Gedanken zum erweiterten Mutter-Theresa-Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit
„Zu sagen, die Moral verlange nach Entwicklungshilfe, ist albern.“
(Angus Deaton, Träger des Wirtschafts-Nobelpreises 2015 im Interview mit der NZZ vom 16. Juni 2016)
Seit Jahrzehnten sind in der Vorweihnachtszeit unsere Briefkästen voll von Spendenaufrufen der diversen Hilfswerke. Die Bilder der leidenden, aber auch dank unseren Spenden glücklichen Menschen in armen Ländern kennen wir. Man könnte sich fragen, weshalb die abgebildeten Menschen fast immer schwarz sind. Der englisch-amerikanische Wirtschafts-Nobelpreisträger Angus Deaton, kein Elfenbeinturm-Forscher, liefert uns eine drastische Antwort: Die westliche Entwicklungshilfe hat Afrika nicht reicher, sondern ärmer gemacht. Seine Begründungen findet man im oben erwähnten NZZ-Interview.
Beim aktuellen Gerangel um die Kürzung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit in Bundesbern müsste diese trübe Bilanz eigentlich Teil der Debatte sein. Ist sie aber nicht, denn von den betreffenden Budgets kommt nur ein Teil am Ende der Spendenkette bei den Bedürftigen an. Ein Teil fliesst auf die Kontos von westlichen Entwicklungs-NGO sowie in die Bürokratie von Geber- und Nehmerländern. Zudem versickern nicht selten auch beträchtliche Summen in irgendwelchen Formen von Korruption. Eine grundsätzliche Neuorientierung scheitert bei uns an festgefügten Interessenstrukturen der beteiligten Akteure.
Wie dem auch sei, man muss unabhängig von präzisen Daten dazu einfach feststellen, dass seit Jahrzehnten und trotz x milliardenschweren Hilfsbudgets immer noch und immer wieder die gleichen Regionen und Länder der Welt auf den Spendenaufrufen der Hilfswerke erscheinen. Leicht zynisch könnte man sagen, dass das Geschäftsmodell all der Akteure in den Geberländern nur weiter funktioniert, wenn Armut nicht verschwindet. Entwicklungszusammenarbeit mit mangelnder Wirkung garantiert dies. Jedenfalls spielen die Interessen von Akteuren der Geberländer eine oft unterschätzte Rolle.
Das Mikro-Makro-Paradox
In ihrem Bericht unter dem Titel „Graveyards of Development Projects in Kosovo“ erwähnt die an der Universität Zürich promovierte Anthropologin Jovana Divkovic das „Mikro-Makro-Paradox“ als Hindernis für die analytische Bewertung der Wirksamkeit von Entwicklungshilfe: „Das Paradox beruht im Wesentlichen auf der Tatsache, dass eine grosse Anzahl von Studien auf Mikroebene Entwicklungshilfe als wirksam einstuft, während solche positiven Bewertungen keinerlei Einfluss auf umfassende Analysen auf Makroebene haben, die entweder nur geringe oder gar keine erkennbaren Auswirkungen der Entwicklungshilfe feststellen.“
Microsofts Copilot erklärt das Phänomen recht gut: „Das Paradox kann aufgrund verschiedener Faktoren entstehen, wie etwa der Abhängigkeit von Hilfe, der Fehlallokation von Mitteln oder der Unfähigkeit der Hilfe, tiefere strukturelle Probleme in den Empfängerländern anzugehen.“ Der Copilot verweist auf den dänischen Ökonomen Martin Paldam, der sich intensiv mit dem Paradox beschäftigt hat und zitiert aus seinem Paper ‚Three sets of evidence about aid effectiveness. The micro-macro paradox of aid revisited‘ (2023): „Das Paradox legt nahe, dass Hilfe zwar in kleinerem Massstab von Vorteil sein kann, politische Entscheidungsträger jedoch umfassendere systemische Änderungen in Betracht ziehen müssen, um eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen.“
Wenn von „politischen Entscheidungsträgern“ die Rede ist, dann müsste sich diese Aussage unbedingt auf jene politischen Akteure beziehen, die im Empfängerland die Verantwortung tragen. Genau dies hat auch Angus Deaton im NZZ-Interview ausgedrückt, als er sagte, Entwicklung sei nur von innen möglich, nicht aber von aussen.
Meine persönliche Anekdote
In den 1970er-Jahren unterrichtete ich als frisch gebackener Dr.rer.pol. der Uni Bern am Umtali College in Nairobi Wirtschaftsfächer. Diese Hotelmanagement-Schule war ein Projekt der damals noch Entwicklungshilfe genannten Technischen Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Kenia. Das College war nach kenianischer Einstufung eine Art Fachhochschule und genoss unter dem Patronat der weltbekannten Hotelfachschule Lausanne eine hohe Reputation.
Vor etwa fünf Jahren traf ich bei einem Freund in Bern den Vertreter einer schweizerischen Entwicklungs-NGO mit seiner kenianischen Freundin. Ich fragte die junge Kenianerin, ob sie das Umtali College kenne und, falls ja, was nach dem Rückzug der Schweiz vor vielen Jahren aus der Schule geworden sei. Sie sagte, sie kenne die Schule und wisse auch, dass sie heute keinen guten Ruf mehr habe. Kein Einzelfall. Man könnte gut auch eine Studie mit dem Titel „Graveyards of Development Projects in Africa“ schreiben.
Wie Entwicklung geht
Was wir bestimmt wissen: Ein erweiterter Mutter-Theresa-Ansatz hat noch nie ein armes Land auf eine nachhaltige Wachstumsschiene befördert. Wie Entwicklung geht, weiss man dank den erfolgreichen asiatischen Tigerstaaten schon lange. Singapur, Hongkong, Südkorea und Taiwan sind nicht durch Entwicklungshilfe reich geworden, sondern dank wachstumsfreundlichen, von westlichen Vorbildern inspirierten Institutionen und Politiken: Rechtssicherheit, Öffnung nach aussen, Vertragsfreiheit, geschützte Eigentumsrechte, Marktwirtschaft, politische Stabilität, Bekämpfung der Korruption. Fast all dies fehlt in praktisch allen armen Ländern.
Dass Demokratie für den wirtschaftlichen Aufstieg keine Vorbedingung ist, mag für westliche Empfindungen störend sein. Nimmt man allerdings eine etwas angepasste Definition von Demokratie, die sich nicht auf das Vorhandensein von Wahlen und möglichen Regierungswechseln stützt, dann ändert sich die Perspektive. Eine autokratische Regierung kann die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich haben, wenn sie eine Politik verfolgt, die den meisten Menschen nützt. Mit dieser Rückkoppelung funktionieren wohlwollende Diktaturen. Demokratie kann warten, siehe Singapur, Taiwan und Südkorea – oder auch Europa. Denn zur Zeit der Industrialisierung und des wirtschaftlichen Aufschwungs Europas im 19. Jahrhundert war die Schweiz weitherum fast die einzige Demokratie – allerdings bezeichnenderweise während Jahrzehnten mit einer Art FDP-Einparteien-Regierung.
Ich bin mit deiner reservierten Meinung zur gegenwärtigen Entwicklungshilfe einverstanden. Leider haben auch unsere Institutionen, das EDA und vor allem die im Entwicklungssektor tätigen NGO, nicht begriffen, dass Mikroentwicklungshilfe keine Entwicklung bringt. Es tönt ja gut, wenn man sich an einem neuen Brunnen in Afrika freut – da ist hierzulande der Applaus sicher. Nur trägt das nicht zur Entwicklung bei – eher trifft das Gegenteil zu: Die Mikroempfänger warten auf die nächsten Zahlung…
Viele wichtiger sind Makroentwicklungen: Gute, leistungsfördernde Institutionen, eine cleveres Vertragsrecht mit Sanktionen, der Rechtsstaat, die Eigentumsgarantie und stabile Rahmenbedingungen, die auch langfristige Investitionen zulassen. Hier sind NGO im allgemeinen überflüssig. Angus Deaton hat recht: Entwicklung gibt es nur, wenn sie von innen kommt.