„Post-truth“ drüben und hier

„In a ‚post-truth‘ world, facts are less influential than emotion and belief.“
Michael V. Hayden, C.I.A.-Direktor 2006-2009

„En politique, ce qui est cru devient plus important que ce qui est vrai.“
Charles-Maurice de Talleyrand (1754-1838), französischer Diplomat und Staatsmann

Das erste Zitat von ex-C.I.A.-Direktor Hayden stammt aus der New York Times vom 2. Mai 2018. Hayden lässt sich dort in seinem Beitrag über das Phänomen „post-truth“ aus Trump’scher Quelle aus. Dafür nennt er mehrere Beispiele von glaubwürdig widerlegten Behauptungen des US-amerikanischen Präsidenten. Hayden meint, es sei dies eine neue oder gesteigerte Form der Irreführung des Publikums. Ich verstehe seine Kritik so: In dieser neuen Art der politischen Kommunikation – im Falle Trumps oft getwittert – spiele es nicht mehr eine grosse Rolle, ob eine Behauptung wahr sei oder nicht, selbst wenn sie leicht zu widerlegen sei. Die Hauptsache sei, dass man damit seine Anhängerschaft bediene und mobilisiert halte. Deren Bereitschaft, praktisch alles zu glauben, was aus der betreffenden Quelle stamme, sei fast unbegrenzt.

Das zweite Zitat oben hat eine grosse inhaltliche Ähnlichkeit mit dem ersten: Glauben ist in der Politik wichtiger als Wissen und Fakten. Schaut man auf die Lebensdaten des Autors des zweiten Zitats, scheint es „post-truth“ (oder „fake news“) schon vor mehr als 200 Jahren gegeben zu haben. Und wer meint, in modernen Demokratien habe erst Trump „post-truth“ erfunden und eingeführt, irrt. Trumps „post-truth“ hat allerdings einen grossen Vorteil gegenüber anderen Mustern von „post-truth“: Seine Behauptungen sind leicht falsifizierbar – darum kümmern sich auch auffallend viele Aufpasser und Dementierer – und deshalb kaum je von grosser Wirkung.

Viel problematischer sind verdeckte Formen von „post-truth“ oder „fake news“. Was viele überraschen dürfte: Wir haben auch in der Musterdemokratie Schweiz Beispiele der Irreführung der öffentlichen Meinung durch „fake information“ von höchsten staatlichen Stellen. Hier ist die Versuchung für die Regierungsmitglieder, das Publikum mit falschen oder unterschlagenen  Informationen zu manipulieren, dann besonders gross, wenn Volksabstimmungen für die eigenen Prestigeprojekte gewonnen werden müssen. Zwei Beispiel der jüngsten Zeit sind das Energiegesetz von Bundesrätin Doris Leuthard zum Auftakt ihrer „Energiewende“ sowie die „Altersvorsorge 2020“ von Bundesrat Alain Berset. Betrachten wir hier das Energiegesetz.

In den Erläuterungen des Bundesrats zur Abstimmung wird gesagt, mit dem Gesetz „können die Abhängigkeit vom Ausland reduziert und das Klima geschont werden.“ Der Bundesrat warnt, ein Nein zur Vorlage würde „zu mehr Stromimporten aus der EU und damit zu einer erhöhten Abhängigkeit vom Ausland führen.“ Solche Propaganda trifft im Publikum auf viel Sympathie, ist doch aus Umfragen wie der „Energie-Enquête 2016“ bekannt, dass Stromimporte die unpopulärste Variante sind, in Zukunft die Versorgungssicherheit zu gewährleisten – sogar unpopulärer als die von den Meinungsmachern des Mainstreams verteufelte Kernenergie.

Doch wie verhält es sich nun mit der Auslandsabhängigkeit und speziell den Stromimporten aus der EU? Was Gegner des Energiegesetzes schon vor der Abstimmung gesagt hatten, wurde in einer vom Bundesamt für Energie BFE in Auftrag gegebenen Studie der ETHZ und der Universität Basel zur Versorgungssicherheit jüngst schwarz auf weiss bestätigt, wenn auch fast wie „in Watte verpackt“ formuliert:

„Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass auch in Zukunft die Versorgungssicherheit der Schweiz meistens als nicht kritisch zu betrachten ist, solange die Schweiz im europäischen Strommarkt integriert bleibt.“ Schon das Wörtchen „meistens“ ist bei der Stromversorgung in einer modernen Volkswirtschaft nicht sonderlich beruhigend. Noch mehr gibt die Bedingung der Integration in den europäischen Strommarkt zu denken, dies aus folgenden Gründen:

  • Erstens ist damit das bundesrätliche Propagandaargument der reduzierten Auslandsabhängigkeit bereits stark relativiert Es wird in der Studie klar gemacht, dass die ganze Energiewende, die mit dem Energiegesetz eingeleitet werden sollte, auf eine Stromimportstrategie hinausläuft.
  • Zweitens ist mit der EU noch kein Stromabkommen ausgehandelt, weil zwei noch zu überspringende Hürden für die schweizerische direkte Demokratie sehr hoch sind: Einerseits muss der schweizerische Strommarkt vollständig liberalisiert werden, was referendumsgefährdet ist. Anderseits ist mit grosser Wahrscheinlichkeit ein institutionelles Rahmenabkommen zu schlucken, weil die EU ein solches als Vorbedingung für ein Stromabkommen sieht. Auch hier bestehen grosse Referendumsrisiken.
  • Drittens ist selbst mit einem Stromabkommen mit der EU noch nicht gewährleistet, dass nach Abschaltung aller KKW in Deutschland und der teilweisen Stilllegung in Frankreich noch genügend Strom aus dem EU-Stromnetz verfügbar sein wird, um jederzeit die benötigten Importmengen beziehen zu können.

All dies war schon vor der Abstimmung über das Energiegesetz im Mai 2017 bekannt. Den Leuten hat man von offizieller Seite mithilfe unkritischer Medien quasi das Gegenteil suggeriert und Vieles unterschlagen, was für eine fundierte Meinungsbildung der Stimmbürger relevant gewesen wäre. Mit anderen Worten: Wir sind in der Schweiz schon längst im „post-truth“-Zeitalter angekommen. Nur macht sich unsere verdeckte Form von „fake news“ à la Energiegesetz-Propaganda den Heiligenschein der deliberativen Musterdemokratie mit ihrem „mündigen Stimmvolk“ zunutze.

Dieser Text erschien in der Rubrik „Tribüne“ der NZZ vom 1. Juni 2018.