Die Macht von Pharmasuisse…

…oder: Wie liberal ist die Schweiz in Wirklichkeit?

Immer wieder hört man, wir lebten in einem der liberalsten Länder der Welt. Nun gut, solche pauschalen Floskeln gehören zum beliebten „sich selbst auf die Schultern klopfen“. Dass echt wirtschaftsliberale Ideen und Reformen in der Schweiz wenig Begeisterung auslösen, habe ich in meinem Buch „Wie viel Markt verträgt die Schweiz?“ (NZZ Libro) umfassend und anhand zahlreicher Beispiele dargestellt.

Und die Dinge entwickeln sich nicht zum Besseren. Gerade spricht unser politisches Personal schwindelerregende Corona-Milliarden-Programme, aber auf die Idee, man könnte auch ein paar dieser Milliarden durch den Verkauf bzw. die Privatisierung von Teilen des gewaltigen Staatseigentums locker machen, ist noch niemand gekommen. Denn Privatisierung ist in weiten Teilen der Bevölkerung geradezu ein Schimpfwort. Es eignet sich deshalb gut für die Propaganda gegen unliebsame Liberalisierungsprojekte.

Und immer wieder stösst der unbefangene Beobachter, der für politische Alltagserfahrungen empfindlich ist, auf alte und neue Muster illiberaler korporatistischer Erfahrungen und Strukturen. Eigentlich sollte sich der politische Ökonom darüber nicht wundern, denn die Schweiz ist eine alte Demokratie. Und solche Staaten erstarren unter dem Einfluss etablierter organisierter Interessen gerne in regulatorischer Sklerose, wie es der US-amerikanische Ökonom Mancur Olson in seinem bahnbrechenden Werk „The Rise and Decline of Nations“ schon vor Jahren beschrieben hatte.

Die korporatistische Natur der schweizerischen Volkswirtschaft – speziell der Binnenwirtschaft – bezieht ihre ideologische Rechtfertigung nicht zuletzt aus dem in der Schweiz besonders populären genossenschaftlichen Gedanken. Genossenschaftliche Wirtschaftsstrukturen unterscheiden sich von Marktstrukturen durch die Aufhebung eines behaupteten Interessengegensatzes zwischen Marktteilnehmern (Anbieter gegen Nachfrager) – eine Sichtweise, die schon Adam Smith anschaulich widerlegt hat. Genossenschaftliche Ideen blühen deshalb besonders im linken politischen Spektrum bei Skeptikern und Gegnern von Markt und Privateigentum. Latent schwingt oft auch noch die von der Linken kultivierte und föderalistisch verbrämte „Service Public“-Ideologie mit, wenn es um die staatliche Regulierung bestimmter Branchen zugunsten einer exzessiv definierten Grundversorgung geht. Apotheken zählen auch zu diesen Branchen, und staatliche Strukturregulierungen sind nie gratis zu haben.

Vor einigen Tagen berichtet die NZZ über eine neue Runde in der gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen der Versandapotheke Zur Rose und dem Schweizerischen Apothekerverband Pharmasuisse. Die Grundlage für die Strafanzeige bildet ein Urteil des Bundesgerichts von 2015. Das oberste Gericht verbot damals den Versandhandel mit rezeptfreien Medikamenten. Es erliess gemäss NZZ die Regel, dass auch für den Versand von Arzneimitteln, die in Apotheken ohne Rezept verkauft werden können, ein ärztliches Rezept nötig ist, das nur in einem persönlichen Kontakt mit einem Arzt erhältlich ist. Das ist eine reine bürokratische Schikane, denn es geht um so gefährliche Produkte wie „Kamillosan-Mundspray oder Neocitran“ (NZZ).

Selbstverständlich vertritt Pharmasuisse die Position, mit der Strafanzeige gegen den Zur Rose-CEO Walter Oberhänsli im Interesse der Kunden/Patienten zu handeln. Das ist schlicht grotesk, denn der Versandhandel von rezeptfreien Medikamenten würde für alle Beteiligten die Kosten senken. Pharamsuisse geht es aber im Kampf gegen den unliebsamen Konkurrenten Zur Rose einzig und allein um die Absicherung der eigenen finanziellen Interessen. Und unsere Institutionen sind dem Verband dabei behilflich.

Unabhängig von der Frage, ob das Bundesgericht mit seiner Regelauslegung selber Recht schaffte oder sich auf ein bestehendes Gesetz stützte, ist die beabsichtigte Wirkung einer derart absurden Regelung klar: Das Geschäft mit rezeptfreien Medikamenten soll den Apotheken vorbehalten bleiben. Apotheken wird eine „Service Public“-Grundversorgungs-Funktion zugeschrieben, die vor einem Versandhandel à la Zur Rose geschützt werden muss. Dazu passt auch die Weigerung von Politik und Bürokratie, den Verkauf bestimmter rezeptfreier Gesundheitsprodukte, die in der Schweiz zu stark überhöhten Preisen nur in Drogerien und Apotheken erhältlich sind, durch den Detailhandel zuzulassen. Migros stösst mit entsprechenden Vorstössen für den Verkauf absolut harmloser Produkte seit Jahren auf granitharten politischen Widerstand.

Bezeichnend für die korporatistischen Zustände in „einem der liberalsten Länder der Welt“ ist ein Hinweis im NZZ-Artikel: „Die Anklage zeigt auf, dass das Frauenfelder Unternehmen im Heimmarkt genau in den Gebieten mit Schwierigkeiten kämpft, die Zur Rose im europäischen Markt zum Marktführer gemacht haben.“ Allein dies illustriert die überrissene politische Macht des Apothekerverbands Pharmasuisse. Auf einem wichtigen Gebiet verteidigt Pharmasuisse korporatistische Strukturen und behindert damit zum Schaden der ganzen Gesellschaft die Realisierung von Wohlstandseffekten durch neue Geschäftsmodelle aufgrund des technologischen Fortschritts.

Da Pharmasuisse nur ein Beispiel von vielen aus der vor internationalem Wettbewerb geschützten schweizerischen Binnenwirtschaft darstellt, ist leicht erklärbar, weshalb die Arbeitsproduktivität in den binnenwirtschaftlichen Branchen der Schweiz im internationalen Vergleich nur mittelmässig ausfällt. Den Wohlstand der Schweiz könnte man zugespitzt auch so erklären: Wir arbeiten zwar viel, aber nicht sehr effizient…