Unterwegs im Baustellen-Eldorado braucht es Nerven

Vermutungen über die Ursachen der Baustellenflut auf Schweizer Strassen

Bildquelle: Der Glatttaler

In der Schweiz wird gebaut und renoviert wie verrückt, auch am Strassennetz. In der Stadt Zürich gibt es immer mindestens 150 Baustellen im Bereich Tiefbau/Strassen/Leitungen. Da fragt sich der Laie: Könnte man, statt die begrenzten Baukapazitäten auf 150 Baustellen zu verteilen, nicht auch auf 50 Baustellen mit höherem Einsatz an Ressourcen deutlich schneller arbeiten und die Behinderungen für die Strassennutzer reduzieren? Klar, in der rot-grün regierten Stadt Zürich will man das gar nicht. Denn die unzähligen Baustellen helfen auch dem verkehrspolitischen Ziel, die Stadt für Autofahrer unattraktiv zu machen.

Da es nationale, kantonale und kommunale Strassen gibt, scheint sich der Föderalismus auch auf die Bautätigkeit am Strassennetz bzw. an den damit verbundenen Infrastrukturen (Fahrbahn, Beleuchtung, Randsteine, Signalisierung, unterirdische Rohrleitungen etc.) auszuwirken. Als Autofahrer fragt man sich manchmal, ob es bei der Planung der Bauarbeiten wohl eine Abstimmung zwischen den föderalen Kompetenzebenen gibt. Oder auch horizontal eine Abstimmung zwischen Gemeinden, damit nicht alle drei Kilometer ein Rotlicht den Verkehrsfluss unterbricht.

Nach jahrzehntelangen Beobachtungen der politischen Prozesse habe ich zur angeregten Bautätigkeit im Strassenbereich eine Hypothese entwickelt. Die Budgetierung der öffentlichen Haushalte unterliegt einer stillen Übereinkunft. Jedes Amt oder Departement ist gleichsam „berechtigt“, ein mindestens gleich hohes Budget zu erhalten wie im Vorjahr, manchmal noch mit einem Teuerungszuschlag oben drauf. Der betreffende Anspruch gilt auch für Branchen, die massgebend von staatlichen Aufträgen leben, so wie das Baugewerbe. Der Budgetierungsvorgang läuft also gleichsam verkehrt. Man hat ein gewisses Budget zur Verfügung, und die betreffenden Mittel müssen dann auf mögliche Projekte verteilt und ausgegeben werden. Richtig wäre es aber, man würde zuerst die wirklichen Bau- und Renovationsbedürfnisse vorab abklären und nach Prioritäten ordnen. Auf dieser Grundlage liessen sich dann die erwarteten Kosten ermitteln.

Eine praktische Illustration einer verschwenderischen Mittelverwendung aus einem gesicherten Budget bietet der Bahninfrastrukturfonds. Dort gibt es jeweils bei jeder neuen PLanungsrunde ein Gerangel zwischen Regionen und Kantonen um die vorhandenen Mittel. Nicht mehr Prioritäten aus einer übergeordneten Sicht des Gesamtsystems bestimmen den Ausbau der Infrastruktur, sondern politisch-regionale Interessen. Es gehe jeweils zu wie in einem Basar, sagte Thomas Küchler, Direktor der Südostbahn (SOB) in einem Interview mit der NZZ im vergangenen März.

Öffentliche Gelder als Booster für privaten Gewinn?

Eine ganzheitliche Sicht zeigt ein objektiveres Bild

Wer den Begriff „General Purpose Technologies“ oder kurz GPTs noch nie gehört hat, kann sich auf YouTube das Referat der prominenten Ökonomin Mariana Mazzucato bei der norwegischen Investment-Firma Skagen Fondene anschauen. Dort zeigt sie diese Folie:

GPTs sind Technologien, die mit staatlichen Mitteln angestossen oder gefördert wurden, bevor sie in der privaten Wirtschaft über Produktivitätsfortschritte monetarisiert werden konnten. Mazzucatos Liste auf der Folie zeigt eine Auswahl solcher GPTs. Im Begriff enthalten ist die Kritik an einer einseitigen Sicht von Innovation und technologischem Fortschritt.

Mazzucato betont die entscheidende und oft unterschätzte Rolle des Staates. Diese Rolle soll sich nicht auf die Beseitigung von Marktversagen beschränken, wie es marktliberale Ökonomen fordern. Mazzucato plädiert für einen neuen Kapitalismus. Das ist nach ihrer Ansicht ein System, in dem Staat, Politik und Privatwirtschaft, alle im Rahmen vielfältiger gegenseitiger Beziehungen, für Innovation ihren Beitrag leisten. Kein Wunder, heisst ihr vielleicht bekanntestes Buch „The Entrepreneurial State“. Wer das Gefühl hat, das rieche nach einer aktiven Industriepolitik, liegt nicht ganz falsch.

Mazzucato kritisiert im erwähnten Referat auch kurz die stark gewachsene Einkommens- und Vermögensungleichheit und assoziiert dies mit dem Phänomen der GPTs bzw. den besonders profitierenden grossen Techfirmen und ihren Aktionären. Man kann daraus schliessen, dass sie der Meinung ist, Investitionskosten für Innovation und Gewinne daraus seien zulasten des Staates ungerecht, vor allem aber auch ineffizient verteilt. Diese Sichtweise hat auch in der breiteren Öffentlichkeit viele Anhänger. Dabei wird jedoch ein Aspekt, der für eine ganzheitliche Sichtweise wichtig ist, unterschlagen.

Nicht nur zahlen private Unternehmen und ihre Angestellten Steuern, die erfolgreichen mehr als die mittelmässigen. Mindestens so wichtig, wenn nicht sogar wichtiger ist ein anderer Aspekt. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass private Firmen kaum je in der Lage sind, allen Nutzen, den sie für die Kunden bzw. die Gesellschaft schaffen, als Erträge oder Gewinne zu internalisieren. Erstens bleibt immer eine Konsumentenrente extern bei den Kunden hängen. Das ist die Differenz zwischen der maximalen Zahlungsbereitschaft und dem Marktpreis. Alle Kunden, die kaufen, wären auch bereit, einen zumindest marginal höheren Betrag zu zahlen als den Marktpreis.

Jenseits der Konsumentenrente schaffen gerade erfolgreiche innovative private Firmen, die von staatlicher Förderung profitiert haben, auch noch sozialen Nutzen, den sie nicht internalisieren können. Auf der Konsumseite entstehen kaum bezifferbare allgemeine Produktivitäts- und Qualitätsfortschritte. Diese Effekte sind in einer Gesamtbetrachtung auch zu berücksichtigen, sonst erhält man ein verzerrtes Bild. Wenn staatliche Mittel Innovationen angestossen haben, profitiert die Gesellschaft am Ende kompensierend durch die genannten positiven externen Effekte unternehmerischer Tätigkeit.

Zudem ist nicht zu vergessen, dass die Weiterentwicklung einer gewissen Basistechnologie in Geschäftsmodelle mit marktfähigen Produkten eine beträchtliche unternehmerische Leistung darstellt. Dass dies nur in der privaten Wirtschaft erfolgreich geschehen kann, hat mit den positiven Anreizen einer freien Wettbewerbswirtschaft zu tun.

Untertauchen ist rational

Das Kosten-Nutzen-Kalkül von abgewiesenen Asylbewerbern

Wer regt sich nicht auf über die abgewiesenen Asylbewerber, die untertauchen, bevor sie ausgeschafft werden können! Noch mehr kann man sich aufregen, wenn man aus den Medien erfährt, was der Hintergrund der Wahnsinnstat des Solinger Messermörders ist. Auf nzz.ch las man am 25. August zu dieser Tragödie einen Abschnitt, der das ganze Versagen einer „moralischen“ Migrationspolitik beleuchtet, die aus der Situation heraus immer wieder die eigenen Regeln bricht:

Nach «Spiegel»-Informationen hätte der mutmassliche Täter längst ausgeschafft werden sollen. Nach den sogenannten Dublin-Regeln des europäischen Asylsystems wäre Bulgarien für ihn zuständig gewesen. Die Abschiebung sei gescheitert, weil der Syrer am Tag der geplanten Ausreise in seiner Flüchtlingsunterkunft nicht angetroffen worden und danach untergetaucht sei. Eine Ausschreibung zur Festnahme habe es wohl nicht gegeben. Ende 2023 sei dem Syrer von Deutschland subsidiärer Schutz gewährt worden.

Statt sich aufzuregen, kann es nützlich sein, einmal den ökonomischen Blick auf die Kosten-Nutzen-Rechnung bzw. die spezifischen Anreizsituationen diverser Akteure des Migrationsphänomens zu richten. Es ist hier die Rede von der Wirtschaftsmigration, nicht von echten Kriegs- und Katastrophenflüchtlingen. Bekanntlich gibt es inzwischen eine umfassende Migartionsindustrie, in der es für die Nachfrage nach Süd-Nord-Migration eine wahre Lieferkette von Angeboten gibt, beginnend beim mafiösen Schleppergewerbe mit seinen Unterabteilungen. Um in den bevorzugten Zielländern nördlich der Alpen anzukommen, braucht es auch die Schengen-Dublin-Regeln verletzende oder gar bestechliche Grenzbehörden. Einmal im Zielland angekommen, stehen den Asylbewerbern alle Angebote der einheimischen Flüchtlingsindustrie offen: hilfreiche Flüchtlings-NGO, spezialisierte juristische Angebote für Einsprachen gegen Ausweisungsentscheide und teilweise willfährige Gerichte und Migrationsbehörden.

Das Kosten-Nutzen-Kalkül von abgewiesenen Asylbewerbern ist nicht schwierig nachzuvollziehen. Der Wirtschaftsmigrant wägt die Lebens- und Arbeitsaussichten in seinem von Staatsversagen gebeutelten Heimatland gegen die Aussicht auf ein besseres Leben in Europa ab. Obwohl eine solche Rechnung nicht objektiv zu machen ist und illusionäre Erwartungen mitspielen dürften, machen x Tausende aus den bekannten Herkunftsländern Jahr für Jahr diese Kosten-Nutzen-Rechnung. Wie viele die Rechnung auch machen und dann zuhause bleiben, wissen wir nicht. Sicher gibt es auch viele, denen die Risiken einer Schlepperreise ins gelobte Europa zu hoch sind.

Nun machen wir einen Sprung und lassen unseren Migranten im Zielland ankommen und ein Asylgesuch stellen. Dieses wird umgehend abgelehnt, und der abgewiesene Asylbewerber erhält den Ausschaffungsentscheid. Vor welcher Situation steht er jetzt? Er hat sein gesamtes erspartes Geld in die illegalen Transitaktivitäten gesteckt, eine ungemein beschwerliche Reise auf sich genommen und sich dabei höchsten Risiken ausgesetzt. Und jetzt soll diese ganze monetäre und nicht-monetäre Investition in ein neues Leben durch einen abschlägigen Asylentscheid und die Ausschaffung zunichte gemacht werden! Alles für die Katze!

Hand aufs Herz: Wer von uns käme in einer solchen Situation nicht auch auf die Idee, unterzutauchen? Zumal man als Untergetauchter über seine guten Chancen auf einen schliesslichen Verbleib im bevorzugten Zielland bestens informiert ist. Nicht nur berichten die Medien regelmässig über die lächerlichen Zahlen von geglückten Abschiebungen. Die Widerspenstigen können sich für Beratung über das optimale Verhalten im Widerstand gegen eine Ausschaffung auch vertrauensvoll an Institutionen des hiesigen Flüchtlingsgewerbes wenden.

Ein deutscher SRF-Korrespondent, der nicht weiss, was Demokratie ist

Auch auf unseren SRF-Kanälen gibt es eine latent spürbare Sympathie für den „Kampf gegen rechts“ in Deutschland. Manchmal geschieht dies in verdeckten Botschaften, die man fast überhört. Jüngst in einer Informationssendung von Radio SRF: Ein deutscher Korrespondent kommentiert Themen im Zusammenhang mit den bevorstehenden Wahlen in den ostdeutscheun Bundesländern Thüringen, Sachsen und Brandenburg.

Zuerst geht es um die in Umfragen führende AfD. Dann wechselt der Korrespondent in seinem Kommentar zu den anderen Parteien und nennt diese in Abgrenzung zur AfD mit grösster Selbstverständlichkeit die „demokratischen Parteien“. Die AfD ist also für ihn – und wohl auch für viele Sympathisanten in den SRF-Redaktionsstuben – eine nicht demokratische Partei. Vor ihr muss gewarnt werden, weil sie die Demokratie abschaffen will.

Das Thema ist überhaupt nicht neu, denn schon unzählige Male hat man die Sinnverdreher daran erinnern müssen, dass sich Demokratie vor allem dadurch auszeichnet, dass freie Wahlen stattfinden, und dass die Ergebnisse dieser Wahlen, sofern die vorgegebenen Regeln eingehalten werden, zu akzeptieren sind.

Die oft gehörte wohlfeile Forderung nach einer „wehrhaften Demokratie“ sind in einem institutionell stabilen Land wie Deutschland nichts anderes als Macht- und Ablenkungspolitik der versagenden Mainstream-Parteien, die Merkel-Merz-CDU mit ihrer Brandmauer gegen rechts eingeschlossen. Diese Parteien sind am Aufstieg der AfD schuld. In jüngster Zeit ganz besonders, weil sie unfähig sind, die drängenden Problem des Landes nachhaltig anzugehen.

Express geht hier gar nichts – ausser in Notfällen

Der Solar-Express stockt. Der Wind-Express sowieso. Und die wichtigen Wasserkraftprojekte stecken im umweltpolitischen Beschwerdedickicht. Das alles ist ja auch kein Wunder. Das Wort „express“ passt nicht in die schweizerische politische Realität. Wer etwas anderes glaubte, war schlicht naiv, denn „express“ geht es höchstens, wenn eine selbst verschuldete Notlage eintritt und das eidgenössische Kompetenzen-Wirrwarr zu einem alternativlosen Schnellschuss zwingt. Ein nicht lange zurückliegendes eindrückliches Beispiel ist der nicht verhinderte Untergang der ikonischen schweizerischen Grossbank Credit Suisse. Ein anderes das Not-Gaskraftwerk Birr, gebaut nicht lange nachdem man unter links-grünem Beifall das AKW Mühlerberg abgeschaltet hatte.

Für die besonders engagierten „express“-Anhänger geht es ohnehin vor allem darum, den Leuten den Wunsch nach Kernenergie auszutreiben, indem man ihnen vorgaukelt, die Schweiz sei allein mit sogenannt erneuerbaren Energien in der Lage, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Wenn dann die Realität zuschlägt, bleiben nur noch teure und klimaschädigende Gaskraftwerke als alternativlose Notlösung – alternativlos, weil man sich seit Leuthards Fukushima-Energiewende selbst in eine Sackgasse manövriert hat.

Spontane Marktwirtschaft im Flüchtlingslager

Hie und da erscheinen in den Medien Artikel, die eine besonders grosse Aufmerksamkeit verdienen würden. In der NZZ vom 27. Januar 2016 berichtete die Journalistin Virginia Nolan unter dem Titel „Flüchtlinge sind nicht nur Opfer“ über die Erfahrungen des Krisenmanagers Kilian Kleinschmidt im weltweit drittgrössten Flüchtlingscamp Zaatari in Jordanien. Dort lebten zur Zeit des NZZ-Berichts 80’000 Flüchtlinge aus Syrien.

Die übliche Flüchtlingshilfe durch Regierungen und NGO, egal wo sie stattfindet, ist weitgehend Planwirtschaft. Die Akteure von Regierungen und der verschiedenen Hilfswerke leiten ihre Rolle vom Menschenbild des „typischen Flüchtlings“ ab. Die Opfer werden in Lagern als hilfsbedürftige Masse behandelt, wobei die Helfer aus dem Norden mit ihrem (vermeintlich) überlegenen Know-how nach dem „Gemeinschaftsprinzip“ (Kleinschmidt) für eine gerechte Ordnung sorgen müssen.

Kleinschmidt machte irgendwann als praktisch veranlagter Mensch die Erfahrung, dass dieser konventionelle Ansatz, typisch für die latent anti-kapitalistische Helferindustrie, zum Scheitern verurteilt war, weil er die unterschiedlichen individuellen Bedürfnisse der Lagerbewohner missachtet. So begann Kleinschmidt, die Flüchtlinge gewähren zu lassen, wenn sie sich im Lager nach ihren eigenen Vorstellungen selber organisieren wollten. Die Ergebnisse sind für jeden, der beim Wort „Privatisierung“ nicht gleich die Flucht ergreift, äusserst aufschlussreich, was die Fähigkeit menschlicher Gesellschaften zur Selbstorganisation betrifft.

  • Die Lagerbewohner verschoben die planwirtschaftlich bezüglich Fläche und Abständen identisch platzierten Wohncontainer nach ihren Bedürfnissen und bauten sie mit anderen wieder zusammen. Aus den Gemeinschaftstoiletten machten sie eigene Nischen, und das Gas aus den Gemeinschaftsküchen teilten sie unter sich auf, statt zusammen zu kochen.
  • Die Lagerbewohner zapften aus der allgemeinen Beleuchtung Strom an und begannen, damit Handel zu betreiben. Was im normalen Helferdenken als Diebstahl gilt, nannten die Flüchtlinge Privatisierung. Ein knappes Gut erhielt einen Preis. Damit die Stromversorgung nicht zusammenbrach, organisierten die Lagerinsassen eine Elektrizitätsgesellschaft, die von rund 250 Elektrikern betreut wurde.
  • Das Material im Lager wurde zum Baukasten. Die Unterkünfte nahmen immer mehr ein individuelles Gesicht an. Aus abgebauten Containern entstanden mit der Zeit Supermärkte. Unter Kleinschmidt wurden die Lebensmittel nicht mehr gratis verteilt, sondern die Leute bezahlten dafür mit Plasticgeldkarten im Supermarkt. Ende 2014, als Kleinschmidt das Lager verliess, waren 3’000 Geschäfte in Betrieb, die zehn Millionen Euro Umsatz machten.

Kleinschmidt kam zur Einsicht, die Flüchtlinge sollten nicht alles geschenkt bekommen, sondern für Leistungen, die sie nutzten, bezahlen. „Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen und dafür zu bezahlen, gehört zur Menschenwürde“, so der Pragmatiker Kleinschmidt. Leider fehlt für diese Haltung in der dominierenden Helferindustrie des Nordens die Einsicht und vor allem auch die Bereitschaft, ideologischen Ballast abzuwerfen.

Der Sozialismus hat noch nirgends funktioniert, auch in Venezuela nicht

Die Erwartung von Karl Marx, dem geistigen Vater des Sozialismus, hat sich nicht erfüllt: In keinem entwickelten kapitalistischen Land gab es einen gleichsam gesetzmässig in einem zwingenden geschichtlichen Prozess verlaufenden Übergang in eine sozialistische Gesellschaft mit leuchtender Zukunft und Überwindung aller Klassengegensätze. Alle bisherigen sozialistischen Realexperimente geschahen in mehr oder weniger rückständigen Volkswirtschaften, oft durch Putsch oder Revolution. Eine Ausnahme bildet Venezuela, das vor drei Jahrzehnten noch zu der Gruppe der wohlhabenden Länder gehörte.

Ein beispielloser Abstieg

Auf der Plattform CORECON findet man eine eindrückliche Darstellung des Abstiegs von Venezuela in der Periode von 1995 bis 2020 (letztverfügbare Daten). Der leicht redigierte Kommentar dazu lautet (Übersetzung von Google): Die folgenden beiden Abbildungen zeigen die weltweite Einkommensverteilung in den Jahren 1995 und 2020, wobei die Länder vom ärmsten (rot) links bis zum reichsten (grün) rechts sortiert sind. Die Höhe jedes Balkens zeigt das Durchschnittseinkommen in jedem Dezil innerhalb eines Landes, sortiert von den ärmsten 10 % (vorne) bis zu den reichsten 10 % (hinten). Die Abbildung verwendet Daten aus der World Inequality Database (WID).

1995 befand sich Venezuela noch unter den reichen, grün eingefärbten Nationen:

In bloss 25 Jahren unter dem Diktat des „bolivarischen Sozialismus“ fiel Venezuela in die Gruppe der armen Länder zurück. Der sozialistische Idealzustand ist erreicht: Alle sind ungefähr gleich arm (natürlich mit Ausnahme der Nomenklatura):

In den reichen Ländern ist die Ungleichheit zwar höher, aber das Durchschnitts- und das Medianeinkommen sind viel höher als in den armen Ländern. Man kann auch einen Zusammenhang sehen: Eine Gesellschaft, die reiche Menschen hervorbringt, beruht auf einer Wohlstand schaffenden Wirtschaft mit den Säulen Marktwirtschaft und Rechtsstaat, und davon profitieren alle.

Wie der „Bolivarische Sozialismus“ eine Volkswirtschaft zerstört

Chavez wollte mit seiner Bolivarischen Revolution einen neuen lateinamerikanischen Sozialismus verwirklichen. Das Grundmuster war allerdings nicht neu. Mit Verstaatlichungen und massiver Umverteilung zugunsten der Massen hatte zu Beginn der 1970er-Jahre schon Salvador Allende in Chile die Volkswirtschaft in kurzer Zeit an den Rand des Abgrunds gefahren und damit zu den Bedingungen für den Pinochet-Militärputsch beigetragen. In Venezuela dauerte der politisch verursachte Niedergang länger, weil Venezuela mit seinem enormen Erdölreichtum über den längeren Atem verfügte. Doch die Kosten für den Kauf der Massen, um Wahlen zu gewinnen, wuchsen schon unter Chavez stark an. Unter dem Druck des wirtschaftlichen Niedergangs degenerierte das politische System unter Nicolás Maduro, ab 2013 Nachfolger von Chavez nach dessen Tod, immer mehr in Richtung einer brutalen Diktatur der Machterhaltung. Genau wie in allen anderen sozialistischen Realexperimenten steht am Ende ein Prozess der wirtschaftlichen und politischen Degeneration. Man könnte in Anlehnung an Marx geradezu von einer geschichtlichen Gesetzmässigkeit sprechen.

Wo gibt es den „richtigen“ Sozialismus?

Nun kommt von politisch linker Seite natürlich sofort das übliche Argument, Venezuela sei gar kein sozialistisches Land, Kuba natürlich auch nicht, und die frühere Sowjetunion oder die DDR schon gar nicht. Eigentlich habe man den „richtigen“ Sozialismus noch nirgends real testen können, also könne man auch die geschichtlichen Erfahrungen mit gescheiterten Staaten, die sich als sozialistisch ausgaben, gar nicht als Argument gegen den Sozialismus verwenden. Diese Argumentation beruht auf der Illusion, man könne den kapitalistisch-marktwirtschaftlich erzeugten Wohlstand in eine sozialistische Gesellschaft mit Verstaatlichungen, massiver Umverteilung von oben nach unten, Arbeitsplatzgarantie, Recht auf „zahlbare“ Wohnung und all den sonstigen Segnungen des Sozialstaats hinüberretten. Gerade in der Schweiz, in den Worten des Berner Politologen Adrian Vatter das Land mit der linksten Linken Europas, ist diese Illusion unter verstärktem Juso-Einfluss programmatisch in der SP durchaus salonfähig. Dabei gehen ohne wirtschaftliche Freiheit alle Anreize zur wirtschaftlichen Risikobereitschaft, zu Innovation und Wachstum verloren.

Das hat man übrigens nach Mao auch in China begriffen. Dort herrscht zwar politisch die Partei nahezu absolut, aber wirtschaftlich gibt es in vieler Hinsicht mehr faktische Freiheit als in der überregulierten Volkswirtschaft Schweiz. Deshalb ist China auch kein Beispiel einer erfolgreichen sozialistischen Volkswirtschaft. Diese Volkswirtschaft ist erst erfolgreich geworden, als sie sich ohne ideologische Scheuklappen an kapitalistischen Prinzipien und westlichem Know-how zu orientieren begann und sich, im Leistungswettbewerb mit den entwickelten Ländern, für den internationalen Handelsaustausch öffnete.

Noch kein Ende der venezolanischen Tragödie

Die manipulierten jüngsten Wahlen zeigen: Die venezolanische Tragödie ist noch nicht zu Ende. Was jeder ökonomisch einigermassen gebildete Mensch schon zur Blütezeit des „bolivarischen Revolutionärs“ Hugo Chavez voraussagen konnte, ist nun global für alle, die es sehen wollen, drastisch sichtbar: Mit Chavez‘ Nachfolger Maduro ist ein absoluter Tiefpunkt erreicht. Dass dieser Kriminelle an der Spitze des ölreichsten Landes der Welt von mächtigen Autokraten und diktatorischen Regimes weiterhin gestützt wird, hängt damit zusammen, dass diese machtzynisch ihr eigenes politisches Süppchen kochen, im Prinzip immer gegen den demokratischen Westen. Das sagt viel aus über die heutigen deplorablen Zustände in der Weltgemeinschaft. Die UNO als institutionalisiertes Weltgewissen muss ohnmächtig zuschauen wie ein Diktator über Jahre hinweg sein Volk ruiniert.

Harte Zeiten für die westlichen Demokratien

Dieser Text erschien unter dem Titel „Lasst euch lumpen“ in der Weltwoche 20.24 vom 16. Mai 2024

Im fernen Jahr 1994 erklärte Paul Krugman, der US-amerikanische Wirtschafts-Nobelpreisträger von 2008, in einem Artikel in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ den wirtschaftlichen Aufstieg der asiatischen Tigerstaaten (Südkorea, Taiwan, Singapur) mit ihren hohen Wachstumsraten wie folgt: „Wenn es ein Geheimnis für das asiatische Wachstum gibt, dann ist es schlicht aufgeschobene Belohnung („deferred gratification“), also die Bereitschaft, für zukünftigen Gewinn aktuelle Bedürfnisbefriedigung zu opfern. Das ist eine schwer zu akzeptierende Antwort, besonders für amerikanische politische Intellektuelle, die vor der tristen Aufgabe zurückschrecken, Defizite abzubauen und die nationale Sparquote zu erhöhen.“

Diese glasklare Begründung, die mit ihrer liberal-konservativen Botschaft so gar nicht zum heutigen linksgewickelten Krugman passt, mag krud erscheinen, aber sie enthält den wesentlichen Punkt. Was zu ergänzen wäre: Um eine Strategie des aufgeschobenen Konsums, hoher Sparquoten und geringer Verschuldung durchzuhalten, brauchte es den „wohlwollenden Diktator“ (Lee Kwan Yew in Singapur) oder autokratische Institutionen mit einer dominierenden Partei (Taiwan und Südkorea). Die Schweiz bot in der Gründerzeit nach 1848 als repräsentative Demokratie mit einer FDP-Einparteienregierung ein frühes Muster des volkswirtschaftlichen Aufstiegs durch „deferred gratification“. Bis heute profitieren wir von den Pionierleistungen jener Periode.

Mit einem Wachstumsprogramm unter dem Slogan „deferred gratification“ sind in den wohlfahrtsstaatlichen Demokratien von heute keine Wahlen zu gewinnen. Besonders die Politiker der hoch verschuldeten Problemländer traten bei ihren auf Gegenwartskonsum fixierten Wählern genau mit der gegenteiligen Strategie „anticipated gratification“ in Erscheinung: schuldenfinanzierte wohlfahrtsstaatliche Expansion. Wer meint, in der Schweiz sei alles anders, das heisst natürlich besser, sollte sich an den 3. März erinnern. Gälte für unsere Politik die Losung „deferred gratification“, hätten die Ergebnisse der beiden AHV-Volksinitiativen umgekehrt lauten müssen. Eine überdeutliche Mehrheit hätte gegen eine 13. Monatsrente stimmen müssen, eine deutliche Mehrheit für die Bindung des Rentenalters an die Lebenserwartung.

Institutionalisierte Dekadenz

Die westlich-europäisch geprägten Demokratien haben sich in den Jahrzehnten seit Krugmans treffender Aussage als Systeme der institutionalisierten Dekadenz erwiesen. Geradezu gesetzmässig wirken Fehlanreize auf Politik und Publikum. Das Stichwort, das fast alles erklärt, was schief läuft, lautet „Wählerkauf“. Was das in der erlebten Wirklichkeit konkret bedeuten kann, lässt sich zum Beispiel an dem oft erbärmlichen Zustand italienischer Staatsstrassen besichtigen. Oder ein anekdotisches Beispiel aus Deutschland: In der Nähe zur Schweizer Grenze empfehle ich die Besichtigung des verwahrlosten Bahnhofs der Kreisstadt Tuttlingen mit immerhin knapp 40’000 Einwohnern.

Dramatisch zeigt sich das Phänomen „Wählerkauf“ auch an der Unwilligkeit der europäischen NATO-Staaten, ihren angemessenen Beitrag zum westlichen Verteidigungsbündnis zu leisten. So haben sie sich sehenden Auges in die Abhängigkeit von strategischen Interessen der USA begeben. Gemeinsam ist den staatlichen Kernaufgaben Militär und Infrastrukturen, dass sie im Vergleich zu direkten Begünstigungen in der Bevölkerung und der Politik eher unpopulär sind.

Die populären Begünstigungen sind überwiegend gesetzlich gebundene, oft sozialpolitisch, zunehmend auch klima- oder industriepolitisch begründete Staatsausgaben. In der Sozialpolitik steigen die Ansprüche allein aus demografischen Gründen. Andernorts, weil Fördergelder nicht wie erhofft wirken und deshalb nach üblicher politischer Logik einfach erhöht werden – nach dem Motto „mehr vom gleichen“. Und immer öfter braucht es zusätzlich Geld, um politische Fehlleistungen auszubügeln.

Konditionierung der Menschen im Wohlfahrtsstaat

Im fortgeschrittenen Wohlfahrtsstaat sind fast alle Interessen auf Bedürfnisbefriedigung in der unmittelbaren Gegenwart gerichtet. Das historische Verständnis für die Ursachen des langfristigen wirtschaftlichen Fortschritt ist verloren gegangen. Mit der Zersplitterung der Parteienlandschaft in den westlichen Demokratien befinden sich die Parteien, von Umfragen getrieben, im Dauerwahlkampf. Denn wenige Prozentpunkte an Wählerstimmen können über die Beteiligung an einer Koalitionsregierung bestimmen. Das steigert die Anreize für schuldenfinanzierte Wohltaten auf Kosten späterer Generationen.

Die hier beschriebenen Entwicklungen werden ausserhalb unserer Gesellschaften als Symptome westlicher Dekadenz wahrgenommen. Die wünschbare echte Zeitenwende zurück zu einem verantwortungsvollen Umgang mit knappen Ressourcen wird dadurch erschwert, dass der Wohlfahrtsstaat menschliches Verhalten konditioniert. Erwartungen an Politik und Staat werden, moralisch aufgeladen, zu Ansprüchen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind, weil sich daraus eine Art Gewohnheitsrecht ableiten lässt. Die Leistungsbereitschaft nimmt in einem solchen Klima Schaden. Das Recht auf Wohlstand ist kein Menschenrecht. Wobei wir nicht sicher sein können, ob der EGMR in Strassburg das nicht anders sieht.

«Lechts und rinks» vereint gegen das institutionelle Abkommen mit der EU

Dieser Text erschien auf „Nebelspalter online“ vom 17. April 2024.

Unter dem Eindruck jüngerer politischer Ereignisse und Positionsbezüge in der Schweiz denkt man spontan an den berühmten Vierzeiler „Lichtung“ des österreichischen experimentellen Lyrikers Ernst Jandl: «manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein illtum». Das aktuellste Muster bietet die Abstimmung vom 3. März über die 13. AHV-Rente. Sympathisanten der Polparteien links und rechts verhalfen der Volksinitiative der Gewerkschaften vereint zum Erfolg.

Auch in der heisser werdenden Phase der Europapolitik sehen wir die Linke und die Rechte vereint in der lautstarken Gegnerschaft zu einem institutionellen Abkommen mit der EU. Es gibt aber wichtige Unterschiede, was die Motive betrifft, und das könnte durchaus politische Folgen haben.

Die Rechte, am lautesten die SVP-Prominenz, warnt vor einer geradezu existenziellen Schädigung der Sonderfall-Institutionen, also der direkten Volksrechte, des Föderalismus und einer strikt traditionell interpretierten Neutralität. Es geht für sie dabei um die besonderen Formate und Prozesse der politischen Willensbildung, die nach Auffassung der Rechten die Identität der Schweiz ausmachen. Es herrscht auf dieser fundamentalistisch geprägten Seite grosse Sorge um die Standfestigkeit der Linken.

Verteidigung der Steckenpferde

Denn die Linke hat die Institutionen nur in zweiter Linie im Sinn, anders gesagt als Mittel zum Zweck, um ihre politischen Steckenpferde zu reiten. Im Vordergrund steht für sie das Inhaltliche, wo konkrete Forderungen vorliegen und rote Linien verkündet wurden:

  • Lohnschutz bis hinunter in kleinste Details (Spesenregelungen, Voranmeldefristen),
  • Ausbau der flankierenden Massnahmen,
  • Schutz des Service Public,
  • das heisst keine Strommarktliberalisierung,
  • keine Zulassung ausländischer Bahnunternehmen im Schienenverkehr,
  • keine Marktöffnungen oder Privatisierungen bei Post/Postfinance,
  • Erhalt der Mehrheit des Bundes an der Swisscom,
  • Schutz der diversen, vor allem kantonalen Subventionsregimes zugunsten des Service Public inklusive Energiesektor mit all den kommunalen und regionalen Versorgern.

Für die Linke spielen die Institutionen nur deshalb eine Rolle, weil die politische Praxis gezeigt hat, dass die direkten Volksrechte es den Gegnern von Liberalisierungen und Privatisierungen auf dem breiten Feld des von der Linken definierten Service Public ermöglicht haben, das Parlament bei solchen Projekten mithilfe des Stimmvolks auszubremsen. Die Referendums- und Initiativmacht der Linken steigt mit jedem Abstimmungserfolg. Dies wiederum erhöht die Wirkung von Referendumsdrohungen, was das Parlament präventiv diszipliniert.

Die Linke ist nicht fundamental gegen ein institutionelles Abkommen. Sie möchte aber den Arbeitsmarkt und den Service Public von der Unterstellung unter ein institutionelles Abkommen mindestens teilweise ausschliessen,.

Schlüsselrolle der Linken

Die Konstellation «lechts und rinks vereint» vermittelt für die eben begonnenen Verhandlungen mit der EU wenig Hoffnung auf ein beidseitig zufriedenstellendes Ergebnis. Das könnte sich ändern, wenn die schweizerische Verhandlungsdiplomatie in Bezug auf die linken Forderungen derart viele Zugeständnisse der EU herausholen könnte, dass die Linke aus dem Boot, in dem sie vorderhand mit der Rechten sitzt, aussteigen würde – ein ziemlich unrealistisches Szenario.

Denselben Effekt auf die Auflösung der Vereinigung «lechts und rinks» hätte es, wenn die schweizerische Linke ihre roten Linien so weit zurück nehmen würde, dass die EU mit den schweizerischen Konzessionen leben könnte. Eine solche Entwicklung erscheint wahrscheinlicher als grosszügige Konzessionen der EU-Seite.

Sollte die Linke aus dem Boot mit den rechten Gegnern eines institutionellen Abkommens aussteigen, hätten wir parteipolitisch eine Stärkung der schädlichen Konstellation «alle gegen die SVP», die schon die Referenden zur Energie- und Klimapolitik belastete. Sie verleitet nämlich in Referenden viele Leute dazu, gar nicht zur Sache selbst abzustimmen, sondern das wohlige Gefühl zu geniessen, der ungeliebten SVP eins auswischen zu können. Und ein Referendum gegen ein vom Parlament verabschiedetes Abkommen mit der EU wäre unvermeidlich.

Wer stoppt Maillard?

Dieser Text erschien auf „Nebelspalter online“ vom 21. April 2024.

Das Debakel der beiden AHV-Abstimmungen vom 3. März wird weitherum nicht als solches wahrgenommen. Lieber feiert man den triumphierenden Gewerkschaftspräsidenten Maillard als den neuen „Blocher der Linken“. Christoph Blocher hatte im Referendum über den Beitritt zum EWR im Dezember 1992 das ganze politische und wirtschaftliche Establishment besiegt. Beim EWR gab es im Nationalrat eine Mehrheit von 128 zu 58 für den Beitritt, im Ständerat sogar 38 zu 2.

Seither gab es immer wieder Referenden, bei denen das Parlament mit klaren Mehrheiten für gewichtige Reformen votierte, die aber, mit der politischen Linken in einer Hauptrolle, vom Volk teils mit erdrückenden Mehrheiten abgelehnt wurden.

  • Es begann im Jahr 2002 mit dem Elektrizitätsmarkt-Gesetz. Der Nationalrat hatte diesem mit 160 Ja zu 24 Nein überdeutlich zugestimmt, der Ständerat mit 36 zu 2. Das Stimmvolk lehnte das Gesetz mit 53 Prozent Nein-Stimmen ab.
  • Bei der Volksabstimmung über die 11. AHV-Revision von 2004 waren die Ja-Mehrheiten in den Räten geringer, die Ablehnung durch das Stimmvolk mit nur 32 Prozent Ja-Stimmen dafür umso deutlicher.
  • Noch massiver verloren Bundesrat und Parlament im Jahr 2010 das Referendum gegen die BVG-Revision mit Senkung des Umwandlungssatze mit nur 27 Prozent Ja-Stimmen sowie im Jahr 2012 das Referendum gegen die KVG-Managed Care-Vorlage mit bloss 24 Prozent Ja-Stimmen.
  • Die Unternehmenssteuer-Reform III wurde im Referendum von 2017 mit 59 Prozent Nein-Stimmen verworfen. Im Parlament lauteten die Ja-Mehrheiten 139 zu 55 im Nationalrat und 29 zu 10 im Ständerat.
  • Als jüngstes Beispiel eines linken Abstimmungssiegs gegen Bundesrat und Parlament haben wir nun den Fall der 13. AHV-Rente. Der Nationalrat hatte die Initiative der Gewerkschaften mit 126 zu 69 abgelehnt. Im Ständerat gab es 31 Nein zu 10 Ja.

Quoren für Volksabstimmungen?

Bei Volksinitiativen und Referenden geht es nie einfach nur um die konkrete Sache an sich. Die direkte Demokratie erlaubt besondere Machtspiele. Gewinnt eine Partei oder ein Interessenverband eine Volksabstimmung, steigert dies immer auch die Verhandlungs- und Referendumsmacht, und zwar mit beträchtlicher Vorauswirkung auf die Gesetzgebung. Der oft gehörte Satz „das ist politisch nicht machbar“ ist symptomatisch. Nicht zufällig bereicherte auch der frühere Bundesrat Berset mit dieser Floskel die Diskussion um eine Erhöhung des Rentenalters. Eine unbefangene Sichtung der wichtigsten Volksabstimmungen seit der Jahrtausendwende stützt die These einer schleichenden Sozialdemokratisierung der Schweiz. Und dieser Prozess läuft weiter.

Eine ideologiefreie Analyse führt zum Schluss, dass mit der Häufung von Volksinitiativen das Gleichgewicht zwischen den repräsentativen Organen Bundesrat und Parlament einerseits und den Volksrechten der stimmberechtigten Bevölkerung anderseits aus den Fugen geraten ist. Als eine unter vielen denkbaren Reformansätzen könnte man Quoren für Volksabstimmungen einführen. Der Vorteil von kruden Mehrheitsabstimmungen nach heutigen Regeln – 50 Prozent plus eine Stimme – ist deren Einfachheit. Sonst spricht wenig dafür. Als Diskussionsbeitrag folgt ein Vorschlag.

Wenn eine Vorlage im Parlament eine bestimmte Ja-Mehrheit (bei Referenden) oder Nein-Mehrheit (bei Volksinitiativen) überschreitet, braucht es in der Volksabstimmung für einen Abstimmungssieg auch höhere Mehrheiten als 50 Prozent plus eine Stimme. Eine krude Regel wäre „gleiche Mehrheiten wie im Parlament, einfach umgekehrt“. Natürlich sind auch mildere Quoren denkbar.

Eine Lösung für das Ständemehr wäre noch zu finden. Mehrheitsregeln zu ändern ist ein möglicher Ansatz. Doch auch die Regeln für das Zustandekommen von Volksinitiativen müssten heutigen Verhältnissen angepasst werden. Eigentlich lautet die Grundfrage: Sind Reformen der direkten Volksrecht überhaupt noch diskutierbar oder haben wir inzwischen ein derart religiöses Verhältnis zur direkten Demokratie, dass jeder Versuch, eine Reformdiskussion anzustossen, als Sakrileg gilt?