Was sind Fakten?

In hypersensiblen Gesellschaften ist die Antwort verschwommen

Mein Freund Philipp Aerni, Direktor des Center for Corporate Responsibility and Sustainability CCRS, schrieb vor einiger Zeit für eine wissenschaftliche Zeitschrift einen Beitrag mit dem Titel „«Politicizing the Precautionary Principle: Why Disregarding Facts Should Not Pass for Farsightedness“ (Politisierung des Vorsorgeprinzips: Warum das Ignorieren von Fakten nicht als Weitsicht gelten darf). Dabei argumentierte er gegen die wissenschaftlich nicht begründbare Ablehnung von gentechnisch veränderten Pflanzen (GVO) in der Landwirtschaft, genannt Grüne Gentechnologie. Aktivisten und Interessengruppen sind wichtige Akteure gegen GVO. Greenpeace agitiert weltweit gegen GVO.

Wirkungslose Sachargumente
Bekanntlich haben wir in der Schweiz wegen anhaltender Skepsis in der Bevölkerung seit 2005 ein GVO-Moratorium, das aus Angst der Politik vor einer Verbotsinitiative schon mehrmals verlängert wurde. Eine weitere Verlängerung steht aktuell bevor. In seinem Artikel kritiserte Aerni folgende Punkte: Politiker wenden die Regeln, die sie zuvor festgelegt haben, nicht an. Dazu greifen sie auf eine verzerrte Anwendung des Vorsorgeprinzips zurück. In Ermangelung wissenschaftlicher Belege gegen GVO werden „gesellschaftliche Bedenken“ vorgebracht.

Zur Erinnerung: Das Nationale Forschungsprogramm NFP 59 wertete im Jahr 2011/12 die weltweit verfügbare Fachliteratur zu GVO in der Agrarwirtschaft aus. In der Programmsynthese stand, obwohl die grüne Gentechnik schon seit rund 15 Jahren in der Landwirtschaft eingesetzt werde und bis jetzt keine nachteiligen Wirkungen auf Umwelt und Gesundheit wissenschaftlich nachgewiesen werden konnten, gelte sie in der Schweizer Bevölkerung noch immer als neue und risikobehaftete Technologie. Das aufwendige Projekt (Kosten CHF 12 Mio.) bestätigte damit bloss, was aus unzähligen Studien bereits bekannt war. Es gibt keine wissenschaftlich nachgewiesenen Risiken, weder durch den Verzehr beim Menschen noch in der Umwelt. Im Gegenteil: Die grüne Gentechnik zielt auch auf die Schonung der Umwelt und auf einen Zusatznutzen für die Gesundheit von Mensch und Tier.

Analogie Elektrosmog
Als ich das Paper von Philipp Aerni gelesen hatte, blieb ich an der Formulierung „Ignorieren von Fakten“ im Titel hängen. Ich erinnerte mich an eine aufbewahrte Leserzuschrift eines gewissen Peter Zürcher zum Thema Elektrosmog. Elektrosmog von Mobilfunkantennen ist in der Schweiz ein kontroverses Thema. Bei der Lockerung der sehr strengen Strahlenschutzbestimmungen sehen wir eine ähnliche politische Zurückhaltung wie bei der Zulassung von GVO. Die Leserzuschrift von Herrn Zürcher lautete so:

Bei mir in der Nachbarschaft wurde vor gut zehn Jahren ein Swisscom-Mast auf einem Fabrikgebäude errichtet. Kaum stand er, litt die Frau unseres Quartiervereinspräsidenten, die in Sichtweite wohnte, plötzlich an Hitzewallungen, Kopfschmerzen, nächtlichen Schweissausbrüchen usw. Sie sammelte dann eifrig Unterschriften von weiteren Betroffenen, zum grössten Teil ebenfalls Damen um die 50, und übergab schliesslich der Swisscom eine geharnischte Petition. Das Unternehmen bedankte sich und wies darauf hin, dass der Mast erst in gut einem halben Jahr den Betrieb aufnehmen würde. Seitdem ist es bei uns zum Glück ruhig geworden um das Thema Elektrosmog.“

Wir stellen fest: Der Mast war in Sichtweite vom Wohnort der Beschwerdeführerin. Die Petitionärinnen litten unter somatischen Symptomen, die für psychischen Stress typisch sind. Betroffene Mitpetitionärinnen waren zumeist auch Frauen um die 50. Nach der Antwort von Swisscom gab es seitens der Betroffenen keine Klagen mehr. Entweder war es nicht der Anblick des Mobilfunkmastes, der die Stresssymptome auslöste, sondern die Überzeugung, dass die Anlage in Betrieb sei. Oder es fehlte den Petitionärinnen nach der Antwort von Swisscom ein überzeugendes Argument, so dass sie sich nicht mehr trauten, sich zu beschweren. Leider erfährt man aus Herrn Zürchers Leserbrief nicht, ob die Symptome aufhörten, nachdem die Petitionärinnen wussten, dass der Mast noch nicht in Betrieb war.

Der Nocebo-Effekt
In diesem Beispiel geht es um den Nocebo-Effekt, das Gegenteil des Placebo-Effekts. Der zweite betrifft die Erfahrung, dass positive Erwartungen positive Heilungswirkungen erzeugen können, ohne dass irgendwelche bekannten Wirkstoffe im Spiel sind. Beim Nocebo-Effekt verhält es sich umgekehrt. Wikipedia erklärt: Ein Nocebo-Effekt tritt auf, wenn negative Erwartungen des Patienten hinsichtlich einer Behandlung dazu führen, dass die Behandlung einen negativeren Effekt hat, als sie es sonst getan hätte. Es gibt Hinweise darauf, dass die Symptome der elektromagnetischen Überempfindlichkeit (EHS) durch den Nocebo-Effekt verursacht werden. Elektromagnetische Überempfindlichkeit ist eine behauptete Empfindlichkeit gegenüber elektromagnetischen Feldern, der negative Symptome zugeschrieben werden. EHS hat keine wissenschaftliche Grundlage und ist keine anerkannte medizinische Diagnose.

Dieser letzte, absolut klingende Satz kann die Politik nicht von diesen Fragen entlasten: Was bedeutet „keine wissenschaftliche Grundlage“ im Hinblick auf die Forderung nach Regulierung? Sind „gesellschaftliche Bedenken“ gegenüber einer neuen Technologie nicht eine bewiesene Tatsache, insbesondere wenn Stresssymptome von „Opfern“ behauptet werden? Sind Fakten für die Politik etwas anderes als für die Wissenschaft?

Was auch immer die Antwort auf diese Fragen sein mag, restriktive Regulierung, die sich auf ein bestimmtes Risiko konzentriert, ist problematisch, weil die Vermeidung eines spezifischen Risikos immer neue Risiken schafft und nie gratis ist, sondern Opportunitäts- oder Verzichtskosten verursacht, die oft weit höher sind als der Nutzen der Regulierung. Ein eindrückliches Beispiel: Die Verhinderung des Ausbaus der Kernenergie in der westlichen Welt seit dem Unfall von Tschernobyl im Jahr 1986 hat gemäss fundierten Schätzungen weltweit über 300 Millionen Mannjahre wegen der Luftverschmutzung durch als Ersatz notwendige fossile Energie gekostet – ganz abgesehen von den enormen Mehremissionen an CO2. Ein ebenso eindrücklicher Fall sind die gewaltigen Kosten und Schäden der Corona-Hysterie, ein Thema, dem ich am 17. März 2020, am ersten Tag des schweizerischen Lockdowns, einen heute schon fast prophetisch anmutenden Blogartikel widmete, gefolgt von einem zweiten Beitrag vom 20. März.

Daraus folgt: Regulierung sollte immer das gesamte „Risikouniversum“ (Cass Sunstein) berücksichtigen, eine Forderung, die in der Politik nur allzuoft missachtet wird. Wenn in unseren hypersensiblen westlichen Gesellschaften die Politik auf noch so geringe Risiken immer restriktiv regulierend antwortet, bewahrheitet sich eine frühere Warnung von Effy Vayena, Professorin am Institut für Translationale Medizin der ETH Zürich, zuvor Professorin für Bioethik an der ETH: „Europas zögerliche Haltung in wissenschaftlichen Fragen ist nicht mehr zeitgemäss. Unser politisches System kann mit der Entwicklung nicht Schritt halten.“

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