Hie und da erscheinen in den Medien Artikel, die eine besonders grosse Aufmerksamkeit verdienen würden. In der NZZ vom 27. Januar 2016 berichtete die Journalistin Virginia Nolan unter dem Titel „Flüchtlinge sind nicht nur Opfer“ über die Erfahrungen des Krisenmanagers Kilian Kleinschmidt im weltweit drittgrössten Flüchtlingscamp Zaatari in Jordanien. Dort lebten zur Zeit des NZZ-Berichts 80’000 Flüchtlinge aus Syrien.
Die übliche Flüchtlingshilfe durch Regierungen und NGO, egal wo sie stattfindet, ist weitgehend Planwirtschaft. Die Akteure von Regierungen und der verschiedenen Hilfswerke leiten ihre Rolle vom Menschenbild des „typischen Flüchtlings“ ab. Die Opfer werden in Lagern als hilfsbedürftige Masse behandelt, wobei die Helfer aus dem Norden mit ihrem (vermeintlich) überlegenen Know-how nach dem „Gemeinschaftsprinzip“ (Kleinschmidt) für eine gerechte Ordnung sorgen müssen.
Kleinschmidt machte irgendwann als praktisch veranlagter Mensch die Erfahrung, dass dieser konventionelle Ansatz, typisch für die latent anti-kapitalistische Helferindustrie, zum Scheitern verurteilt war, weil er die unterschiedlichen individuellen Bedürfnisse der Lagerbewohner missachtet. So begann Kleinschmidt, die Flüchtlinge gewähren zu lassen, wenn sie sich im Lager nach ihren eigenen Vorstellungen selber organisieren wollten. Die Ergebnisse sind für jeden, der beim Wort „Privatisierung“ nicht gleich die Flucht ergreift, äusserst aufschlussreich, was die Fähigkeit menschlicher Gesellschaften zur Selbstorganisation betrifft.
- Die Lagerbewohner verschoben die planwirtschaftlich bezüglich Fläche und Abständen identisch platzierten Wohncontainer nach ihren Bedürfnissen und bauten sie mit anderen wieder zusammen. Aus den Gemeinschaftstoiletten machten sie eigene Nischen, und das Gas aus den Gemeinschaftsküchen teilten sie unter sich auf, statt zusammen zu kochen.
- Die Lagerbewohner zapften aus der allgemeinen Beleuchtung Strom an und begannen, damit Handel zu betreiben. Was im normalen Helferdenken als Diebstahl gilt, nannten die Flüchtlinge Privatisierung. Ein knappes Gut erhielt einen Preis. Damit die Stromversorgung nicht zusammenbrach, organisierten die Lagerinsassen eine Elektrizitätsgesellschaft, die von rund 250 Elektrikern betreut wurde.
- Das Material im Lager wurde zum Baukasten. Die Unterkünfte nahmen immer mehr ein individuelles Gesicht an. Aus abgebauten Containern entstanden mit der Zeit Supermärkte. Unter Kleinschmidt wurden die Lebensmittel nicht mehr gratis verteilt, sondern die Leute bezahlten dafür mit Plasticgeldkarten im Supermarkt. Ende 2014, als Kleinschmidt das Lager verliess, waren 3’000 Geschäfte in Betrieb, die zehn Millionen Euro Umsatz machten.
Kleinschmidt kam zur Einsicht, die Flüchtlinge sollten nicht alles geschenkt bekommen, sondern für Leistungen, die sie nutzten, bezahlen. „Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen und dafür zu bezahlen, gehört zur Menschenwürde“, so der Pragmatiker Kleinschmidt. Leider fehlt für diese Haltung in der dominierenden Helferindustrie des Nordens die Einsicht und vor allem auch die Bereitschaft, ideologischen Ballast abzuwerfen.