentsch

Frau Zünd (lic.phil.nat.) antwortete freundlicherweise umgehend am Tag danach gleich selbst, und zwar wie folgt:

Sehr geehrter Herr Rentsch

Bei kleinen Anlagen gibt es tatsächlich Mitnahmeeffekte. Demnächst werden wir dazu übrigens eine Evaluation publizieren. Den Mitnahmeeffekten wirkt der Bund aber entgegen, indem die Vergütungssätze regelmässig abgesenkt werden und dadurch auch die Preise sinken sollten. In den letzten Jahren ist das recht gut gelungen. Siehe Seite 27 in diesem Bericht Photovoltaikmarkt: Preisbeobachtungsstudie 2020.

Dass sich die Anlagen lohnen und das aktuelle Förderinstrumentarium funktioniert, zeigt der boomende Markt und die Tatsache, dass Ende 2021 in nur 3 Ländern Europas (Deutschland, Niederlande, Belgien) pro Kopf mehr PV installiert wurde als in der Schweiz.

Freundliche Grüsse
Marianne Zünd

Dies bewog mich zu folgender Reaktion:

Sehr geehrte Frau Zünd

Es geht mir nicht um Mitnahmeeffekte, sondern um die Frage, bei wem Fördermittel für eine PV-Investition letztlich landen – bei den Käufern oder letztlich bei den Anbietern, da diese gerade in einem Nachfrageboom ihre Preise locker erhöhen können.  Was nach Anreiz für Käufer angepriesen wird, wäre dann eine unbeabsichtigte „Förderung“ der Installateure.

Es geht mir nicht um Mitnahmeeffekte, sondern um die Frage, bei wem Fördermittel für eine PV-Investition letztlich landen – bei den Käufern oder letztlich bei den Anbietern, da diese gerade in einem Nachfrageboom ihre Preise locker erhöhen können.  Was nach Anreiz für Käufer angepriesen wird, wäre dann eine unbeabsichtigte „Förderung“ der Installateure.

Freundliche Grüsse
Hans Rentsch

Seitdem herrscht Funkstille.