Der vom Mainstream beklagte Rechtsruck ist eine Folge eines Linksrutsches
Bildquelle: Nebelspalter/NBC
Will man die Strömungen der links-progressiven Zeitgeistpolitik verständlicher formulieren als es die hoch gebildeten sozialphiliosophischen Autoren und Experten gewöhnlich tun, kann man sich an das Bild vom Wirken quasi-physikalischer Mechanismen in der Politik halten. Wo Kräfte wirken, gibt es Gegenkräfte.
Wenn die Führungsverantwortlichen an den Hebeln der Macht, so wie in den letzten Jahren, eine schädliche Politik betreiben, und die Leute drücken ihren Unmut in Wahlen aus, dann ist das für die tonangebenden Eliten in den progressiven Institutionen ein Rechtsruck. Dabei haben es immer mehr Menschen einfach satt, in Sachen Klima-, Energie- und Migrationspolitik sowie im richtigen Sprachgebrauch von einem akademisch gebildeten „Moraladel“ (Wolfgang Ulrich in einem NZZ-Interview) belehrt und gegängelt zu werden. Dessen Einfluss hatte in den Institutionen, welche die öffentliche Meinung und die Politik prägen, in jüngerer Zeit stark zugenommen. Doch die Physik der Politik zeigt sich jetzt: Das Pendel schlägt heute, nach den bekannten „woken“ Übertreibungen, wieder zurück.
Man sehe sich nur mal an, was „The Liberal Patriot“, ein den Demokraten nahestehendes US-Online-Medium, der Partei nach der krachenden Wahlniederlage in Anlehnung an das britische „Blue Labour“-Programm für Themen empfiehlt:
Wirtschaftliche Entwicklung in allen Regionen plus Familiensicherheit für alle
Abbau konzentrierter Wirtschaftsmacht
Starke lokale Gemeinschaften und Arbeitsmärkte
Sichere Grenzen
Recht und Ordnung
Traditionelle Werte
Liebe zum Vaterland
Man wähnt sich im falschen Film! Aber wer schon länger beim politischen Theater als interessierter Zuschauer dabei ist, weiss natürlich, dass es keinen Rechtsruck gibt. Vielmehr sind es die macht- und meinungsherrschenden Kreise, die Schritt für Schritt nach links gerutscht sind. Da Hochschulen zu Hotspots des progressiven Geistes und zu Speerspitzen der Wokeness geworden sind, ist die zunehmende Akademisierung der Gesellschaft und der meinunungsmächtigen Institutionen kritisch zu sehen. Ohne die Entfernung von traditionellen Positionen und ohne die damit verbundene übertriebene Moralisierung der Politik durch die progressiven Eliten hätte Donald Trump niemals zum zweiten Mal amerikanischer Präsident werden können.
Der Rechtsruck ist ein Phänomen aus links-progressiver Perspektive. Symbolisch dafür stehen die „Brandmauern gegen rechts“. Es ist das sture Beharren auf genau dieser Perspektive, das die viel beklagte Spaltung der westlichen Gesellschaften aufrecht erhält. Das sehen die Eliten selbst natürlich nicht so – mit Ausnahmen. Der afro-amerikanische, zum Islam (!) konvertierte Soziologe Musa al-Gharbi, eine der interessantesten Figuren der akademischen Gegenbewegung gegen den abklingenden Wokewahn an den amerikanischen Hochschulen, entwickelt in seinem neuen Buch „We Have Never Been Woke“ seine These von der Verantwortung der Eliten für das gesellschaftliche Auseinanderdriften. Mit ihrem demonstrativen Einstehen für die angeblichen Interessen von benachteiligten Minderheiten zementierten die Eliten ihre privilegierte Stellung, in vielen Fällen ohne sich dessen bewusst zu werden.
Nach Musa al Gharbi scheinen die Eliten für die tatsächlichen Interessen, Ambitionen und Sorgen der gewöhnlichen Leute unempfindlich zu sein. In einem YouTube-Gespräch schildert er sein Erstaunen über die zum Teil buchstäblich larmoyanten Demonstationen und Vorlesungsstreiks von Studenten an „seiner“ Columbia University sowie an anderen Hochschulen nach dem Wahlsieg von Trump im Jahr 2016. Die Studenten aus den privilegierten sozialen Schichten beklagten nicht etwa ihr eigenes Schicksal, das von der Wahl unbehelligt blieb. Vielmehr litten, lärmten und weinten sie offenbar für die nach ihrer Meinung unter einer Trump-Präsidentschaft leidenden kleinen Leute. Von denen gab es aber in unmittelbarer Nähe zu den Demonstrierenden auf dem Campus eine ganze Menge, nämlich Gärtner, Reinigungspersonal oder Handwerker aller Art. Diese waren in den Tagen nach Trumps Wahlsieg nicht etwa mit Demonstrationen oder Streiks beschäftigt, sondern sie erschienen ganz normal zur Arbeit. Dafür hatte der junge „Moraladel“, den Kontrast zu ihrem Dasein vor Augen, jedoch kein Gespür.