Irène Kälin lüftet das Geheimnis des grünen Krebsgangs

Im Interview mit der Weltwoche ((Nr. 37.24, Seite 90) lautet eine Frage an die grüne Nationalrätin Irène Kälin: „Was ist das Schönste an der Schweiz?“. Kälin: „Mit Ausnahme der Autobahnen und AKW ist die Schweiz eine Schönheit…“

So viel ideologische Verblendung sei jedem und jeder gegönnt. Nur wird es problematisch, wenn die betreffende Person im Nationalrat sitzt und Politik macht, wie das bei Frau Kälin der Fall ist. Eine solche Aussage zeugt von einem erschreckenden Ausmass an historischer und ökonomischer Inkompetenz. Frau Kälin könnte sich zum Beispiel fragen, ob die Tatsache, dass wir Autobahnen und AKW haben, vielleicht etwas damit zu tun haben könnte, das die grüne Nationalrätin an anderer Stelle des Interviews erwähnt: „Es ist der Luxus….., sagen zu können, dass ich keine materiellen Wünsche habe. Denn ich habe alles.“

Kälin bestätigt sich in diesem Interview als Anhängerin einer „De-growth“-Ideologie. Wie ungern Leute dabei mitmachen, sehen wir aktuell am Krebsgang grüner Parteien.

Öffentliche Gelder als Booster für privaten Gewinn?

Eine ganzheitliche Sicht zeigt ein objektiveres Bild

Wer den Begriff „General Purpose Technologies“ oder kurz GPTs noch nie gehört hat, kann sich auf YouTube das Referat der prominenten Ökonomin Mariana Mazzucato bei der norwegischen Investment-Firma Skagen Fondene anschauen. Dort zeigt sie diese Folie:

GPTs sind Technologien, die mit staatlichen Mitteln angestossen oder gefördert wurden, bevor sie in der privaten Wirtschaft über Produktivitätsfortschritte monetarisiert werden konnten. Mazzucatos Liste auf der Folie zeigt eine Auswahl solcher GPTs. Im Begriff enthalten ist die Kritik an einer einseitigen Sicht von Innovation und technologischem Fortschritt.

Mazzucato betont die entscheidende und oft unterschätzte Rolle des Staates. Diese Rolle soll sich nicht auf die Beseitigung von Marktversagen beschränken, wie es marktliberale Ökonomen fordern. Mazzucato plädiert für einen neuen Kapitalismus. Das ist nach ihrer Ansicht ein System, in dem Staat, Politik und Privatwirtschaft, alle im Rahmen vielfältiger gegenseitiger Beziehungen, für Innovation ihren Beitrag leisten. Kein Wunder, heisst ihr vielleicht bekanntestes Buch „The Entrepreneurial State“. Wer das Gefühl hat, das rieche nach einer aktiven Industriepolitik, liegt nicht ganz falsch.

Mazzucato kritisiert im erwähnten Referat auch kurz die stark gewachsene Einkommens- und Vermögensungleichheit und assoziiert dies mit dem Phänomen der GPTs bzw. den besonders profitierenden grossen Techfirmen und ihren Aktionären. Man kann daraus schliessen, dass sie der Meinung ist, Investitionskosten für Innovation und Gewinne daraus seien zulasten des Staates ungerecht, vor allem aber auch ineffizient verteilt. Diese Sichtweise hat auch in der breiteren Öffentlichkeit viele Anhänger. Dabei wird jedoch ein Aspekt, der für eine ganzheitliche Sichtweise wichtig ist, unterschlagen.

Nicht nur zahlen private Unternehmen und ihre Angestellten Steuern, die erfolgreichen mehr als die mittelmässigen. Mindestens so wichtig, wenn nicht sogar wichtiger ist ein anderer Aspekt. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass private Firmen kaum je in der Lage sind, allen Nutzen, den sie für die Kunden bzw. die Gesellschaft schaffen, als Erträge oder Gewinne zu internalisieren. Erstens bleibt immer eine Konsumentenrente extern bei den Kunden hängen. Das ist die Differenz zwischen der maximalen Zahlungsbereitschaft und dem Marktpreis. Alle Kunden, die kaufen, wären auch bereit, einen zumindest marginal höheren Betrag zu zahlen als den Marktpreis.

Jenseits der Konsumentenrente schaffen gerade erfolgreiche innovative private Firmen, die von staatlicher Förderung profitiert haben, auch noch sozialen Nutzen, den sie nicht internalisieren können. Auf der Konsumseite entstehen kaum bezifferbare allgemeine Produktivitäts- und Qualitätsfortschritte. Diese Effekte sind in einer Gesamtbetrachtung auch zu berücksichtigen, sonst erhält man ein verzerrtes Bild. Wenn staatliche Mittel Innovationen angestossen haben, profitiert die Gesellschaft am Ende kompensierend durch die genannten positiven externen Effekte unternehmerischer Tätigkeit.

Zudem ist nicht zu vergessen, dass die Weiterentwicklung einer gewissen Basistechnologie in Geschäftsmodelle mit marktfähigen Produkten eine beträchtliche unternehmerische Leistung darstellt. Dass dies nur in der privaten Wirtschaft erfolgreich geschehen kann, hat mit den positiven Anreizen einer freien Wettbewerbswirtschaft zu tun.

Ein deutscher SRF-Korrespondent, der nicht weiss, was Demokratie ist

Auch auf unseren SRF-Kanälen gibt es eine latent spürbare Sympathie für den „Kampf gegen rechts“ in Deutschland. Manchmal geschieht dies in verdeckten Botschaften, die man fast überhört. Jüngst in einer Informationssendung von Radio SRF: Ein deutscher Korrespondent kommentiert Themen im Zusammenhang mit den bevorstehenden Wahlen in den ostdeutscheun Bundesländern Thüringen, Sachsen und Brandenburg.

Zuerst geht es um die in Umfragen führende AfD. Dann wechselt der Korrespondent in seinem Kommentar zu den anderen Parteien und nennt diese in Abgrenzung zur AfD mit grösster Selbstverständlichkeit die „demokratischen Parteien“. Die AfD ist also für ihn – und wohl auch für viele Sympathisanten in den SRF-Redaktionsstuben – eine nicht demokratische Partei. Vor ihr muss gewarnt werden, weil sie die Demokratie abschaffen will.

Das Thema ist überhaupt nicht neu, denn schon unzählige Male hat man die Sinnverdreher daran erinnern müssen, dass sich Demokratie vor allem dadurch auszeichnet, dass freie Wahlen stattfinden, und dass die Ergebnisse dieser Wahlen, sofern die vorgegebenen Regeln eingehalten werden, zu akzeptieren sind.

Die oft gehörte wohlfeile Forderung nach einer „wehrhaften Demokratie“ sind in einem institutionell stabilen Land wie Deutschland nichts anderes als Macht- und Ablenkungspolitik der versagenden Mainstream-Parteien, die Merkel-Merz-CDU mit ihrer Brandmauer gegen rechts eingeschlossen. Diese Parteien sind am Aufstieg der AfD schuld. In jüngster Zeit ganz besonders, weil sie unfähig sind, die drängenden Problem des Landes nachhaltig anzugehen.

Faesers Messerverbot: Typisch links-grüne Logik

Dieses Messer dürfte noch knapp durchgehen

Die Medien berichten, die deutsche Innenministerin Nancy Faeser wolle wegen der ansteigenden Zahl der Messerangriffe das Messerverbot verschärfen. Nur noch Messer mit Klingen bis zu 6 cm Länge sollen die Leute auf sich tragen dürfen. Die Zeitung „Welt“ schreibt dazu: „Ein Messerverbot kann keine geordnete Asylpolitik ersetzen.“

Doch die SPD-Innenminsterin bewegt sich mit ihrem Projekt ganz auf der Linie links-grüner Logik, die einer „end-of-the-pipe“-Politik Vorschub leistet. „End-of-the-pipe-Massnahmen sind nachgeschaltete Eingriffe, die unerwünschte Symptome unterdrücken wollen, aber an deren Ursachen nichts ändern. Der oben zitierte Satz aus der „Welt“ beschreibt das Phänomen in kürzester Weise. Die Merkel’sche Asylpolitik der Willkommenskultur genoss im links-grünen Spektrum bekanntlich am meisten Sympathien. Die Ampel-Koalition hat daran noch nichts Wesentliches geändert.

Ein anderes Muster von „end-of-the-pipe“: Die von Links-grün am überzeugtesten gepushte e-Mobilität gehorcht der Logik, was keinen Auspuff hat, ist gut für das Klima und die Umwelt. Alle vorgelagerten und nicht direkt sichtbaren Umweltbelastungen der e-Mobilität, nicht zuletzt auch jene jenseits der arbiträr gezogenen nationalen Systemgrenzen, werden ausgeblendet. Politisch ist dies insofern rational, als es für eine solche Sichtweise ein politisches Marktsegment gibt, das es zu bedienen gilt. Einer immer noch erstaunlich grossen Zahl von Menschen erscheint die links-grüne Logik plausibel.

„End-of-the-pipe“ sind im Übrigen auch die von US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris angedrohten Preiskontrollen für Lebensmittel. Ein typisch linkes Rezept – garniert mit dem latenten oder offen geäusserten Vorwurf des „Wuchers“. Wo Harris auf dem politisch-ideologischen Spektrum anzusiedeln ist, wissen wir inzwischen.

Vielleicht doch nicht Harris?

‚The COOK POLITICAL REPORT‘ veröffentlichte am 21. August 2024 den jüngsten National Polling Average. Diese interaktive Plattform verfolgt den Präsidentschaftswahlkampf 2024 anhand eines Durchschnittswerts ausgewählter nationaler Umfragen und aktualisiert ihn täglich um 12:00 und 24:00 Uhr Eastern Time.

Ein Ausschnitt aus einer am 21. August gezeigten Tabelle sieht so aus:

Ingesamt (Overall), d.h. über alle demographischen Kategorien hinweg, liegt Harris nun zwar leicht in Führung. Erwartungsgemäss sind Frauen mehrheitlich für Harris, Männer mehrheitlich für Trump.

In diesen Umfragen zeigt sich wieder der bekannte und viel diskutierte Graben zwischen der akademischen Elite (White College) und der Wählergruppe ohne akademische Bildung ((White Non-College) auch als ‚working-class voters‘ bezeichnet. Diese ‚White Non-College‘-Wähler waren traditionell ein wichtiges Wählerreservoir für die Demokratische Partei. Sie sind aber inzwischen massiv zu den Republikanern abgewandert, seit Trump mit seinen „America First“- und „Make America Great Again“-Slogans die Republikanische Partei praktisch übernommen hat.

Die Demokraten haben allerdings durch die zunehmende „Wokeisierung“ ihrer Partei selbst zu dieser Abwanderung wesentlich beigetragen. Die der Demokratischen Partei nahestehende digitale News-Plattform „The Liberal Patriot“ kämpft seit langem gegen diese Dominanz einer akademisch gebildeten Elite in der Partei.

Bis zum Wahltag sind selbstverständlich noch Verschiebungen möglich, insbesondere unter noch nicht entschiedenen Wählern, darunter auch solchen, die gegen eine erneute Biden-Trump-Wahl durch Wahlabstinenz protestiert hätten und sich jetzt für die Teilnahme an der Präsidentschaftswahl entschieden haben. Ich bin der Meinung, dass unter bisher unentschiedenen Wählern Harris mehr Stimmen gewinnen wird als Trump. Der New York Times entnehme ich heute den Satz, es seien „many younger Americans quickly moving to support Harris“. Gerade dies war zu erwarten.

Die grosse Frage ist, ob Harris die Dynamik und die Aufbruchstimmung nutzen kann, die durch den Rückzug von Biden entstanden ist. Problematisch scheint mir die grosse Diskrepanz zwischen dieser Aufbruchstimmung in der Demokratischen Partei und den abgestandenen linken wirtschafts- und sozialpolitischen Rezepten, die man bisher aus Verlautbarungen von Harris und ihrem „running mate“ Walz herauslesen konnte.

Und schliesslich zählen am Ende nicht die reinen Wählerstimmen, sondern es kommt auf die Zahl der gewonnen Elektorenstimmen an. Und dort liegt Trump nach aktuellen Berechnungen immer noch vorn.

Trump wird verlieren

Mein Fauteuil-Kommentar zum Selbstverschulden Trumps

(Bildquelle: SRF – google)

Wenige Tage nach der Ankündigung von Joe Biden, keine zweite Amtszeit als Präsident anzustreben, und nach der einhelligen Zustimmung der Elite der Demokraten zu einer Kandidatur von Vizepräsidentin Kamala Harris, war für mich klar, dass Trump die Wahl verlieren wird. Meinen Rennvelokollegen schlug ich eine Wette vor, aber niemand wollte darauf eingehen.

Meine Prognose hängt nicht nur mit der Aufbruchstimmung zusammen, welche die Abwendung eines erneuten unbeliebten Duells Biden-Trump auslöste. Mit einer im Vergleich zu Trump geradezu jungen „coloured“ Frau und einem geschickt gewählten Vize-Kandidaten musste Trump zwingend in die Defensive geraten.

Meiner unmassgebenden Meinung nach machte Trump (bzw. sein Team, sofern er überhaupt auf dieses hört) einige Fehler, die seine Wahlchancen entscheidend mindern:

  1. Mit seinen Attacken auf Biden trug er zu dessen Rückzug aus dem Rennen um die Präsidentschaft bei. Dabei zeigten alle Umfragen seit Monaten, dass Trumps Chancen, gegen Biden zu gewinnen, sehr gut waren. Offenbar schätzte man auf Trumps Seite die Erfolgschancen gegen ein neues Ticket der Demokraten falsch, also zu gut ein. Mit einer möglichen Aufbruchsstimmung, wie sie bald sichtbar wurde, rechnete man kaum, obwohl Umfragen auch gezeigt hatten, dass rund 70 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung mit einer erneuten Konstellation Biden gegen Trump unzufrieden waren und sich eine andere Wahlsituation wünschten.
  2. Trump wählte seinen „running mate“ James D. Vance für die Vizepräsidentschaft zu früh. Diese Wahl hätte man besser davon abhängig gemacht, wem Trump im November gegenübersteht. Der Rückzug von Biden war keine Überraschung; man musste damit rechnen, als sich die Elite der Demokraten von Bidens Kandidatur distanzierten. Im Wissen um eine Kandidatur von Kamala Harris hätte man sich gut eine andere Wahl des Vize-Kandidaten vorstellen können.
  3. James D. Vance ist zwar mit seinen 40 Jahren immerhin deutlich jünger als Kamala Harris (59), wirkt aber nicht unbedingt so. Zudem ist er ein zweiter weisser Mann. Programmatisch ist er heutzutage weitgehend mit Trump deckungsgleich. Er spricht ähnliche Wählerschichten an wie Trump. Es scheint für Trump kaum einen additiven Vorteil mit Vance zu geben.
  4. Trump scheint nicht in der Lage zu sein, seinen aggressiven Wahlkampfstil der neuen Situation anzupassen. Er hat es jetzt mit einer vergleichsweise jugendlich wirkenden „coloured“ Frau zu tun, was den 78-Jährigen in eine neue Kontrast-Situation bringt. Abschätzige Bemerkungen über Kamala Harris stossen vor allem im Feld der Unentschlossenen bestimmt auf Ablehnung. Harris böte auf programmatischer Ebene eigentlich genügend Angriffsfläche für eine sachliche Auseinandersetzung. Wenn man mit einem knappen Ergebnis der Wahl rechnen muss, kommt es auf wenige Stimmen an, welche die Seite wechseln.

Das sind meine Argumente für meine Prognose, dass Trump die Wahl, teilweise selbstverschuldet, verlieren wird. Alles bloss aus dem Fauteuil des unbeteiligten Beobachters gesprochen.

Offizielle Fehlprognosen – nur lautere Motive?

Zu den zu hohen Prognosen der AHV-Ausgaben durch das Bundesamt für Sozialversicherungen

Dazu ist schon alles Mögliche geschrieben worden. In der heutigen NZZ findet sich eine sorgfältige Darstellung der Komplexität von solchen Prognosen, was man als teilweise Entlastung der Verantwortlichen verstehen kann. Dort stand auch folgender Abschnitt:

Im politischen System der Schweiz sind gewisse Volksabstimmungen, insbesondere für Bundesräte und deren Departemente, eine ausserordentliche Prestigesache. Als Beispiel sei etwa der Fall der früheren Energieministerin Doris Leuthard mit ihrem Prestigeprojekt des Energiegesetzes erwähnt. Was im Vorfeld der Abstimmung vom Mai 2017 alles für Hebel in Bewegung gesetzt wurden, und mit was für abenteuerlichen Zahlen die offiziellen Stellen mit all ihren Verbündeten damals operierten, nährt den Verdacht, dass bei solchen Prognosen manchmal auch weniger lautere Motive ein Rolle spielen. Eine Abstimmungsniederlage ist für ein Mitglied des Bundesrates zwar kein Anlass, zurückzutreten. Aber ein Scheitern vor dem Stimmvolk bleibt im bundesrätlichen Notenheft dennoch für immer stehen.

Krasse Fehlprognosen bei der Personenfreizügigkeit

Die im NZZ-Artikel erwähnten Fehlprognosen zur Zuwanderung als Folge der Personenfreizügigkeit sind wohl das krasseste Beispiel. Ein Verdacht auf politische Manipulation ist hier nicht zu beseitigen. Der Schock des EWR-Neins vom Dezember 1992 sass den Behörden noch spürbar in den Knochen. Die Angst vor einem erneuten Scheitern beim Stimmvolk war derart gross, dass man sich wenig Mühe gab, die Plausibilität der Prognosen, unter anderem mithilfe von Sensititvitätstests, zu überprüfen. Hauptsache war offenbar, dass die veröffentlichten Zahlen eine beschwichtigende Wirkung auf die Sorgen der Leute ausübten.

Kann sich heute jemand eine Schweiz im Jahr 2050 vorstellen, die mit 7,2 Millionen Einwohnern funktioniert? Die damaligen Schätzungen waren derart falsch, dass man sich nicht wundern muss, dass die Personenfreizügigkeit zu einem Dauerthema geworden ist. Die Warner vor einer 10-Millionen-Schweiz einfach als ‚Abschotter‘ zu etikettieren, trägt zur Bewältigung der Herausforderungen in der Migrationspolitik jedenfalls nichts bei.

Harte Zeiten für die westlichen Demokratien

Dieser Text erschien unter dem Titel „Lasst euch lumpen“ in der Weltwoche 20.24 vom 16. Mai 2024

Im fernen Jahr 1994 erklärte Paul Krugman, der US-amerikanische Wirtschafts-Nobelpreisträger von 2008, in einem Artikel in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ den wirtschaftlichen Aufstieg der asiatischen Tigerstaaten (Südkorea, Taiwan, Singapur) mit ihren hohen Wachstumsraten wie folgt: „Wenn es ein Geheimnis für das asiatische Wachstum gibt, dann ist es schlicht aufgeschobene Belohnung („deferred gratification“), also die Bereitschaft, für zukünftigen Gewinn aktuelle Bedürfnisbefriedigung zu opfern. Das ist eine schwer zu akzeptierende Antwort, besonders für amerikanische politische Intellektuelle, die vor der tristen Aufgabe zurückschrecken, Defizite abzubauen und die nationale Sparquote zu erhöhen.“

Diese glasklare Begründung, die mit ihrer liberal-konservativen Botschaft so gar nicht zum heutigen linksgewickelten Krugman passt, mag krud erscheinen, aber sie enthält den wesentlichen Punkt. Was zu ergänzen wäre: Um eine Strategie des aufgeschobenen Konsums, hoher Sparquoten und geringer Verschuldung durchzuhalten, brauchte es den „wohlwollenden Diktator“ (Lee Kwan Yew in Singapur) oder autokratische Institutionen mit einer dominierenden Partei (Taiwan und Südkorea). Die Schweiz bot in der Gründerzeit nach 1848 als repräsentative Demokratie mit einer FDP-Einparteienregierung ein frühes Muster des volkswirtschaftlichen Aufstiegs durch „deferred gratification“. Bis heute profitieren wir von den Pionierleistungen jener Periode.

Mit einem Wachstumsprogramm unter dem Slogan „deferred gratification“ sind in den wohlfahrtsstaatlichen Demokratien von heute keine Wahlen zu gewinnen. Besonders die Politiker der hoch verschuldeten Problemländer traten bei ihren auf Gegenwartskonsum fixierten Wählern genau mit der gegenteiligen Strategie „anticipated gratification“ in Erscheinung: schuldenfinanzierte wohlfahrtsstaatliche Expansion. Wer meint, in der Schweiz sei alles anders, das heisst natürlich besser, sollte sich an den 3. März erinnern. Gälte für unsere Politik die Losung „deferred gratification“, hätten die Ergebnisse der beiden AHV-Volksinitiativen umgekehrt lauten müssen. Eine überdeutliche Mehrheit hätte gegen eine 13. Monatsrente stimmen müssen, eine deutliche Mehrheit für die Bindung des Rentenalters an die Lebenserwartung.

Institutionalisierte Dekadenz

Die westlich-europäisch geprägten Demokratien haben sich in den Jahrzehnten seit Krugmans treffender Aussage als Systeme der institutionalisierten Dekadenz erwiesen. Geradezu gesetzmässig wirken Fehlanreize auf Politik und Publikum. Das Stichwort, das fast alles erklärt, was schief läuft, lautet „Wählerkauf“. Was das in der erlebten Wirklichkeit konkret bedeuten kann, lässt sich zum Beispiel an dem oft erbärmlichen Zustand italienischer Staatsstrassen besichtigen. Oder ein anekdotisches Beispiel aus Deutschland: In der Nähe zur Schweizer Grenze empfehle ich die Besichtigung des verwahrlosten Bahnhofs der Kreisstadt Tuttlingen mit immerhin knapp 40’000 Einwohnern.

Dramatisch zeigt sich das Phänomen „Wählerkauf“ auch an der Unwilligkeit der europäischen NATO-Staaten, ihren angemessenen Beitrag zum westlichen Verteidigungsbündnis zu leisten. So haben sie sich sehenden Auges in die Abhängigkeit von strategischen Interessen der USA begeben. Gemeinsam ist den staatlichen Kernaufgaben Militär und Infrastrukturen, dass sie im Vergleich zu direkten Begünstigungen in der Bevölkerung und der Politik eher unpopulär sind.

Die populären Begünstigungen sind überwiegend gesetzlich gebundene, oft sozialpolitisch, zunehmend auch klima- oder industriepolitisch begründete Staatsausgaben. In der Sozialpolitik steigen die Ansprüche allein aus demografischen Gründen. Andernorts, weil Fördergelder nicht wie erhofft wirken und deshalb nach üblicher politischer Logik einfach erhöht werden – nach dem Motto „mehr vom gleichen“. Und immer öfter braucht es zusätzlich Geld, um politische Fehlleistungen auszubügeln.

Konditionierung der Menschen im Wohlfahrtsstaat

Im fortgeschrittenen Wohlfahrtsstaat sind fast alle Interessen auf Bedürfnisbefriedigung in der unmittelbaren Gegenwart gerichtet. Das historische Verständnis für die Ursachen des langfristigen wirtschaftlichen Fortschritt ist verloren gegangen. Mit der Zersplitterung der Parteienlandschaft in den westlichen Demokratien befinden sich die Parteien, von Umfragen getrieben, im Dauerwahlkampf. Denn wenige Prozentpunkte an Wählerstimmen können über die Beteiligung an einer Koalitionsregierung bestimmen. Das steigert die Anreize für schuldenfinanzierte Wohltaten auf Kosten späterer Generationen.

Die hier beschriebenen Entwicklungen werden ausserhalb unserer Gesellschaften als Symptome westlicher Dekadenz wahrgenommen. Die wünschbare echte Zeitenwende zurück zu einem verantwortungsvollen Umgang mit knappen Ressourcen wird dadurch erschwert, dass der Wohlfahrtsstaat menschliches Verhalten konditioniert. Erwartungen an Politik und Staat werden, moralisch aufgeladen, zu Ansprüchen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind, weil sich daraus eine Art Gewohnheitsrecht ableiten lässt. Die Leistungsbereitschaft nimmt in einem solchen Klima Schaden. Das Recht auf Wohlstand ist kein Menschenrecht. Wobei wir nicht sicher sein können, ob der EGMR in Strassburg das nicht anders sieht.