Wann kommt olympisches Vierer-Rodeln?

Haben Sie den früheren SRG-Generaldirektor Roger de Weck, den unermüdlichen Service-Public-Prediger, auch mal über die „Ökonomisierung der Gesellschaft“ klagen hören? Ich schon, und nicht nur einmal. Paradox: Es gibt wohl kaum ein besseres Beispiel für diese Ökonomisierung als das von de Weck so penetrant idealisierte öffentlich-rechtliche Fernsehen. Die gegenwärtig laufenden Olympischen Winterspiele in Südkorea bieten bestes Anschauungsmaterial. Dass inzwischen jeder Sieger, jede Siegerin oder jeder Coach, wenn im TV-Interview, sein Material (Skis, Mütze, Jacke etc.) penetrant in die Kamera rückt, daran hat man sich bereits gewöhnt, so lächerlich es auch für einen unbefangenen Betrachter wirkt. Im Ziel angekommen, reissen sich Skirennfahrer einen Ski vom Fuss und halten die grosse Markenaufschrift gegen die Kamera. Vor Jahrzehnten gab es genau darüber noch eine politische Kontroverse: Soll ein öffentlich-rechtliches Medium für Private Werbung betreiben? Dürfen solche Markenaufschriften überhaupt ins Bild? Diese Debatte mutet im Rückblick geradezu steinzeitlich an, aber nicht unbedingt im negativen Sinne.

Heute ist es besonders im Falle der Schweiz bzw. der SRG so, dass es ohne die mittlerweile geradezu exzessive Belästigung des Publikums mit Werbung gar nicht mehr ginge. Da eine Erhöhung der Zwangsgebühren unpopulär ist, holt man sich (zusätzliche) Mittel halt aus Werbung. Sukzessive werden die Maximierungsmassnahmen dem Zuschauer aufgedrängt: Unterbrecherwerbung, Werbung noch unmittelbar vor Beginn der Tagesschau, seit einiger Zeit auch zwischen Tagesschau und Wetterbericht (Meteo). Penetranter könnte sich ein Privatsender nicht aufführen. Zudem dürfte der Anteil Sport an der gesamten Sendezeit auf SRF-Kanälen wohl kaum in einem anderen Land erreicht werden. Wenn SRF2 nicht genügt, weil gleichzeitig zwei verschiedene Sportanlässe laufen, nimmt man sich halt SRF3, dies in Strapazierung des Sendeauftrags. Protest aus dem Publikum ist nicht zu erwarten, denn Sport ist populär, und da die Einschaltquoten stimmen, sind die Werbefenster für das angebliche Service-Public-Fernsehen bei Sportübertragungen besonders einträglich.

Zurück zur Winter-Olympiade. Warum führt wohl Deutschland die Medaillen-Rangliste an? Die Antwort ist einfach: Hat alles nur mit der von de Weck beklagten Ökonomisierung zu tun. Deutschland ist im Weltvergleich einer der wichtigsten Märkte für alle möglichen Konsumartikel, nicht nur aus dem Sport. Das erklärt ganz simpel, weshalb das Programm der Winterspiele sukzessive mit neuen Sportarten aufgeblasen wurde, die in Deutschland populär sind, bzw. in denen die Deutschen brillieren, speziell Biathlon und Rodeln. Und überall wird weiter expandiert, zu den Einzelwettkämpfen kommen inzwischen überall auch noch Mannschaftswettbewerbe. Wenn es in diesem Stil weitergeht, haben wir auch bald noch Sie- und Er-Rennen wie bereits im Curling. Oder Vierer-Rodeln, wo selbstverständlich auch die Deutschen Gold gewinnen…

Olympische Spiele sind der Inbegriff einer Ökonomisierung der Gesellschaft. Unsere vom Staat eingerichteten öffentlich-rechtlichen Medien mit ihrem Service-Public-Anspruch machen diese ganze fragwürdige Entwicklung nicht nur mit, sondern fördern sie mit ihrem vollkommen unkritischen Verhältnis zum kommerzialisierten Spitzensport sogar aktiv. Und dem eingelullten Publikum sind solche Paradoxien offenbar wurst, zumindest einer Mehrheit, wie wir anhand der bevorstehenden „No Billag“-Abstimmung bald sehen werden.

 

Die Illusion objektiver Staatsmedien

In ihrer Ausgabe vom 4. April kritisierte die Wochenzeitschrift „Die Weltwoche“ eine Sendung des Schweizer Fernsehens über den „golden rice“ des ehemaligen ETH-Professors Ingo Potrykus. Dieser Goldreis ist gentechnisch mit Vitamin A angereichert und verspricht Millionen von Menschen Hilfe gegen die Mangelernährung mit Vitamin A. „Die Weltwoche“ stiess sich daran, dass das Schweizer Fernsehen SRF es nicht dabei bewenden liess, über diesen grossen Erfolg der grünen Gentechnik zu berichten. Vielmehr sei der Beitrag mit zum Teil fragwürdigen Stimmen und Bildern gegen Gentech-Nahrung ergänzt worden.

Dies ist durchaus kein Einzelfall, sondern solche Ergänzungen entsprechen einem gängigen Muster der Berichterstattung in den staatlich organisierten Medien. Damit soll jene Art von politischer Ausgewogenheit erreicht werden, die von den SRF-Sendern gefordert wird. Bekanntlich ist die Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung gegen GVO-Nahrungsmittel. Ganz auf dieser Linie, nahe beim Volk, stimmte im September 2012 der Nationalrat mit grossem Mehr der Verlängerung des GVO-Moratoriums um weitere drei Jahre zu. Allerdings waren ausgerechnet zwei Wochen vor der Abstimmung die Ergebnisse des Nationalen Forschungsprojekts NFP 59 zu Nutzen und Risiken der grünen Gentechnik veröffentlicht worden. Das NFP 59, das über 1’000 weltweit verfügbare Studien auswertete, bestätigte, was bereits bekannt war: Der Nutzen der grünen Gentechnik ist sowohl generell wie auch für die schweizerische Landwirtschaft erwiesen, und die Risiken sind nicht grösser als bei konventioneller Züchtung, im Gegenteil.

Das vom Parlament selbst in Auftrag gegebene NFP 59 mit Kosten von rund 13 Mio. CHF hatte nicht die geringste Wirkung: Die Mehrheit im Nationalrat war dieses Mal noch deutlicher als bei der ersten Moratoriumsverlängerung drei Jahre zuvor. Anne Glover, Chief Scientific Advisor der Europäischen Kommission, sagte einmal an die Adresse der Politik: „Mir ist bekannt, dass es schwierig ist, politische Entscheidungen immer auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Aber wenn wissenschaftliche Erkenntnisse nicht genutzt werden, ist es die Pflicht der Politiker, zu erklären, warum diese Erkenntnisse keine Berücksichtigung finden.” Dem wäre anzufügen: Wenn die Politiker dieser Pflicht nicht nachkommen, könnten die Staatsmedien einspringen. Davon sind wir jedoch weit entfernt. Denn die öffentlich-rechtlichen Radio und Fernsehen haben unter dem Zwang zur politischen Ausgewogenheit den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen Rechnung zu tragen, auch zum Schaden wissenschaftlicher Objektivität.

Bereits im letzten September gab es am auf Radio SRF1 (damals noch DRS1) aus aktuellem Anlass eine interaktive Sendung zur grünen Gentechnik. Der Moderator verwies einleitend auf den Graben zwischen den Erkenntnissen des NFP 59 und den anhaltenden Ängsten in der breiten Bevölkerung. Eine Hörerin rief an und forderte, man müsse auch die GVO-kritischen Studien berücksichtigen. Dieser Vorwurf verriet bloss pure Ignoranz. Dass im NFP 59 alle wissenschaftlich ernst zu nehmenden Studien einbezogen worden waren, war der emotional engagierten GVO-Gegnerin nicht geläufig. Dem Moderator vielleicht auch nicht, sonst hätte er die Hörerin freundlich aufklären können. Man merkte aber gut, wie er peinlich bestrebt war, ja nicht den Eindruck zu erwecken, er nehme Partei für die eine oder die andere Seite. Nun ist es jedoch schlicht absurd, den laienhaften Meinungen von uninformierten Leuten den gleichen Stellenwert zuzugestehen wie den Erkenntnissen der aufwendigen Untersuchung einer ganzen Gruppe unabhängiger Wissenschafter. Denn gelegentlich erinnern die Anti-GVO-Argumente von “Frauen und Männern auf der Strasse” oder am Radiotelefon an den Kampf bibelgläubiger Kreationisten gegen die Evolutionstheorie Darwins in den USA.

Fundamentalistische Positionen, die latent im Konflikt mit anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen, belasten immer mehr den politischen Alltag. Dabei werden im Volk verbreitete Ängste bewirtschaftet. Die stark emotional bestimmte Ablehnung der grünen Gentechnik oder der Kernenergie sind nur zwei von mehreren Beispielen. Zu erwähnen wäre auch der Streit um die Aufnahme von Naturheilverfahren ohne wissenschaftlichen Wirkungsnachweis in den Leistungskatalog der Grundversicherung. Wenn dann die Staatsmedien unter dem Diktat zur politischen Ausgewogenheit einfach nur das generelle Meinungsspektrum abzubilden versuchen, verletzen sie in einer aufgeklärten Gesellschaft ihre Informationspflicht. Mit der Gleichstellung aller Meinungen, unabhängig von ihrer Quelle und der erfahrungsmässigen und methodischen Fundierung, fördern sie einen Relativismus, der die Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse abwertet und schlechter Politik Vorschub leistet.

(Leicht redigiert erschienen in der WELTWOCHE Nr.17/2013)