„The coronavirus … is a virus with public relations“

Zur Logik des politischen Überschiessens in Zeiten der Krise

Was Dr. Yoram Lass, ein israelischer Arzt und früherer Generaldirektor des Ministeriums für Gesundheit mit dem Zitat im Titel ausdrücken wollte: Die alle Nachrichten und sozialen Medien dominierende Coronakrise ist in unserer neuen Welt der Kommunikation auch, wenn nicht sogar primär ein Medienphänomen. Und es gibt eine ganze Reihe von Akteuren und Interessengruppen, die von der Epidemie profitieren. Dazu gehören, natürlich ohne es zu wollen, auch die politischen Behörden, deren Popularität in die Höhe schnellt. Plötzlich wird der italienische Ministerpräsident Conte in seinem gebeutelten Land zum Helden. Wie Bundeskanzlerin Merkel in Deutschland.

Dr. Peter Goetzsche, Professor für Design und Analyse klinischer Forschung an der Universität Kopenhagen brachte die Anreizsituation für die Politik in einem Blog-Post treffend auf den Punkt: „Our main problem is that no one will ever get in trouble for measures that are too draconian. They will only get in trouble if they do too little. So, our politicians and those working with public health do much more than they should do.“ Im Ökonomenjargon könnte man auch sagen, die Politik handle mit einer extrem hohen Gegenwartspräferenz. Zur Vermeidung von potenziell sichtbaren, gezählten und namentlich bekannten Todesfällen jetzt und heute nimmt die Politik all die namenlosen Sterbefälle sowie die weiteren Opfer in Kauf, welche der rigorose gesellschaftliche Shutdown zweifelsfrei schon jetzt, aber auch in näherer und fernerer Zukunft hinterlassen wird. Dabei richtet sich die Politik fast überall, quasi asymmetrisch, nur nach den vor Hunderttausenden von Todesfällen warnenden alarmistischen Epidemiologen. Dass es über die Gefährlichkeit der Seuche und die angemessenen Massnahmen auch viele mässigende Stimmen von prominenten Experten gibt, bleibt dabei auf der Strecke.

So können Regierungen, denen in jüngerer Vergangenheit nicht mehr viel Zählbares gelungen ist, plötzlich Führungsstärke markieren. Wenn dann die Zustimmungsraten zur Politik der Regierungen in die Höhe schnellen, gilt dies als Beweis, dass deren Politik richtig ist. Doch die Katze beisst sich in der Schwanz: Die absurd einschneidenden Massnahmen der Politik, verstärkt durch die Mechanismen der heutigen Medien, konditionieren zuerst die öffentliche Meinung so, dass rabiate Einschränkungen der persönlichen Freiheit als alternativlos hingenommen werden. Und dann haben die Behörden die überwiegende Mehrheit der Leute natürlich hinter sich.

Und weil gefühlte 90 Prozent der Leute die Schulzeit als ökonomische Analphabeten verlassen haben und nur nominell in Geld denken, glauben sie auch an die versprochenen segensreichen Wirkungen der staatlichen x-Milliarden- oder gar Billionen-„Hilfsprogramme“, die paradoxerweise gerade wegen dem politisch verordneten Shutdown angeblich unumgänglich sind. Über die aufgetürmten Schuldenberge, welche wir den heutigen Jungen und den nachfolgenden Generationen hinterlassen, machen sich die „Boomer“ an den Hebeln der Macht keine Sorgen.

Gleicher Fit für alle?

Die Politik im Corona-Fieber

Die Schweiz als Land mit der inzwischen zweithöchsten Infektionsrate weltweit nähert sich langsam auf Geheiss von Bundesrat und Behörden der italienischen Total-Quarantäne mit Versammlungs- und Ausgehverboten. Noch sind wir nicht ganz so weit. Aber die Wirtschaft, besonders die gewerbliche der KMU, ist grossenteils lahngelegt. Die Schulen sind geschlossen. Sind diese extremen Einschränkungen, die keinen Unterschied zwischen den Risikogruppen machen, gerechtfertigt?

Besonders aus Asien (China, Korea), aber auch aus Italien gibt es mittlerweile statistische Daten, welche in der NZZ – ausführlich kommentiert – publiziert werden. Eine rationale Politik müsste sich bei massiven Eingriffen in das Leben der Menschen, wie sie jetzt fast überall in Europa angeordnet worden sind, an solchen verfügbaren Daten orientieren. Das tut sie aber offensichtlich nicht, auch weil die Verlautbarungen der Behörden selbst zu grosser Besorgnis in der Bevölkerung beigetragen haben. Also richtet man sich nach den Sorgen und Ängsten in der breiten Bevölkerung. Von den statistischen Daten, welche die NZZ grafisch dargestellt publiziert hat, sind diese besonders erwähnenswert:

  • Die Untersuchung von über 44’000 COVID-19-Fällen in China zeigte, dass bei gut 80 Prozent der Infizierten nur milde Symptome auftraten. Nur bei rund 5 Prozent zeigten sich kritische Symptome. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass (nicht getestete) Corona-Infizierte ohne Symptome gar nicht in der Grundgesamtheit zur Prozentberechnung, also im Nenner, enthalten sind (Stichwort hohe Dunkelziffer).
  • In den Altersgruppen 0 bis 29 betrug die Mortalität in China unter 1 Promille (der erfassten Infizierten, ohne Dunkelziffer). Dann steigt sie auf 1,3 Prozent für die Altersgruppe 50 bis 59. Dann folgt ein steiler Anstieg bis zu einer Letalität von 14,8 Prozent bei den über 80-Jährigen.
  • In Korea war die Mortalität in allen Alterskategorien deutlich tiefer als in China. Das könnte eine statistische Ursache haben, weil Korea früh umfassende Tests einführte und deshalb die Grundgesamtheit der erfassten Infizierten, also der Wert im Nenner der Berechnung, im Verhältnis zu allen Infizierten inkl. Dunkelziffer grösser war als in China.
  • Von 105 untersuchten Todesfällen in Italien betrug das Durchschnittsalter 81 Jahre, alle waren über 70. Praktisch alle hatten mindestens eine bereits bestehende Krankheit, gut 80 Prozent der Verstorbenen hatten drei oder mehr Vorerkrankungen. Die Corona-Erkrankung musste in diesen Fällen nicht einmal der Grund des Ablebens sein. Dieser Befund wird auch in anderen Untersuchungen bestätigt.

Kaum ein europäisches Land hat seine Anti-Corona-Politik aufgrund dieser Erkenntisse gestaltet und nach Risikogruppen abgestufte Einschränkungen verordnet. Es läuft eine Art internationaler Interventionswettlauf der Nationen. Und es gilt das in der Politik beliebte Gerechtigkeitsprinzip „gleicher Fit für alle“. Also legt man kurzerhand die ganze Gesellschaft lahm. Dabei werden grosse Einbussen an persönlicher Freiheit und enorme wirtschaftliche Verluste in Kauf genommen. Niemand weiss, wie lange ein solcher „shut down“ überhaupt durchzuhalten ist. Was die wirtschaftlichen Verluste betrifft, ist der Prozess irgendwie paradox. Zuerst verursacht die pauschale Quarantänen-Politik des Staates einen potenziell massiven wirtschaftlichen Einbruch praktisch quer durch fast alle Branchen, und dann spricht derselbe Staat gigantische Stützungspakete für alle möglichen Opfer seiner Politik. Und wer bezahlt dafür am Ende? Natürlich wir oder unsere Nachkommen als Steuerzahler, denn auch für den Staat gilt: Jeder Franken kann nur einmal ausgegeben werden.

Verdrängte Risiken einer Corona-Hysterie

Divergenzen zwischen einer eng medizinischen und einer umfassend gesellschaftlichen Sichtweise

Meine heutige Leserzuschrift an die NZZ (leicht nachredigiert):

Die NZZ berichtet leider fast ausschliesslich lobend und unterstützend über die massiven politisch verordneten Einschränkungen des Lebens durch die Corona-Epidemie. Was mir verstörend erscheint, ist, dass sich prominente Epidemiologen nicht lautstark zu Wort melden und überschiessende politische Massnahmen verurteilen. Die Experten, die in den Medien zu Wort kommen, haben oft einen aus ihrer speziellen Position eingeengten Tunnelblick, nämlich den des unmittelbaren Rettens von Menschenleben hier und jetzt. Was aber not täte, ist eine gesellschaftliche längerfristige Kosten-Nutzen-Perspektive.

Nach allem, was ich bisher gelesen und gehört habe, sind die Symptome einer Corona-Virus-Erkrankung Atemwegsinfektionen, ganz ähnlich wie bei einer normalen Grippe. Solche Viren sind sanfte Erreger, weil sie „evolutionsbiologisch“ nicht wollen, dass wir sterben, sonst sterben sie auch. Das Corona-Virus will sich möglichst breitflächig verbreiten. Das geht aber nur, wenn die Infektion nicht zum Tod des Infizierten führt. Deshalb ist der Krankheitsverlauf relativ harmlos, ausser für ältere stark geschwächte Menschen mit oft mehreren Vorerkrankungen. Praktisch alle Todesfälle betrafen bisher solche Menschen. 

Das Problem mit rigorosen Quarantänen, wie sie jetzt überall Trumpf sind, liegt darin, dass sich die Masse der Menschen nicht via Infizierung gegen das Virus immunisieren kann und das Virus im Zuge dieses Prozesses an Virulenz verliert. Ich weiss als Laie nicht, ob ich das biologisch ganz korrekt und fachgerecht ausgedrückt habe, aber dem Sinn nach dürfte es stimmen. Die Verhinderung des genannten Prozesses erhöht das Risiko, dass früher oder später neue Wellen der Erkrankung auftreten und man mit neuen Opfern rechnen muss, weil das Virus weiterhin für die Menschen virulent ist.

So funktioniert halt eine Gesellschaft, deren moderne Medizin die Evolutionsmechanismen ausser Kraft setzt: Man rettet heute durch eine maximal interventionistische Politik Leben auf Kosten späterer Opfer. Zudem produziert eine extreme Quarantänenpolitik mit massiven gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Einbrüchen auch unmittelbare finale Opfer, die aber nicht sicht- und zählbar sind und deshalb politisch nicht zählen.

Sicher kommt nun Kritik, es sei vermessen, dass sich ein Ökonom zu Themen äussere, für die Fachleute aus Medizin, Biologie und Epidemiologie zuständig seien. Solche Kritik verkennt jedoch, dass es bei der Bewältigung von gesellschaftlichen Krisen unter Mittelknappheit stets um Kosten-Nutzen-Überlegungen, um Trade-offs und um Opportunitätskosten geht. Ein einmal eingeschlagener Weg schliesst alle anderen möglichen Ansätze des Handelns aus. Solches Abwägen gehört zu den Kernkonzepten ökonomischen Denkens.

Unsere teuren Gratis-Grosseltern

Die „Ökonomisierung der Gesellschaft“ – mal anders herum

Der Vorwurf der „Ökonomisierung“ von immer mehr Lebensbereichen kommt gewöhnlich von links. Gemeint ist er im Grunde als Generalkritik an einer angeblich neoliberalen Vereinnahmung von Politik und Gesellschaft. Auch der bekannteste Edel-Linke der Schweiz, der frühere SRG-Generaldirektor Roger de Weck, haut gelegentlich in diese Kerbe und benützt das diffuse Schlagwort „Ökonomisierung der Gesellschaft“ in Referaten. Die geneigte Zuhörerschaft kann dann selber assoziativ und weitgehend faktenfrei den Bezug zu den behaupteten neoliberalen Tendenzen machen.

Wie die „Ökonomisierung der Gesellschaft“ von links aussieht, können wir aktuell in den Medien erfahren. Einem Bericht im Zürcher Tages-Anzeiger vom 9. März entnehme ich Folgendes: In einer neuen Studie wurde errechnet, dass die Grosseltern in der Schweiz jährlich während 160 Millionen Stunden Enkel hüten – gratis natürlich. Offenbar verwendeten die Autoren oder Autorinnen der Untersuchung einen Stundenansatz von 50 Franken für den „Opportunitätsnutzen“, denn der volkswirtschaftliche Wert der grosselterlichen Hüterei wird mit 8 Milliarden Franken beziffert. So viel Wertschöpfung entstünde also dadurch, dass beide Eltern dank der Entlastung durch die Grosseltern arbeiten können.

Ob diese Schätzung Hand und Fuss hat, soll hier nicht untersucht werden. Interessanter ist die Frage, was für Motive die Auftraggeber zu der Studie bewegt hatten und was für politische Folgerungen daraus abgeleitet werden. Die Autorin der Studie, die emeritierte Psychologie-Professorin Pasqualino Perrig-Chiello folgert (immer gemäss Tages-Anzeiger), dass es in der Schweiz zu wenig staatliche Sozialleistungen für Familie und Kinder gebe. Die Schweiz sei auch hier im Rückstand. Und die unvermeidliche ehemalige CVP-Nationalrätin und Familienpolitikerin Lucrezia Meier-Schatz ortet noch eine ganz spezielle Ungerechtigkeit, mit der auch irgendeine neue Form der staatlichen Kompensation begründet werden könnte: Nicht alle Eltern mit Kindern haben Grosseltern zum Hüten. Dann halt vielleicht besoldete Staats-Grosseltern?

Meist werden für solche Studien, deren Resultat und politischer Zweck zum vorneherein festehen, die passenden Autoren oder Autorinnen gesucht. Mit einer Psychologie-Professorin ist man jedenfalls auf der sicheren Seite, denn unter Psychologinnen muss man mit dem Mikroskop nach einer Sympathisantin nicht-linker Parteien suchen. So ist es auch kein Wunder, dass die alte abgestandene linke Klage ertönt, die Schweiz sei sozialpolitisch im Rückstand, und es brauche auch hier mehr staatliche Sozialleistungen.

Unser Wohlfahrtsstaat ist jedoch gerade deshalb besser aufgestellt und leistungsfähiger als derjenige anderer Länder, weil das Subsidiaritätsprinzip noch einigermassen gilt: Was die Menschen aus eigenem Interesse im Privaten organisieren und schultern können und wollen, soll ihnen überlassen bleiben. Da hat der Staat nichts zu suchen. Doch befinden wir uns schon seit längerem auf abschüssigem Terrain, wie auch diese Studie zeigt. Auch bei uns findet der linke sozialpolitische Aktivismus immer neue Felder, wo Ungerechtigkeiten durch staatliche Massnahmen bekämpft werden sollen.

Und was ist, wenn es den Grosseltern sogar gefällt, die Kleinen zu hüten, weil sie sonst nichts Vergnüglicheres zu tun haben? Mit der Suche nach Antworten auf solche Fragen käme man vielleicht zum Schluss, dass das Hüten nicht nur für die Eltern, sondern auch für viele Grosseltern und vielleicht sogar für die Enkelkinder ein Gewinn ist. So könnte man dieses freiwillige private Drei-Generationen-Arrangement als eine echte win-win-win-Situation sehen.

Die linke „Ökonomisierung“ der Familienbeziehungen mit der Rechnerei um den Wert der grosselterlichen Hüterei beinhaltet immer schon latent den unvermeidlichen Ruf nach dem Staat. Ich plädiere für eine andere Art von „Ökonomisierung“, nämlich für den vermehrten Gebrauch ökonomischer Denkweisen und Vernunft in der politischen Debatte. So könnte man zum Beispiel berechnen, wie viel Steuern der unersättliche Steuerstaat aus den geschätzten acht Milliarden Franken zusätzlicher Wertschöpfung bei den betreffenden Unternehmen und Haushalten abkassiert. Bei verheirateten Doppelverdienern sind auf zusätzlichem Einkommen Grenzsteuersätze von weit über 50 Prozent keine Seltenheit.

Dogma Personenfreizügigkeit

Zur Selbstbestimmungs-, Begrenzungs- oder Kündigungsinitiative der SVP

Die Bilateralen Verträge I von 1999 mit der EU enthalten als ersten Vertrag von sieben sektoriellen Abkommen die Personenfreizügigkeit. Die Volksinitiative der SVP, in den eigenen Kreisen positiv als Selbstbestimmungsinitiative bezeichnet, will den Vertrag über die Personenfreizügigkeit kündigen, um danach mit der EU eine neue Regelung auszuhandeln, die der Schweiz das Recht geben soll, die Zuwanderung wieder nach eigenen Interessen zu steuern. In gegnerischen Kreisen spricht man vorzugsweise in einem negativen Tonfall von der Begrenzungs- oder der Kündigungsinitiative. Kündigungsinitiative deshalb, weil die sieben Abkommen als Paket verhandelt und unterzeichnet wurden und ein einzelner Vertragsteil nicht gekündigt werden kann, ohne dass dies die Kündigung des ganzen Vertragspakets auslöst. (sog. Guillotine-Klausel).

Keine zwingende Grundfreiheit
Vielleicht ist es nützlich, einmal einen ökonomischen Blick auf die Personenfreizügigkeit im Rahmen der vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarktes zu werfen. Der EU-Binnenmarkt ist der Idee nach ein klar wirtschaftsliberales Freihandelsprogramm. Um einen unverfälschten Wettbewerb zu ermöglichen, enthält das Binnenmarkt-Projekt als wichtigen Bestandteil eine Rechtsangleichung durch Rechtsharmonisierung oder gegenseitige Anerkennung nationaler Regeln. Die Harmonisierung von Regulierungen birgt jedoch immer die Gefahr, dass sich eine Koalition von EU-Ländern mit höherer Regulierungsdichte durchsetzt, die den anderen, lies liberaleren Mitgliedsstaaten, ihre Regulierungen aufzwingt, zum Beispiel im Bereich der Sozial-, der Steuer- oder der Umweltpolitik. Mit dem Austritt Grossbritanniens aus der EU hat diese Gefahr zugenommen, weil sich die Machtverhältnisse zuungunsten der liberalen EU-Länder verschoben haben. Diesen Aspekt muss man auch bei der Beurteilung des hängigen Rahmenabkommens zwischen der EU und der Schweiz berücksichtigen.

Unter den vier Grundfreiheiten hatte die Personenfreizügigkeit für die Identität der EU seit je auch einen dogmatischen Einschlag. Es ging ja beim Projekt Binnenmarkt nie nur um Wirtschaft. Gerade die unbeschränkte Mobilität sollte in der Bevölkerung das Gefühl einer EU-Bürgerschaft fördern. Demselben ideellen Zweck diente auch die Einführung der Gemeinschaftswährung Euro ab 1999. Mit dem Euro verstärkte sich der Druck zur Verteidigung des Dogmas Personenfreizügigkeit. Denn mit der Abschaffung der nationalen Währungen schaffte man im Euro-Raum den wichtigen Mechanismus von Währungsauf- und abwertungen zum Ausgleich von wirtschaftlichen Ungleichgewichten zwischen den Volkswirtschaften ab. Danach bedurfte es mit wachsenden Diskrepanzen zwischen südlichen und nördlichen Euroländern eines Ersatzausgleichs, und dieser fand zunehmend über die Migration statt. Mit der Euro-/Verschuldungskrise erhöhte sich der Migrationsdruck. Arbeitslos gewordene Bürger der Schuldnerländer suchten sich in grosser Zahl neue Arbeit nördlich der Alpen.

Fehlkonstruktion Euro
Der Euro erwies sich somit auch aus dieser Perspektive als Fehlkonstruktion. Statt dass die erhoffte konvergierende Wohlstandsentwicklung eintrat, verstärkten sich die ökonomischen Ungleichgewichte zwischen wirtschaftlich starken und schwächeren Euro-Staaten, was zu erhöhten Spannungen und zu teils unappetitlichen gegenseitigen Beschuldigungen führte. Zudem begann mit der Euro- und Schuldenkrise die Geldschwemmen-Politik der Europäischen Zentralbank als verzweifelter Versuch, Staatspleiten zu verhindern. Heute erweist sich diese Politik immer mehr als Schrecken ohne Ende.

Unter einem Regime mit nationalen Währungen müsste die Personenfreizügigkeit keine zwingende Grundfreiheit eines offenen Binnenmarktes sein. Es gibt zwar libertäre Ökonomen, etwa den US-amerikanischen Wirtschaftsprofessor Bryan Caplan, die für unbeschränkt offene Grenzen plädieren. Dies mit dem Argument, es sei volkswirtschaftlich für beide Seiten der Migration vorteilhaft und ökonomisch effizient, wenn Menschen aus weniger produktiven Volkswirtschaften in solche mit hoher Arbeitsproduktivität einwanderten. Dort seien die Zugewanderten produktiver als in ihren Herkunftsländern. Caplan denkt dabei sicher primär an die riesige Volkswirtschaft der USA und den Migrationsdruck aus den lateinamerikanischen Ländern.

Die europäische Situation ist aber in verschiedener Hinsicht völlig anders. Erstens sind viele Länder Europas, anders als die USA oder gar Kanada, klein und sehr dicht besiedelt. Zweitens produzieren die ausgebauten Sozialsysteme Europas Migrationsanreize, die es in den USA so nicht gibt. Drittens kommt zur Migration innerhalb Europas der enorme Druck der Flüchtlingsmassen aus Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten hinzu. In der Migrationsproblematik die emotionalen Aspekte auszuklammern, wie dies Caplan tut, wird der europäischen Situation, inklusive der schweizerischen, sicher nicht gerecht.

Berechtigtes Schlagwort „Dichtestress“
Dass das Schlagwort „Dichtestress“ für die Schweiz zunehmend passt, müssten eigentlich alle merken, deren Gedächtnis länger als ein Jahrzehnt zurück reicht. Und wer alt genug ist, um sich sogar noch an die offiziellen Schätzungen der erwarteten Zuwanderung vor der Volksabstimmung über die Bilateralen I zu erinnern, könnte sich schon etwas verschaukelt vorkommen. Der Bundesrat lag rund sieben mal zu tief. Wer auf diese Weise den Volkswillen strapaziert, muss sich über spätere Gegenreaktionen nicht wundern. Den „Abschottern“ von der SVP lieferte man damit auf Jahre hinaus Wahl- und Abstimmungsmunition. Der Popularität des hängigen Rahmenabkommens mit der EU sind diese Erfahrungen mit opportunistischen Fehlprognosen bestimmt auch nicht förderlich.

Wenn sich offizielle Voraussagen, auf deren Grundlage eine Volksabstimmung gewonnen wurde, als derart massiv falsch und irreführend erweisen, ist eine erneute Volksbefragung sicher keine überflüssige Zwängerei. Der enorm hohe, teils alarmistische Einsatz von Wirtschaft und Politik gegen die SVP-Initiative und für die „Rettung der Bilateralen“ ist leicht zu erklären: Die Interessenstrukturen des Wirtschaftssystems Schweiz haben sich über die Jahre an die Verhältnisse unter den bilateralen Abkommen mit der EU angepasst. Der Status-Quo ist bequemer als eine unsichere Zukunft mit der Aussicht auf grössere Anpassungsanstrengungen.

Wenn sich bei jeder Volksabstimmung über das Verhältnis zur EU stets wieder die Status-Quo-Interessen der traditionellen Bilateralisten durchsetzen, drohen wir immer mehr Spielräume zu verlieren. Das pendente Rahmenabkommen birgt die Gefahr, dass ein schleichender Automatismus einer immer engeren Anbindung an eine institutionell und materiell überforderte und nur beschränkt handlungsfähige EU einsetzt. Ein solcher Prozess würde für die Schweiz zunehmend zu einer Belastung. 

Frauenpower in der Klimadebatte

Die weibliche Dominanz in der Klimapolitik wirft Fragen auf, deren sich die Gender-Forschung annehmen müsste

Es ist schon eigenartig, wenn nicht gar paradox, dass ausgerechnet heute, da Frauen alles erreichen können, wenn sie nur wollen, weiterhin ein offensiv fordernder Feminismus, angereichert um das nicht ganz konfliktfreie Gender-Thema, die gesellschaftlichen Debatten prägt. So ist nun jede gesellschaftliche Frage auch, wenn nicht sogar vor allem, unter dem Aspekt des Geschlechts zu betrachten, zu diskutieren und zu entscheiden. Solche Übertreibungen haben selbstverständlich wie stets ihre unbeabsichtigten, im Grunde aber voraussehbaren Nebenwirkungen. Der anhaltende Gender-Aktivismus enthält den Keim für einen Backlash.

Für mich bedeutet diese Entwicklung der jüngsten Zeit, dass die allgegenwärtige, gelegentlich sogar aufdringliche Gender-Debatte auch meine eigene Sicht der gesellschaftlichen Realität genderisiert hat. Man wird ja förmlich dazu gezwungen. Mir ist aus dieser aufgedrängten Perspektive bei meiner Tageslektüre der NZZ zunächst bloss aufgefallen, dass vor allem IPCC-gläubige Redaktorinnen bzw. Autorinnen, quasi im Gleichklang mit der Klimajugend, in das alarmistische Horn blasen. Dabei war mir natürlich klar, dass man mit so dünner anekdotischer Evidenz keine belastbaren Aussagen über eine weibliche Dominanz in der Klimadebatte und -politik machen kann. Ein vertieftes Nachdenken und -forschen brachte dann aber doch ziemlich stichfeste Hinweise:

  • Greta Thunberg ist weiblich, Luisa Neubauer, die deutsche Galionsfigur der FFF-Bewegung, auch. In der Schweiz profiliert sich die von der UNO als „Climate Champion“ nominierte Marie-Claire Graf (23) mit forschen Reden und mit der Forderung, „Klimaleugner“ mundtot zu machen. Klimaleugner sind alle, die nicht ihrer Meinung sind.
  • An den Klimastreiks sind Mädchen und junge Frauen in der Überzahl, in deutschen Städten gemäss neutralen Schätzungen mit Mehrheiten um die 70 Prozent.
  • Bundeskanzlerin Angela Merkels Kabinett fuhr im Jahr 2011 die deutsche Energiewende nach Fukushima um mehrere Stufen hoch.
  • Ursula von der Leyen, die neue Kommissionspräsidentin der EU, verkündete der Welt, kaum war sie im Amt, den bombastischen „Green Deal“, der die EU bis 2050 dank finanziellen Düngemitteln von einer Billion Euro „klimaneutral“ machen soll.
  • Die frühere Bundesrätin und Energieministerin Doris Leuthard rief mit einer historisch erstmaligen weiblichen 4 zu 3-Mehrheit im Bundesrat die schweizerische Energiewende aus.
  • Das Leuthard’sche, auch klimapolitisch begründete Energiegesetz als Auftakt zur illusionären „Energiewende“ wurde von Frauen mit 64%-Ja-Stimmen angenommen, von Männern nur mit 52%.
  • Die aktuelle Energieministerin Simonetta Sommaruga will der Energiewende noch mehr Schub verleihen. Sie übernahm dazu schon mal die Rhetorik der Klimajugend, wenn nicht gar von „Extinction Rebellion“. Am WEF in Davos schleuderte sie der versammelten Prominenz als Auftakt zu ihrer Rede die Warnung „die Welt brennt“ entgegen.
  • Die schweizerischen Parlamentswahlen vom Herbst 2019 brachten unter dem Einfluss der jugendlichen Klimastreiks eine grüne weibliche Welle in beide Räte.
  • In grünen Parteien geben Frauen den Ton an. Die bekanntesten Gesichter der schweizerischen Grünen heissen Maja Graf und Regula Rytz.
  • Die FDP-Präsidentin und Nationalrätin Petra Gössi hat die grüne FDP-Wende eingeleitet.
  • Es gibt eine Oma-Kampftruppe für Klimaschutz, aber keine Opa-Bewegung.
  • Und geht man mit der gleichen Gender-Brille über den grossen Teich, stösst man umgehend auf die politische Leitfigur des „Green New Deal“ in den USA, nämlich die junge und laute demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez.

Interessante, aber heikle Fragen und Erörterungen für die Gender-Forschung drängen sich auf: Sind die klimapolitischen Unterschiede zwischen Mann und Frau biologisch oder durch Sozialisierungsunterschiede zu erklären? Welchen Einfluss hat es, dass Frauen viel zahlreicher die „weichen“ Studienrichtungen der Geistes- und Sozialwissenschaften, von Medizin/Pharmazie sowie der Biologie wählen als die technisch-naturwissenschaftlichen oder ökonomischen Disziplinen? Was bedeutet dies für die Rationalität der Klimapolitik? Hilft also letztendlich die Frauenpower dem Klima? Und schliesslich: Kann man von der Gender-Forschung unbefangene Ergebnisse erwarten? Das wäre dann gleichsam ein völlig neuartiges Projekt: Die Gender-Forschung erforscht sich selbst.

Der weise Molière

„Un sot savant est sot plus qu’un sot ignorant.“

Es ist schon bewundernswert, wie treffend frühere Genies wie der französische Dramatiker, Schauspieler und Theaterdirektor Jean-Baptiste Poquelin, alias Molière (1622-1673) luzide Einsichten in zeitlose Bonmots gegossen haben! Dabei konnte sich Molière bloss auf seine durch persönliche Erfahrung gestützte Intuition berufen. Statistische Daten und Umfragen gab es damals noch nicht. Heute ist das anders.

Hans Roslings Studenten
Der 2017 verstorbene Hans Rosling, Professor für internationale Gesundheit am Karolinska Institutet in Stockholm, trat als Aufklärer mit dem Anspruch auf „let my dataset change your mindset.“ Zu Beginn eines Vortrags auf YouTube schildert Rosling einen Vortest, den er mit seinen Erst-Semester-Studenten gemacht hatte. Er wollte herausfinden, ob er dieser künftigen geistigen Elite überhaupt noch etwas beibringen könne. Die Studenten mussten bei fünf Länderpaaren jeweils das Land mit der höheren Kindersterblichkeit angeben. Die Länderpaare waren so gewählt, dass eines der beiden Länder mindestens die doppelte Sterblichkeit hatte, um statistische Unschärfe auszuschalten. Hier das Ergebnis:

Mit bloss rund 1,8 richtigen Antworten von 5 möglichen lieferten Roslings Studenten ein überaus dürftiges Durchschnittsergebnis. Ein Rudel Schimpansen würde im Durchschnitt 2,5 richtige Antworten liefern. Seine Studenten schienen also „dümmer“ zu sein als Schimpansen. Daraus folgerte Rosling, dass sie durchaus noch etwas zusätzliche Bildung brauchten. Doch was ihm als Lehrender erst später plötzlich wie eine Erleuchtung aufging, war dies: „The problem for me is not ignorance, but preconceived ideas.“

Anders ausgedrückt: Rosling hatte es nicht mit Schimpansen zu tun, sondern mit vorurteilsbeladenen Studenten. Wenn ausgerechnet Studenten – sogar in einem Test, der thematisch ihrem gewählten Studienfach nahe steht – das Resultat von Schimpansen nicht erreichen, muss man sich fragen, ob nicht gerade unter Menschen, die sich für überdurchschnittlich informiert halten, also unter Intellektuellen, zu gewissen Themen besonders starke Vorurteile, herrührend aus unverrückbaren Welt-, Gesellschafts- und Menschenbildern, herumgereicht werden.

Vorurteile schlimmer als Ignoranz
Der Mensch ist das einzige „Tier“, das Vorurteile entwickelt. Vorurteile widerspiegeln durch Verzerrung der Perspektive oft eine zu pessimistische Weltsicht, so wie sie uns von alarmistisch gepolten Medien vermittelt wird. In der moralisch aufgerüsteten Politik von heute ist der „mindset“ wieder wichtiger als der „dataset“, und gegen fest gefügte „mindsets“ helfen auch Sachinformationen wenig.

Man hüte sich davor, zu glauben, gebildete Menschen seien besonders gut informiert. Rosling hat in zahlreichen Wissenstests nachgewiesen, dass selbst Angehörige der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Elite schlechter abschneiden als ein Rudel Schimpansen. Der prominente US-amerikanische empirisch argumentierende Moralphilosoph Jonathan Haidt sagt, intelligente bzw. gebildete Menschen, die sich selbst für besonders gut informiert hielten, seien bloss geschickter in der Begründung ihrer Vorurteile als andere. Die Verlagerung einer Debatte von der Sach- auf die Gesinnungsebene gehört zu den bevorzugten Argumentationsmustern der Intelligenzia. Bei der Moralisierung vieler Gesellschaftsfragen spielen höhere Bildungsinstitutionen eine wichtige Rolle.

So ist es auch nicht überraschend, dass die Stimmenden mit Hochschulabschluss dem Energiegesetz als Einstieg in die auf Illusionen gründende schweizerische „Energiewende“ im Mai 2017 mit dem höchsten Anteil an Ja-Stimmen (70 Prozent) aller Bildungsschichten zugestimmt hatten. Das wichtigste Motiv der Zustimmung war gemäss VOTO-Analyse der „Atomausstieg“, verschärft um ein Verbot des Baus neuer AKW. Die einseitige links-ideologische Prägung der zahlenmässig gewichtigen Geistes- und Sozialwissenschaften sowie gewisser anderer Fachrichtungen (Medizin/Pharmazie, Biologie) trug stark zu diesem Ergebnis bei.

In unserer Gesellschaft wird gerne die Sphäre der Politik, wo jede Meinung gleich viel gilt (eine Person, eine Stimme), mit der Sphäre des Wissens vermischt. In der Wissenssphäre gilt das demokratische Prinzip zum Glück eben gerade nicht. Doch diese Einsicht scheint in unserer meinungsmachenden Elite noch nicht überall angekommen zu sein. Vielleicht ist das dem direktdemokratischen „mindset“ geschuldet, weil wir über so viele Dinge als Gleichberechtigte abstimmen können.

Schon Charles-Maurice de Talleyrand (1754-1838), französischer Staatsmann, Diplomat, notorischer Zyniker und Grossmeister treffender Bonmots, beklagte: „En politique, ce qui est cru devient plus important que ce qui est vrai.“ Viel hat sich seither offenbar nicht geändert.

Mozart spielen – darf sie das?

Die Pianistin Claire Huangci ist US-Amerikanerin, aber biologisch eine Chinesin. Sie hat chinesische Eltern. Darf eine biologische Chinesin Mozart, Inbegriff europäischer klassischer Musik spielen? Ist das politisch korrekt oder haben wir es hier mit dem Vergehen der „cultural appropriation“ zu tun, also mit einer Art Diebstahl eines europäischen Kulturgutes durch eine Asiatin?

Dumme Fragen, ist wohl die spontane Reaktion. Aber das Interessante an diesen Fragen ist zunächst mal die Tatsache, dass „cultural appropriation“ nur dann als moralisch verwerflich gilt, wenn europäisch-stämmige „weisse Suprematisten“ sich Kulturgüter von historisch diskriminierten Ethnien aneignen. Pikant ist auch die Tatsache, dass „cultural appropriation“ ein Vorwurf ist, den sich progressive europäisch-stämmige Weisse, vor allem die US-amerikanische Critical-Whiteness-Bewegung, aus einer Art historischem Schuldgefühl selber machen.

In der umgekehrten Richtung stört sich niemand an der Aneignung fremder Kultur, ganz im Gegenteil. Wir Europäer sind stolz darauf, dass unsere klassische Musik auf allen Kontinenten dieser Welt von Angehörigen unterschiedlichster Ethnien gespielt wird – die einzige wahre Weltmusik. Und wie auf vielen Gebieten sind auch dabei asiatische weibliche und männliche Repräsentanten herausragend. Die asiatischen Musiker stört es überhaupt nicht, sich mit der hingebungsvollen Interpretation klassischer europäischer Musik dem Vorwurf auszusetzen, sie förderten damit die „white supremacy“.

Mein allgemeines Fazit lautet: In asiatischen Ländern misst man sich leistungsmässig an der westlich-europäischen Zivilisation. Sie dient als Massstab und Herausforderung, mehr zu leisten, um diese zu übertreffen. Deshalb gibt es in Asien keine „white supremacy“-Debatte. Man traut sich zu, die „white supremacy“ zu brechen. Auf diesem Weg sind einige asiatische Länder schon recht weit fortgeschritten.