„Glasgow“ naht – und niemand interessiert sich für die Diskontrate!

Die Pariser Klimaziele wären nur unter horrenden Kosten zu erreichen. Dennoch hält die Politik daran fest.

(Dieser Text erschien am 28. Oktober 2021 in leicht gekürzter Fassung in der Weltwoche Nr. 43.21 unter dem Titel „Unbezahlbarer Preis“ – Zugang mit Bezahlschranke)

An der 26. UN-Klimakonferenz (COP 26), die Ende Oktober in Glasgow beginnt, wird wieder viel Deklamatorisches zu hören sein. Da kann es nicht schaden, sich ein paar jüngste Vorkommnisse in Erinnerung zu rufen.

Am 21. Oktober las man in den Medien die Meldung, Frankreich verteile aus Angst vor neuen Gelbwestenprotesten eine „Inflationsentschädigung“. Etwa 38 Millionen Franzosen mit einem Nettogehalt unter 2000 Euro pro Monat sollen 100 Euro erhalten. Man erinnert sich: Im November 2018 hatten in Frankreich Demonstrationen einer spontanen Bürgerbewegung begonnen. Protestiert wurde gegen eine von Präsident Macron zur Durchsetzung der Energiewende geplante höhere Besteuerung von Diesel und Benzin. Die Protestierenden trugen als Erkennungszeichen die gelben Warnwesten, die im Auto mitzuführen sind. Die Inflationsentschädigung ist eine Reaktion auf die gestiegenen Öl- und Gaspreise, die unmittelbar auf die Diesel- und Benzinpreise und die allgemeine Teuerungsrate durchschlagen.

Nach den jüngsten Preisschüben an den fossilen Energiemärkten baten einige westliche Regierungen die wichtigsten Produzenten (OPEC-Staaten und Russland), die Förderung zu erhöhen. Das Motiv war dasselbe wie bei der französischen Inflationsentschädigung: Angst vor dem Unwillen des Volkes über eine steigende Teuerung.

In der Schweiz erlitt im Referendum vom 13. Juni das revidierte CO2-Gesetz vor dem Volk Schiffbruch. Die Hauptmotive der Referendumssieger erinnern stark an die französischen Gelbwesten: Kostensteigerungen, insbesondere für Autofahren und Reisen generell. Auch die degressiv wirkende Verteuerung fossiler Energie zulasten unterer Einkommensschichten spielte im Argumentarium gegen das Gesetz eine wirksame Rolle.

Wie sind die Gemeinsamkeiten dieser drei Vorkommnisse im Hinblick auf das bevorstehende klimapolitische Grossereignis „Glasgow“ zu deuten? Machen wir einen Sprung zurück in das Jahr 2006, als der Stern-Report („Stern Review on the Economics of Climate Change“) erschien. Dieser Bericht von Sir Nicholas Stern, dem ehemaligen Chefökonomen der Weltbank, wurde im Auftrag der britischen Regierung erstellt. Er untersuchte erstmals umfassend die wirtschaftlichen Folgen der globalen Erwärmung. Die Schlussfolgerung lautete: Es ist dringend und lohnt sich, umgehend drastische Massnahmen gegen die Klimaerwärmung zu ergreifen, weil die Kosten raschen Handelns geringer sind als die Klimaschäden in der Zukunft.

Der Klimaökonom und spätere Nobelpreisträger William Nordhaus äusserte zum Stern-Report kritisch, die radikale Revision der vorgeschlagenen Ökonomie des Klimawandels
ergebe sich nicht aus einer neuen Wissenschaft oder Modellierung. Sie hänge vielmehr
entscheidend ab von der Annahme eines sozialen Diskontsatzes nahe null. Die Schlussfolgerungen zur Notwendigkeit extremer Sofortmassnahmen würden hinfällig mit Diskontierungsannahmen, die mit dem Marktgeschehen konsistent sind. So blieben, so Nordhaus, die zentralen Fragen zur Politik gegen die globale Erwärmung – wie viel, wie schnell und wie teuer – offen.

Eine Diskontsatz nahe null heisst: Stern gewichtete Zustände, die weit in der Zukunft liegen, viel höher, als es üblich ist, wenn die Menschen in der Politik Entscheide treffen. Wenn zur zur Abzinsung von künftigen Kosten eine Rate nahe null verwendet wird, erhalten Kosten in ferner Zukunft fast das gleiche Gewicht wie heutige Kosten. Dasselbe gilt für den Nutzen. Dies entspricht aber überhaupt nicht der beobachteten Realität. Menschen bewerten tausend heutige Franken höher als tausend Franken, die sie in zwanzig oder fünfzig Jahren erhalten oder bezahlen müssen. Und sie handeln auch so.

Die eingangs erwähnten Vorkommnisse sind eine starke Stütze für die Kritik von Nordhaus am Stern-Report. Nordhaus hält eine Politik, die das 1,5-Grad-Ziel der Pariser Klimakonferenz von 2015 anstrebt, unter Verwendung einer realistischen Diskontrate für unbezahlbar. Selbst im optimalen, aber utopischen Fall einer globalen CO2-Steuer müsste diese derart hoch sein, dass kaum eine Regierung auf der Welt eine solche Steuer durchsetzen könnte. Nach den Modellsimulationen von Nordhaus ergibt eine Politik, die sich an einer 3,5-Grad-Erwärmung orientiert, das günstigste Kosten-Nutzen-Verhältnis.

Dessen ungeachtet wird das 1,5-Grad Ziel in Glasgow weiterhin inbrünstig beschworen werden. So lange jedoch die Klimapolitik die hohe Gegenwartspräferenz der Menschen verdrängt und dem illusionären Bild eines Übermenschen anhängt, dem die Rettung der Welt ein persönliches prioritäres Anliegen ist, so lange wird sie in Frustration über verfehlte Ziele stecken bleiben. Das mag resigniert klingen, führt aber zu einem hoffnungsvoll stimmenden Schluss: Wie die Geschichte gezeigt hat, sind Menschen und ihre Gesellschaften anpassungsfähig – auch wenn das enge Regulierungskorsett westlicher Wohlfahrtsstaaten diese Anpassungsfähigkeit mittlerweile stark behindert. Eine rationale Klimapolitik sollte, statt auf CO2-Vermeidung, viel stärker auf Anpassung setzen. Das hätte den grossen Vorteil, dass man zeitlich und räumlich situativ auf die tatsächlichen Entwicklungen reagieren könnte, statt sich auf auf Prognosen von Klimamodellen verlassen zu müssen, die ihre Tauglichkeit noch keineswegs, etwa durch die korrekte Nachbildung vergangener Klimatrends, bewiesen haben.

Sommarugas Oxymoron

Nach der CO2-Gesetz-Niederlage soll ein Mantelerlass der Unvereinbarkeiten die netto-null-Klimapolitik retten

Nach der verlorenen Volksabstimmung über ihr Prestigeprojekt des revidierten CO2-Gesetzes kündigte Energieministerin Simonetta Sommaruga einen Mantelerlass unter dem Namen «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien» an. Eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien ist eine in sich widersprüchliche Begriffskombination. Es gibt noch auf lange Zeit hinaus keine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien. Aber Sommaruga ist ihrem ideologischen Wertekostüm und ihrer politischen Kundschaft verpflichtet und kann nicht über den eigenen Schatten springen. Das Anhängsel „mit erneuerbaren Energien“ ist reines Signalling links-grüner politischer Korrektheit.

Doch wenn eine Energieministerin in ihrer ideologischen Zwangsjacke stecken bleibt, bezahlen wir alle dafür. Die Niederlage an der Urne wäre eigentlich ein Rücktrittsgrund. Nur haben wir in unserem politischen System keine Rücktrittskultur entwickelt. Jedenfalls müssten wir jetzt die Gelegenheit nutzen, um die von Sommarugas Vorgängerin Doris Leuthard eingeleitete „Energiewende“ neu zu überdenken. Mit dem Scheitern des Rahmenabkommens mit der EU und geplatzten Hoffnungen auf ein Stromabkommen sollte auch in der Gehirnwäsche-Anstalt UVEK die Einsicht gereift sein, dass es allein mit Sonne und Wind kaum je eine sichere Stromversorgung geben wird. Martin Schlumpf hat aufgrund einer EMPA-Studie hier gezeigt, in welchem Ausmass eine massive PV-Aufrüstung und Elektrifizierung von Mobilität und Gebäuden bei Abschaltung der AKW nach 2030 die Versorgungssicherheit gefährden würde.

Doch wir haben in der Schweiz ein grosses Problem in Sachen Aufklärung der Bevölkerung. Die wichtigen meinungsmachenden Institutionen sind staatlich oder vom Staat abhängig: die ganze staatliche Bürokratie, Schule, Bildung und Hochschulen, Radio und Fernsehen der SRG, zahlreiche Kulturinstitutionen. Dort bewegen sich die Leute in einer links-grünen staats- und regulierungsfreundlichen Blase. Von dort gibt es kaum vernehmbare kritische Stimmen zur „Energiewende“ oder zum Oxymoron einer „sicheren Stromversorgung mit erneuerbaren Energien“. So wäre es auch keine Überraschung, wenn wir, trotz dem Volks-Nein zum neuen CO2-Gesetz, bei den nächsten Wahlen wieder eine grüne Sympathiewelle erleben würden. Wer in Wahlen und Abstimmungen Konsistenz des Stimmverhaltens erwartet, hat die Essenz unseres Systems noch nicht erfasst.

Bitte ehrliche Propaganda für das neue CO2-Gesetz!

Wie UVEK-Vorsteherin Sommaruga ehrlicherweise argumentieren müsste

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! 

Am 13. Juni stimmen wir über das revidierte CO2-Gesetz ab, weil die SVP und einige Verbände das Referendum ergriffen haben. Bundesrat und Parlament plädieren für ein Ja zum Gesetz. Das neue CO2-Gesetz trägt dazu bei, dass die Schweiz ihre Selbstverpflichtung zur Reduktion des CO2-Ausstosses von 1990 bis 2030 um 50 Prozent einhalten kann. Diese Selbstverpflichtung ist die Schweiz, wie andere Länder, im Rahmen des Klimaabkommens von Paris von 2015 eingegangen. Die Schweiz handelt somit unter „Paris 2015“ solidarisch mit anderen Staaten. Selbstverständlich hat die Schweizer Klimapolitik keinen Einfluss auf das Weltklima. Aber wenn wir unsere „Paris 2015“-Ziele nicht einhalten, wie wollen wir dann von den anderen Ländern, vor allem den grossen CO2-Emittenten oder ärmeren Ländern erwarten, dass diese in Zukunft auch wirksame Anstrengungen unternehmen? 

Ich möchte an dieser Stelle auch meine früheren Aussagen zu klimabedingten Naturereignissen in der Schweiz korrigieren: In der Schweiz waren in den vergangenen Jahrzehnten die Häufigkeit und die Schäden von Naturereignissen, entgegen meinen früheren Warnungen und Berichten in den Medien, rückläufig. Jedoch können wir daraus nicht ableiten, was die Zukunft bringen wird. Zudem deuten jüngste weltweite Beobachtungen, zum Beispiel über ein beschleunigtes Abschmelzen der Eismassen, doch auf Risiken hin, die mit der vom Menschen verursachten Erderwärmung in Verbindung zu bringen sind. Darüber gibt es aber in der Wissenschaft keine eindeutigen Erkenntnisse, sondern die Kausalitäten, die möglichen Schadenskosten und die Kosten von Anpassungsmassnahmen werden kontrovers diskutiert. Die warnenden Stimmen des Weltklimarats IPCC und der mit diesem verbundenen Forschergemeinde haben in der öffentlichen Wahrnehmung kommunikative Vorteile.

Das CO2-Gesetz entspricht sicher nicht dem Ideal ökonomischer Effizienz. Das Gesetz ist das Ergebnis der politischen Gewinnung von Mehrheiten unter den institutionellen Bedingungen der Schweiz. Der ganze Instrumentenkasten kam unter dem Motto zustande, dass alle etwas beitragen sollen. Am Ende zählt dann primär, ob das Gesetz in einem Referendum bestehen kann. Was jetzt vorliegt, ist als das zu betrachten, was unter den heutigen Bedingungen als politisch machbar erscheint. Ein Nein zum Gesetz würde die Schweiz in ihren Anstrengungen, die selbst gesteckten CO2-Reduktionsziele zu erreichen, stark zurückwerfen. Ich danke Ihnen für Ihre Zustimmung zum Gesetz.“