Umfragen sind nicht Wahlen
Die wichtigste Wahl der jüngsten Zeit ist vorbei, mit einem unerwartet klaren Ergebnis. Die nächsten wichtigen Wahlen stehen bevor. In Deutschland gibt es nach dem Bruch der dysfunktionalen Ampelregierung Ende Februar vorgezogene Wahlen für den Bundestag. Es lohnt sich ein Blick zurück und nach vorne mit besonderer Beachtung des „shy factor“ in Wahlumfragen.
Unterschätzter „shy factor“ in den USA
Die häufigste Erklärung für den Sieg von Trump – oder besser: der klaren Niederlage von Harris – besteht darin, auf den Linksrutsch der demokratischen Parteielite zu verweisen. Unter dem Einfluss der meinungsmächtigen Eliten in den progressiven Institutionen entfernten sich die Demokraten immer mehr von den Mehrheitsansichten in der Bevölkerung – sei es zur wirtschaftlichen Lage (Inflation), zur unkontrollierten illegalen Immigration oder zum überzogenen LGTBQ-Aktivismus. Dies erlaubte es Trump bzw. den Republikanern, grössere Teile der früher traditionell demokratisch wählenden Gruppen zu gewinnen. Es gab Verschiebungen zulasten der Demokraten bei den Frauen sowie bei Latinos und Schwarzen.
Um zu erklären, warum Umfragen die Unterstützung für Trump unterschätzten, kam aber auch der sogenannte „shy factor“ ins Spiel. Der „shy factor“ verkörpert keine neue Einsicht, sondern ist als „social desirability bias“ in der politischen Theorie schon lange bekannt. Er besagt, dass bei Umfragen, insbesondere bei einem Live-Anrufer, die Person, der die Fragen gestellt werden, ihre Antworten so formuliert, dass sie in den Augen der Person am anderen Ende der Leitung in gutem Licht dasteht. Der „shy factor“ bringt also Menschen dazu, ihre Unterstützung für einen umstrittenen und polarisierenden Kandidaten wie Trump zu verschleiern, sogar vor anonymen Meinungsforschern.
Nate Silver, der wohl bekannteste Modell-Prognostiker, hat den „shy factor“ in seine Modelle eingebaut, offenbar jedoch nicht in genügendem Ausmass. Seine letzte Prognose deutete immer noch auf eine enge Entscheidung zwischen Harris und Trump. Ein anderer Prognostiker, der den Sieg von Trump vor acht Jahren vorausgesagt hatte, ist Robert Cahaly, der Gründer der Trafalgar Group in Atlanta. Er versucht jeweils, den „shy factor“ in längeren persönlichen Interviews mit Wahlberechtigten zu ergründen, um daraus dessen Einfluss abzuleiten. Cahalys Voraussagen für die Wahlen von 2020 und 2024 waren aber nicht besser als die meisten anderen. Auch die Prognosen der Trafalgar Group rechneten mit einem Rennen auf der Kippe.
Da die Präsidentschaftswahl 2024 eine unerwartet deutliche Entscheidung gebracht hat, muss man vermuten, dass die Diskrepanz zu praktisch allen Umfragen zumindest teilweise mit dem „shy factor“ zu erklären ist.
„Shy factor“ zugunsten der AfD?
Parteiwahlen wie in Deutschland sind eigentlich keine Personenwahlen. Deshalb war es wohl auch nicht grundfalsch von den Parteigremien der SPD, Scholz dem gemäss Umfragen beliebtesten Politiker des Landes, Boris Pistorius, als Kanzlerkandidaten vorzuziehen. Doch spielt die öffentliche Meinung über den Kanzlerkandidaten natürlich trotzdem eine Rolle. Merz ist nicht besonders populär, Scholz zwar auch nicht, aber er ist jüngst am Aufholen bei Umfragen, die hypothetisch für eine direkte Kanzlerwahl durch das Wahlvolk abfragte. Habeck, der Kanzlerkandidat der Grünen, lässt sich von den Leuten nach Hause einladen – an den Küchentisch, wie die NZZ meldete. Aber ein „shy factor“ ist weder gegenüber Merz noch gegenüber Scholz oder Habeck zu vermuten. Niemand muss sich davor scheuen, für den einen oder den anderen bzw. deren Parteien seine Sympathie zu äussern.
Anders sieht es bei einer anderen Partei aus. Ein gewisser „shy factor“ könnte in Umfragen gegen die AfD wirken. Die Dämonisierung der AfD, gestärkt durch das permanete „Brandmauer“-Gerede sowie die Anstrengungen, die AfD als verfassungsfeindlich zu verbieten, wird die Neigung zu vorsichtigen Antworten fördern. Lieber sagt ein AfD-Sympathisant dann in einer Befragung, er oder sie habe sich noch keine Meinung gemacht.
Falls die AfD im Februar 2025 besser abschneiden sollte als in den letzten Umfragen vor dem Wahltag, ist es plausibel, einen „shy factor“ zu vermuten. Eine eindeutige Begründung für Diskrepanzen zwischen Umfragen und Wahlergebnissen ist aber immer schwierig, nicht zuletzt, weil auch noch kurz vor Wahlen unerwartete Ereignisse deren Ausgang beeinflussen können. Es könnte sich sogar ein umgekehrter „shy factor“ bemerkbar machen. Das wäre dann der Fall, wenn sich Leute im letzten Moment entscheiden würden, doch nicht die AfD zu wählen, wie sie eigentlich vorhatten, weil das ein schlechtes Gewissen hinterlassen könnte. An der Förderung eines schlechten Gewissens arbeiten ja all jene fleissig mit, die die AfD als verfassungsfeindlich verbieten lassen wollen. Dieser Prozess hat nämlich auch genau diesen wichtigen Nebenzweck im Hinblick auf die Wahlen.