Ignoranz ist eine freie Wahl

Zu den aktuellen „Corona-Umfragen“

Eine Umfrage des Berner Instituts GfS für einen grossen Schweizer Verlag mit mehreren Massenmedien ergab die folgenden wenig überraschenden Ergebnisse (Quelle NZZ online):

  • 94 Prozent der Befragten wollen mehr Eigenversorgung mit medizinischen Produkten.
  • 90 Prozent sind der Meinung, dass die Schweiz „die Nahrungsmittelversorgung autonom garantieren muss“ (zitiert nach NZZ online).
  • Fast 80 Prozent wollen die Globalisierung bremsen.

Was sind solche Umfragen wert, die von einem durchschnittlichen Wissensstand ausgehen, der näherungsweise wohl am besten mit Ignoranz bezeichnet werden könnte? Das ist keine elitär herablassende Kritik, sondern eine empirisch leicht überprüfbare Feststellung. Da man nicht alles wissen kann, hat jeder Mensch weite Felder des Nichtwissens. Auf gewissen Gebieten nichtwissend zu sein, ist die freie Wahl jedes Einzelnen.

Das Problem der Ignoranz hat aber in der Politik besondere Bedeutung. In der Demokratie, besonders in unserer halbdirekten, exisistiert eine Art moralische Partizipationspflicht. Und hier zählt jede Stimme gleich viel, unabhängig von der Wissens- und Urteilskompetenz. Genau so ist es auch in Umfragen. Nur wenige geben zu, zu einer gestellten Frage nichts oder zu wenig zu wissen, um eine Antwort geben zu können. Oft ersetzen Blitzurteile, die auf gerade leicht verfügbaren Eindrücken beruhen, oder gespeicherte, sofort abrufbare Vorurteile das fehlende Wissen.

Am vernünftigsten erscheint mir noch die Forderung nach mehr Eigenversorgung mit medizinischen Produkten, obwohl der Begriff „medizinische Produkte“ natürlich viel zu pauschal ist, um daraus etwas Präzises abzuleiten. Die sinnvollste Auslegung wäre wohl, „medizinische Produkte“ auf die Pandemie-Vorsorge einzuengen. Damit gelangen wir aber wohl oder übel zur grössten Unterlassung in der Vorsorgepolitik der Vergangenheit. Obwohl mehrere eigene und fremde Risikostudien die Pandemiegefahr klar und deutlich als das grösste Risiko für unsere Gesellschaft ermittelt hatten, waren wir in der Schweiz – trotz Pandemieplan „auf Papier“ – auf die Corona-Attacke schlecht vorbereitet. Dies, obwohl die Art der Vorsorge gut planbar war und auch genügend Zeit zur Verfügung gestanden hätte.

Begrifflich ebenfalls diffus ist die „Globalisierung“, die eine grosse Mehrheit der Befragten bremsen will. Was verstanden die Befragten unter „Globalisierung“? Und wie sollte das Bremsen denn vor sich gehen? Es sind ja nicht Staaten, die eine global vernetzte Wirtschaft aufgebaut haben, sondern Unternehmen mit neuen Geschäftsmodellen, permanenter Innovation und fortschrittlicher Technologie. Die Staaten und internationale Organisationen haben dazu gewisse Rahmenbedingungen geschaffen, die den freien Austausch von Gütern und Dienstleistungen zum Wohle aller ermöglichen sollten. Genau dies ist auch geschehen, und es hat diversen einst armen Ländern ermöglicht, ihren Wohlstand beträchtlich zu steigern und x Millionen Menschen aus der grössten Armut zu befreien. Selbstverständlich lässt sich die Globalisierung nur mittels staatlicher protektionistischer Eingriffe bremsen, und eine solche Politik ist nicht ohne Kosten zu haben, die direkt die Kaufkraft der Bevölkerung schmälern. Vielleicht sollte man den Leuten auch mal erklären, warum wir seit x Jahren keine Teuerung haben, obwohl die Preise der eher wettbewerbsschwachen Branchen der Binnenwirtschaft (inklusive staatliche und administrierte Preise) dauernd steigen!

Dem Mehrheitswunsch, die Schweiz möge für die Nahrungsmittelversorgung möglichst autonom werden, kann leider nicht entsprochen werden, denn es handelt sich schlicht um eine der hartnäckigsten Illusionen, die in der Bevölkerung kursieren. Ich hatte es bereits in einem früheren Blog-Eintrag so erklärt:
Da die Schweiz, in Kalorien ausgedrückt, rund 45 Prozent der Nahrungsmittel einführen muss, weil die beschränkte landwirtschaftliche Nutzfläche der Schweiz für eine wachsende Bevölkerung trotz intensivster Bewirtschaftung gar nicht mehr hergibt, ist jeder Gedanke an mehr agrarische Autonomie ein Hirngespinst. Entscheidend für die sichere Versorgung der schweizerischen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln im Krisenfall sind eine nach Herkunft diversifizierte Beschaffung sowie eine hohe Zahlungsfähigkeit, die nur eine erfolgreiche Integration in die internationalen Waren- und Dienstleistungsmärkte garantieren kann. Aus dieser Risikoperspektive müssen auch Projekte von Freihandelsabkommen mit typischen Agrarexportländern (Mercosur, USA) beurteilt werden.

Womit wir wieder bei der Globalisierung wären. Nun ja, alles hängt halt ein wenig zusammen in unserer vernetzten Welt!

Mein Fazit:
1. Solange man den Leuten in Umfragen solche Fragen stellt, ohne auch auf wahrscheinliche nachteilige Folgen gewisser Politiken aufmerksam zu machen, sind die Umfrageergebnisse nicht viel wert. Denn politische Massnahmen zur Minderung eines bestimmten Risikos erhöhen in der Regel andere Risiken.
2. In einer deliberativen Demokratie hat die politische Elite eine Pflicht, gegen Fehlmeinungen in der Bevölkerung aufklärende Informationen zu liefern. Mustergültig tat dies Christian Hofer, der Direktor des Bundesamts für Landwirtschaft (BLW), jüngst in einem Interview mit der NZZ, als er sagte: „Wenn die Landwirtschaft so intensiv weiterproduziert, ist die Versorgungssicherheit gefährdet.“ Schön, dass diese Botschaft aus den Avenir Suisse-Publikationen „Der befreite Bauer“ und „Agrarpolitische Mythen“ endlich im BLW angekommen ist. Im Parlament stösst diese Botschaft weiterhin auf taube Ohren.
3. Das demokratische Prinzip „eine Person – eine Stimme“ sollte uns nicht blind machen für die Tatsache, dass es in Bezug auf Sachprobleme richtige und falsche Meinungen bzw. nützliche und schädliche Politiken gibt.

Falsche und echte Profiteure der Corona-Krise

Die Bauern
Schon kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie in der Schweiz las man in der SVP-nahen Zeitschrift „Die Weltwoche“, wenn die Grenzen geschlossen würden und jedes Land nur noch für sich selber schaue, sollten wir froh sein um unsere Bauern, die unsere Ernährung sicherstellen. Was intuitiv einleuchten mag, ist trotzdem falsch. Von Februar bis April wächst hier nicht viel auf den Feldern. Und die Lager aus den Ernten des Vorjahres dürften kaum länger ausreichen. Das ist aber gar nicht der wesentliche Punkt. In den Läden des Detailhandels kann jedermann leicht die Herkunft all der frischen Nahrungsmittel (Gemüse, Früchte) überprüfen. Vieles kommt wie seit eh und je aus dem südeuropäischen Ausland oder aus Übersee. Die Schiffs-, Bahn-, Lastwagen- und Lufttransporte funktionieren offenbar immer noch genügend. Das Hauptproblem ist in südeuropäischen Ländern nun zunehmend das Fehlen der Hunderttausende von ausländischen billigen Erntehelfern, die sich, etwa in Italien, zum Teil schwarz im Land aufhalten und arbeiten, jetzt aber „immobilisiert“ sind.

Solche ausländischen Probleme ändern aber rein gar nichts an der schweizerischen Grundsituation. Da die Schweiz, in Kalorien ausgedrückt, rund 45 Prozent der Nahrungsmittel einführen muss, weil die beschränkte landwirtschaftliche Nutzfläche der Schweiz für eine wachsende Bevölkerung trotz intensivster Bewirtschaftung gar nicht mehr hergibt, ist jeder Gedanke an mehr agrarische Autonomie ein Hirngespinst. Entscheidend für die sichere Versorgung der schweizerischen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln im Krisenfall sind eine nach Herkunft diversifizierte Beschaffung sowie eine hohe Zahlungsfähigkeit, die nur eine erfolgreiche Integration in die internationalen Waren- und Dienstleistungsmärkte garantieren kann. Aus dieser Risikoperspektive müssen auch Projekte von Freihandelsabkommen mit typischen Agrarexportländern (Mercosur, USA) beurteilt werden.

Die SRG
Der Bundesrat hatte vor dem Referendum vom Juni 2015 über das umstrittene Radio- und Fernsehgesetz RTVG aus Sorge vor einer Niederlage für die SRG einen Plafond von 1,2 Mrd. Franken pro Jahr aus der auf Firmen ausgedehnten Empfangsgebühr (Haushalts- bzw. Unternehmensabgabe) festgelegt. Unter dem Eindruck des Zittersieges mit dem Zufallsergebnis mit 50,08% JA-Stimmen beschloss der Bundesrat 2017, dass überschüssiges Geld zu einer Senkung der Empfangsgebühren führen müsse.

Doch schon Anfang dieses Jahres, vor Ausbruch der Corona-Pandemie, forderten Vertreter von Mitte-Links-Parteien wieder mehr Geld für die SRG, weil die Werbeeinnahmen rückläufig seien. Die SRG sei sehr wichtig für die Medienvielfalt und den Service Public. Weil mit der Haushalts- und Unternehmensabgabe mehr Geld als erwartet eingenommen werde, könne man den Plafond gut anheben. Nun hat der Bundesrat in einer Aktion der Neuverteilung von „überschüssigen“ Mitteln aus den Abgaben der Haushalte und der Unternehmen kurzerhand beschlossen, der SRG 50 Millionen zusätzlich zukommen zu lassen. Er benützt offenbar eine Corona-getriebene SRG-Sympathiewelle in der Bevölkerung, um frühere Versprechen einfach zu brechen.

Der Bundesrat und unsere SRG-freundlichen Volksvertreter müssten einmal die VOTO-Analyse zur No-Billag-Initiative lesen. Rund die Hälfte der Initiativ-Gegner (!) gab an, dass die SRG zu gross und zu teuer geworden sei und künftig ihr Angebot reduzieren solle. Doch ungeachtet dessen wird die Übermacht der SRG mit allen Mitteln verteidigt. Anderseits kann man sich dann mit staatlicher Förderung der privaten Medien in Szene setzen, die bekanntlich auch durch den Moloch SRG in Bedrängnis geraten ist.

Jetzt, da der Staat und die Politik unser Leben bestimmen, gebärden sich die SRF-Kanäle praktisch ausschliesslich als Sprachrohr der politischen Behörden. Die Bezeichnung „Staatsmedien“ war kaum je so berechtigt.

Die Forschung
In der wissenschaftlichen Forschung kann man dagegen auf einen positiven Effekt aus den Erfahrungen mit der Corona-Krise hoffen – auf die Entzauberung der „peer-review“-Forschung. Zwei Schwachstellen werden zu Recht immer wieder angeprangert. Wir haben erstens ein Insider-Outsider-Problem. „Peer-review“-Insider versuchen, kritische Forschung, die keinen Peer Review-Prozess durchlaufen hat, zu marginalisieren. Ausgeprägt ist dies in der Klimaforschung der Fall, wo die IPCC-nahen Forscher eine Art Kartell der „peer-review“-Community gegen kritische Kollegen bilden. Zweitens bietet der „peer review“-Prozess Gutachtern auch die Möglichkeit, Konkurrenten mit einem abwertenden Gutachten zu schaden.

Der hektische multidisziplinäre Forschungsaktivismus zur Bewältigung der Pandemie erlaubt unter dem grossen Druck, möglichst rasch Ergebnisse zu liefern, kein Vorgehen nach den etablierten Standards. Statt auf dem Umweg über „peer reviews“ wurden und werden Forschungsarbeiten in einem „open access“-Verfahren einfach ins Netz gestellt und so einer breit aufgestellten Kritik auch von (angeblichen) Nicht-Experten ausgesetzt. Und siehe da – es funktioniert! Man kann nur hoffen, dass diese positive Corona-Erfahrung in der wissenschaftlichen Forschung das „peer review“-Dogma generell aufweichen wird.

Mit den Waffen der Statistik?

Zu den Versuchen, eine optimale Anti-COVID19-Politik zu „berechnen“

Die Politik erwartet von den Experten, vor allem aus den Fachkreisen von Emidemiologie und Ökonomie, datengestützte Schätzungen über das optimale Vorgehen gegen die Pandemie. Es geht um das Abwägen zwischen den schädlichen Folgen der Corona-Seuche und den Opfern und Kosten des gesellschaftlichen Shutdowns.

Unsichere Annahmen – stark abweichende Ergebnisse
Wer sich in den letzten Wochen über Testergebnisse, Infektionsraten und Mortalität in verschiedenen Ländern zu informieren suchte, dürfte eher verwirrt als aufgeklärt sein. Einerseits liegt dies an der grossen Zahl von journalistisch aufbereiteten Berichten aus verschiedensten Quellen. Anderseits liest man von stark abweichenden Ergebnissen aus fundierten Studien mit modellierten Krankheitsverläufen. Der bekannte „Undercover Economist“ Tim Harford hat als regelmässiger Kolumnist in der Financial Times dazu interessantes Material geliefert, auf das ich mich nachstehend teilweise stütze.

Eine neue Studie der Universität Oxford gelangt zu fast unglaubhaft beruhigenden Ergebnissen, dies jedoch aufgrund sehr optimistischer Annahmen über den Verlauf von COVID19. Die Autoren nehmen an, dass die meisten Infektionen so mild verlaufen, dass sie behördlich nicht erfasst und vielleicht von den Erkrankten gar nicht bemerkt wurden. Die Annahme einer hohen Dunkelziffer bedeutet, dass ein Grossteil einer Bevölkerung nach einigen Woche bereits infiziert und inzwischen bereits wieder geheilt und wahrscheinlich gegen Corona-Viren immunisiert ist. Aufgrund dieser „Eisberg-Theorie“ kommt man statistisch auf eine sehr niedrige Mortalitätsrate, weil die Grundgesamtheit unter Einschluss einer hohen geschätzten Dunkelziffer sehr gross ist. Dies würde erlauben, rigorose Massnahmen gegen die Ausbreitung von COVID19 relativ rasch wieder aufzuheben.

Nun gibt es natürlich Studien, die bei weitem nicht so optimistische Annahmen treffen. Experten des Imperial College in London, die ebenfalls Krankheitsverläufe statistisch modellierten, warnten, dass es ohne aggressive politisch verordnete Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens in Grossbritannien eine halbe Million COVID19-Sterbefälle geben könnte.

Auf der Website „Marginal Revolution“ findet sich schliesslich ein Eintrag des US-amerikanischen Ökonomen Tyler Cowen, der die Schlussfolgerung einer Studie des American Enterprise Institute – AEI paper by Anna Scherbina – zitiert, ohne sich damit zu identifizieren. Geschätzt wird darin die optimale Länge einer strikten COVID19-Verhinderungspolitik aufgrund von drei unterschiedlichen Annahmen über die Infektionsrate. Die Ergebnisse für die USA sind eher ernüchternd, so dass man hoffen muss, die Realität werde die Studie widerlegen:

We investigate the optimal duration of the COVID-19 suppression policy. We find that absent extensive suppression measures, the economic cost of the virus will total over $9 trillion, which represents 43% of annual GDP. The optimal duration of the suppression policy crucially depends on the policy’s effectiveness in reducing the rate of the virus transmission. We use three different assumptions for the suppression policy effectiveness, measured by the R0 that it can achieve (R0 indicates the number of people an infected person infects on average at the start of the outbreak). Using the assumption that the suppression policy can achieve R0 = 1, we assess that it should be kept in place between 30 and 34 weeks. If suppression can achieve a lower R0 = 0.7, the policy should be in place between 11 and 12 weeks. Finally, for the most optimistic assumption that the suppression policy can achieve an even lower R0 of 0.5, we estimate that it should last between seven and eight weeks. We further show that stopping the suppression policy before six weeks does not produce any meaningful improvements in the pandemic outcome.

Neben den Annahmen über die Dunkelziffer haben somit auch die zugrunde gelegten Infektionsraten einen entscheidenden Einfluss auf die Wahl eines optimalen trade-offs politischen Handelns. Was meines Wissens auch noch mit Unsicherheit behaftet ist, sind die Daten über Sterbefälle durch Corona-Infektion. Unter den fast ausschliesslich alten tödlichen Opfern gab es bekanntlich auch viele, die nicht an, sondern mit einer COVID19-Infektion starben und in den COVID19-Sterbefällen mitgezählt wurden.

Testaktivismus: Föderalismus als Handicap
So steht also die Politik vor der undankbaren Aufgabe, aus all diesen unterschiedlichen und teils widersprüchlichen Expertenmeinungen die richtigen Massnahmen zu beschliessen und glaubhaft zu vermitteln. Um die Datenlage zugunsten der Politik zu verbesssern, schlug deshalb der prominente Verhaltensökonom Ernst Fehr (Universität Zürich) in einem Video-Interview mit der NZZ wiederholte Tests in einer landesweiten Stichprobe von rund 5’000 Personen vor. Daraus liessen sich Unsicherheiten über die Zahl der bereits Infizierten bzw. Genesenen (inkl. Dunkelziffer), über Infektionsraten und Ausbreitungsgeschwindigkeit sowie über die Mortalität reduzieren, und der Politik stünde eine bessere Datengrundlage für ein optimales Vorgehen zur Verfügung. Dieser Ansatz führt automatisch zum Kampfruf „testen, testen, testen!“, eine Politik, die Südkorea offenbar erfolgreich umgesetzt hat.

Das föderalistisch fragmentierte schweizerische Gesundheitswesen scheint für diesen speziellen Fall für einmal nicht besonders gut gerüstet zu sein. So las man am 3. April auf NZZ online:

In der ganzen Schweiz werden viele neue Testzentren eingerichtet. Vorgegangen wird allerdings uneinheitlich. Im Kanton Bern können sich in einem Drive-in-Testzentrum auf dem BEA-Expo-Gelände alle testen lassen, die den Verdacht hegen, angesteckt worden zu sein. Dafür reicht eine Bestätigung nach dem Ausfüllen eines Online-Fragebogens. Im Kanton Waadt, der schweizweit am meisten Infizierte aufweist, wird nur getestet, wer vom Arzt überwiesen wird. Der Kanton Genf hat vier Testzentren eingerichtet und ein mobiles Team aufgebaut, das Tests im Notfall auch bei Patienten zu Hause durchführen kann. Jan Fehr, Infektionsspezialist der Universität Zürich, warnt jedoch davor, dass jeder Kanton nun für sich agiert: «Wir brauchen keinen Flickenteppich, wir müssen orchestriert vorgehen.»

Gleicher Fit für alle?

Die Politik im Corona-Fieber

Die Schweiz als Land mit der inzwischen zweithöchsten Infektionsrate weltweit nähert sich langsam auf Geheiss von Bundesrat und Behörden der italienischen Total-Quarantäne mit Versammlungs- und Ausgehverboten. Noch sind wir nicht ganz so weit. Aber die Wirtschaft, besonders die gewerbliche der KMU, ist grossenteils lahngelegt. Die Schulen sind geschlossen. Sind diese extremen Einschränkungen, die keinen Unterschied zwischen den Risikogruppen machen, gerechtfertigt?

Besonders aus Asien (China, Korea), aber auch aus Italien gibt es mittlerweile statistische Daten, welche in der NZZ – ausführlich kommentiert – publiziert werden. Eine rationale Politik müsste sich bei massiven Eingriffen in das Leben der Menschen, wie sie jetzt fast überall in Europa angeordnet worden sind, an solchen verfügbaren Daten orientieren. Das tut sie aber offensichtlich nicht, auch weil die Verlautbarungen der Behörden selbst zu grosser Besorgnis in der Bevölkerung beigetragen haben. Also richtet man sich nach den Sorgen und Ängsten in der breiten Bevölkerung. Von den statistischen Daten, welche die NZZ grafisch dargestellt publiziert hat, sind diese besonders erwähnenswert:

  • Die Untersuchung von über 44’000 COVID-19-Fällen in China zeigte, dass bei gut 80 Prozent der Infizierten nur milde Symptome auftraten. Nur bei rund 5 Prozent zeigten sich kritische Symptome. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass (nicht getestete) Corona-Infizierte ohne Symptome gar nicht in der Grundgesamtheit zur Prozentberechnung, also im Nenner, enthalten sind (Stichwort hohe Dunkelziffer).
  • In den Altersgruppen 0 bis 29 betrug die Mortalität in China unter 1 Promille (der erfassten Infizierten, ohne Dunkelziffer). Dann steigt sie auf 1,3 Prozent für die Altersgruppe 50 bis 59. Dann folgt ein steiler Anstieg bis zu einer Letalität von 14,8 Prozent bei den über 80-Jährigen.
  • In Korea war die Mortalität in allen Alterskategorien deutlich tiefer als in China. Das könnte eine statistische Ursache haben, weil Korea früh umfassende Tests einführte und deshalb die Grundgesamtheit der erfassten Infizierten, also der Wert im Nenner der Berechnung, im Verhältnis zu allen Infizierten inkl. Dunkelziffer grösser war als in China.
  • Von 105 untersuchten Todesfällen in Italien betrug das Durchschnittsalter 81 Jahre, alle waren über 70. Praktisch alle hatten mindestens eine bereits bestehende Krankheit, gut 80 Prozent der Verstorbenen hatten drei oder mehr Vorerkrankungen. Die Corona-Erkrankung musste in diesen Fällen nicht einmal der Grund des Ablebens sein. Dieser Befund wird auch in anderen Untersuchungen bestätigt.

Kaum ein europäisches Land hat seine Anti-Corona-Politik aufgrund dieser Erkenntisse gestaltet und nach Risikogruppen abgestufte Einschränkungen verordnet. Es läuft eine Art internationaler Interventionswettlauf der Nationen. Und es gilt das in der Politik beliebte Gerechtigkeitsprinzip „gleicher Fit für alle“. Also legt man kurzerhand die ganze Gesellschaft lahm. Dabei werden grosse Einbussen an persönlicher Freiheit und enorme wirtschaftliche Verluste in Kauf genommen. Niemand weiss, wie lange ein solcher „shut down“ überhaupt durchzuhalten ist. Was die wirtschaftlichen Verluste betrifft, ist der Prozess irgendwie paradox. Zuerst verursacht die pauschale Quarantänen-Politik des Staates einen potenziell massiven wirtschaftlichen Einbruch praktisch quer durch fast alle Branchen, und dann spricht derselbe Staat gigantische Stützungspakete für alle möglichen Opfer seiner Politik. Und wer bezahlt dafür am Ende? Natürlich wir oder unsere Nachkommen als Steuerzahler, denn auch für den Staat gilt: Jeder Franken kann nur einmal ausgegeben werden.

Verdrängte Risiken einer Corona-Hysterie

Divergenzen zwischen einer eng medizinischen und einer umfassend gesellschaftlichen Sichtweise

Meine heutige Leserzuschrift an die NZZ (leicht nachredigiert):

Die NZZ berichtet leider fast ausschliesslich lobend und unterstützend über die massiven politisch verordneten Einschränkungen des Lebens durch die Corona-Epidemie. Was mir verstörend erscheint, ist, dass sich prominente Epidemiologen nicht lautstark zu Wort melden und überschiessende politische Massnahmen verurteilen. Die Experten, die in den Medien zu Wort kommen, haben oft einen aus ihrer speziellen Position eingeengten Tunnelblick, nämlich den des unmittelbaren Rettens von Menschenleben hier und jetzt. Was aber not täte, ist eine gesellschaftliche längerfristige Kosten-Nutzen-Perspektive.

Nach allem, was ich bisher gelesen und gehört habe, sind die Symptome einer Corona-Virus-Erkrankung Atemwegsinfektionen, ganz ähnlich wie bei einer normalen Grippe. Solche Viren sind sanfte Erreger, weil sie „evolutionsbiologisch“ nicht wollen, dass wir sterben, sonst sterben sie auch. Das Corona-Virus will sich möglichst breitflächig verbreiten. Das geht aber nur, wenn die Infektion nicht zum Tod des Infizierten führt. Deshalb ist der Krankheitsverlauf relativ harmlos, ausser für ältere stark geschwächte Menschen mit oft mehreren Vorerkrankungen. Praktisch alle Todesfälle betrafen bisher solche Menschen. 

Das Problem mit rigorosen Quarantänen, wie sie jetzt überall Trumpf sind, liegt darin, dass sich die Masse der Menschen nicht via Infizierung gegen das Virus immunisieren kann und das Virus im Zuge dieses Prozesses an Virulenz verliert. Ich weiss als Laie nicht, ob ich das biologisch ganz korrekt und fachgerecht ausgedrückt habe, aber dem Sinn nach dürfte es stimmen. Die Verhinderung des genannten Prozesses erhöht das Risiko, dass früher oder später neue Wellen der Erkrankung auftreten und man mit neuen Opfern rechnen muss, weil das Virus weiterhin für die Menschen virulent ist.

So funktioniert halt eine Gesellschaft, deren moderne Medizin die Evolutionsmechanismen ausser Kraft setzt: Man rettet heute durch eine maximal interventionistische Politik Leben auf Kosten späterer Opfer. Zudem produziert eine extreme Quarantänenpolitik mit massiven gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Einbrüchen auch unmittelbare finale Opfer, die aber nicht sicht- und zählbar sind und deshalb politisch nicht zählen.

Sicher kommt nun Kritik, es sei vermessen, dass sich ein Ökonom zu Themen äussere, für die Fachleute aus Medizin, Biologie und Epidemiologie zuständig seien. Solche Kritik verkennt jedoch, dass es bei der Bewältigung von gesellschaftlichen Krisen unter Mittelknappheit stets um Kosten-Nutzen-Überlegungen, um Trade-offs und um Opportunitätskosten geht. Ein einmal eingeschlagener Weg schliesst alle anderen möglichen Ansätze des Handelns aus. Solches Abwägen gehört zu den Kernkonzepten ökonomischen Denkens.