Harte Zeiten für die westlichen Demokratien

Im fernen Jahr 1994 erklärte Paul Krugman, der US-amerikanische Wirtschafts-Nobelpreisträger von 2008, in einem Artikel in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ den wirtschaftlichen Aufstieg der asiatischen Tigerstaaten (Südkorea, Taiwan, Singapur) mit ihren hohen Wachstumsraten wie folgt: „Wenn es ein Geheimnis für das asiatische Wachstum gibt, dann ist es schlicht aufgeschobene Belohnung („deferred gratification“), also die Bereitschaft, für zukünftigen Gewinn aktuelle Bedürfnisbefriedigung zu opfern. Das ist eine schwer zu akzeptierende Antwort, besonders für amerikanische politische Intellektuelle, die vor der tristen Aufgabe zurückschrecken, Defizite abzubauen und die nationale Sparquote zu erhöhen.“

Diese monokausale Begründung mag krud erscheinen, aber sie enthält den wesentlichen Punkt. Was zu ergänzen wäre: Um eine Strategie des aufgeschobenen Konsums, hoher Sparquoten und geringer Verschuldung durchzuhalten, brauchte es den „wohlwollenden Diktator“ (Lee Kwan Yew in Singapur) oder autokratische Institutionen mit einer dominierenden Partei (Taiwan und Südkorea). Die Schweiz bot in der Gründerzeit nach 1848 als repräsentative Demokratie mit einer FDP-Einparteienregierung ein frühes Muster des volkswirtschaftlichen Aufstiegs durch „deferred gratification“. Bis heute profitieren wir von den Pionierleistungen jener Periode.

Mit einem Wachstumsprogramm unter dem Slogan „deferred gratification“ sind in den wohlfahrtsstaatlichen Demokratien von heute keine Wahlen zu gewinnen. Besonders die Politiker der hoch verschuldeten Problemländer traten bei ihren auf Gegenwartskonsum fixierten Wählern genau mit der gegenteiligen Strategie „anticipated gratification“ in Erscheinung: schuldenfinanzierte wohlfahrtsstaatliche Expansion. Wer meint, in der Schweiz sei alles anders, das heisst natürlich besser, sollte sich an den 3. März erinnern. Gälte bei für unsere Politik die Losung „deferred gratification“, hätten die Ergebnisse der beiden AHV-Volksinitiativen umgekehrt lauten müssen. Eine überdeutliche Mehrheit hätte gegen eine 13. Monatsrente stimmen müssen, eine deutliche Mehrheit für die Bindung des Rentenalters an die Lebenserwartung.

Institutionalisierte Dekadenz

Die westlich-europäisch geprägten Demokratien haben sich in den Jahrzehnten seit Krugmans treffender Aussage als Systeme der institutionalisierten Dekadenz erwiesen. Geradezu gesetzmässig wirken Fehlanreize auf Politik und Publikum. Das Stichwort, das fast alles erklärt, was schief läuft, lautet „Wählerkauf“. Was das in der erlebten Wirklichkeit konkret bedeuten kann, lässt sich zum Beispiel an dem oft erbärmlichen Zustand italienischer Staatsstrassen besichtigen. Oder ein anekdotisches Beispiel aus Deutschland: In der Nähe zur Schweizer Grenze empfehle ich die Besichtigung des verwahrlosten Bahnhofs der Kreisstadt Tuttlingen mit immerhin knapp 40’000 Einwohnern.

Dramatisch zeigt sich das Phänomen „Wählerkauf“ auch an der Unwilligkeit der europäischen NATO-Staaten, ihren angemessenen Beitrag zum westlichen Verteidigungsbündnis zu leisten. So haben sie sich sehenden Auges in die Abhängigkeit von strategischen Interessen der USA begeben. Gemeinsam ist den staatlichen Kernaufgaben Militär und Infrastrukturen, dass sie im Vergleich zu direkten Begünstigungen in der Bevölkerung und der Politik eher unpopulär sind.

Die populären Begünstigungen sind überwiegend gesetzlich gebundene, oft sozialpolitisch, zunehmend auch klima- oder industriepolitisch begründete Staatsausgaben. In der Sozialpolitik steigen die Ansprüche allein aus demografischen Gründen. Andernorts, weil Fördergelder nicht wie erhofft wirken und deshalb nach üblicher politischer Logik einfach erhöht werden – nach dem Motto „mehr vom gleichen“. Und immer öfter braucht es zusätzlich Geld, um politische Fehlleistungen auszubügeln.

Konditionierung der Erwartungen im Wohlfahrtsstaat

Im fortgeschrittenen Wohlfahrtsstaat sind fast alle Interessen auf Bedürfnisbefriedigung in der unmittelbaren Gegenwart gerichtet. Das historische Verständnis für die Ursachen des langfristigen wirtschaftlichen Fortschritt ist verloren gegangen. Mit der Zersplitterung der Parteienlandschaft in den westlichen Demokratien befinden sich die Parteien, von Umfragen getrieben, im Dauerwahlkampf. Denn wenige Prozentpunkte an Wählerstimmen können über die Beteiligung an einer Koalitionsregierung bestimmen. Das steigert die Anreize für schuldenfinanzierte Wohltaten auf Kosten späterer Generationen.

Die hier beschriebenen Entwicklungen werden ausserhalb unserer Gesellschaften als Symptome westlicher Dekadenz wahrgenommen. Die wünschbare echte Zeitenwende zurück zu einem verantwortungsvollen Umgang mit knappen Ressourcen wird dadurch erschwert, dass der Wohlfahrtsstaat menschliches Verhalten konditioniert. Erwartungen an Politik und Staat werden, moralisch aufgeladen, zu Ansprüchen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind, weil sich daraus eine Art Gewohnheitsrecht ableiten lässt. Die Leistungsbereitschaft nimmt in einem solchen Klima Schaden. Das Recht auf Wohlstand ist kein Menschenrecht – und deshalb wohl selbst beim EGMR in Strassburg noch nicht einklagbar.

«Lechts und rinks» vereint gegen das institutionelle Abkommen mit der EU

Dieser Text erschien auf „Nebelspalter online“ vom 17. April 2024.

Unter dem Eindruck jüngerer politischer Ereignisse und Positionsbezüge in der Schweiz denkt man spontan an den berühmten Vierzeiler „Lichtung“ des österreichischen experimentellen Lyrikers Ernst Jandl: «manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein illtum». Das aktuellste Muster bietet die Abstimmung vom 3. März über die 13. AHV-Rente. Sympathisanten der Polparteien links und rechts verhalfen der Volksinitiative der Gewerkschaften vereint zum Erfolg.

Auch in der heisser werdenden Phase der Europapolitik sehen wir die Linke und die Rechte vereint in der lautstarken Gegnerschaft zu einem institutionellen Abkommen mit der EU. Es gibt aber wichtige Unterschiede, was die Motive betrifft, und das könnte durchaus politische Folgen haben.

Die Rechte, am lautesten die SVP-Prominenz, warnt vor einer geradezu existenziellen Schädigung der Sonderfall-Institutionen, also der direkten Volksrechte, des Föderalismus und einer strikt traditionell interpretierten Neutralität. Es geht für sie dabei um die besonderen Formate und Prozesse der politischen Willensbildung, die nach Auffassung der Rechten die Identität der Schweiz ausmachen. Es herrscht auf dieser fundamentalistisch geprägten Seite grosse Sorge um die Standfestigkeit der Linken.

Verteidigung der Steckenpferde

Denn die Linke hat die Institutionen nur in zweiter Linie im Sinn, anders gesagt als Mittel zum Zweck, um ihre politischen Steckenpferde zu reiten. Im Vordergrund steht für sie das Inhaltliche, wo konkrete Forderungen vorliegen und rote Linien verkündet wurden:

  • Lohnschutz bis hinunter in kleinste Details (Spesenregelungen, Voranmeldefristen),
  • Ausbau der flankierenden Massnahmen,
  • Schutz des Service Public,
  • das heisst keine Strommarktliberalisierung,
  • keine Zulassung ausländischer Bahnunternehmen im Schienenverkehr,
  • keine Marktöffnungen oder Privatisierungen bei Post/Postfinance,
  • Erhalt der Mehrheit des Bundes an der Swisscom,
  • Schutz der diversen, vor allem kantonalen Subventionsregimes zugunsten des Service Public inklusive Energiesektor mit all den kommunalen und regionalen Versorgern.

Für die Linke spielen die Institutionen nur deshalb eine Rolle, weil die politische Praxis gezeigt hat, dass die direkten Volksrechte es den Gegnern von Liberalisierungen und Privatisierungen auf dem breiten Feld des von der Linken definierten Service Public ermöglicht haben, das Parlament bei solchen Projekten mithilfe des Stimmvolks auszubremsen. Die Referendums- und Initiativmacht der Linken steigt mit jedem Abstimmungserfolg. Dies wiederum erhöht die Wirkung von Referendumsdrohungen, was das Parlament präventiv diszipliniert.

Die Linke ist nicht fundamental gegen ein institutionelles Abkommen. Sie möchte aber den Arbeitsmarkt und den Service Public von der Unterstellung unter ein institutionelles Abkommen mindestens teilweise ausschliessen,.

Schlüsselrolle der Linken

Die Konstellation «lechts und rinks vereint» vermittelt für die eben begonnenen Verhandlungen mit der EU wenig Hoffnung auf ein beidseitig zufriedenstellendes Ergebnis. Das könnte sich ändern, wenn die schweizerische Verhandlungsdiplomatie in Bezug auf die linken Forderungen derart viele Zugeständnisse der EU herausholen könnte, dass die Linke aus dem Boot, in dem sie vorderhand mit der Rechten sitzt, aussteigen würde – ein ziemlich unrealistisches Szenario.

Denselben Effekt auf die Auflösung der Vereinigung «lechts und rinks» hätte es, wenn die schweizerische Linke ihre roten Linien so weit zurück nehmen würde, dass die EU mit den schweizerischen Konzessionen leben könnte. Eine solche Entwicklung erscheint wahrscheinlicher als grosszügige Konzessionen der EU-Seite.

Sollte die Linke aus dem Boot mit den rechten Gegnern eines institutionellen Abkommens aussteigen, hätten wir parteipolitisch eine Stärkung der schädlichen Konstellation «alle gegen die SVP», die schon die Referenden zur Energie- und Klimapolitik belastete. Sie verleitet nämlich in Referenden viele Leute dazu, gar nicht zur Sache selbst abzustimmen, sondern das wohlige Gefühl zu geniessen, der ungeliebten SVP eins auswischen zu können. Und ein Referendum gegen ein vom Parlament verabschiedetes Abkommen mit der EU wäre unvermeidlich.

Wer stoppt Maillard?

Dieser Text erschien auf „Nebelspalter online“ vom 21. April 2024.

Das Debakel der beiden AHV-Abstimmungen vom 3. März wird weitherum nicht als solches wahrgenommen. Lieber feiert man den triumphierenden Gewerkschaftspräsidenten Maillard als den neuen „Blocher der Linken“. Christoph Blocher hatte im Referendum über den Beitritt zum EWR im Dezember 1992 das ganze politische und wirtschaftliche Establishment besiegt. Beim EWR gab es im Nationalrat eine Mehrheit von 128 zu 58 für den Beitritt, im Ständerat sogar 38 zu 2.

Seither gab es immer wieder Referenden, bei denen das Parlament mit klaren Mehrheiten für gewichtige Reformen votierte, die aber, mit der politischen Linken in einer Hauptrolle, vom Volk teils mit erdrückenden Mehrheiten abgelehnt wurden.

  • Es begann im Jahr 2002 mit dem Elektrizitätsmarkt-Gesetz. Der Nationalrat hatte diesem mit 160 Ja zu 24 Nein überdeutlich zugestimmt, der Ständerat mit 36 zu 2. Das Stimmvolk lehnte das Gesetz mit 53 Prozent Nein-Stimmen ab.
  • Bei der Volksabstimmung über die 11. AHV-Revision von 2004 waren die Ja-Mehrheiten in den Räten geringer, die Ablehnung durch das Stimmvolk mit nur 32 Prozent Ja-Stimmen dafür umso deutlicher.
  • Noch massiver verloren Bundesrat und Parlament im Jahr 2010 das Referendum gegen die BVG-Revision mit Senkung des Umwandlungssatze mit nur 27 Prozent Ja-Stimmen sowie im Jahr 2012 das Referendum gegen die KVG-Managed Care-Vorlage mit bloss 24 Prozent Ja-Stimmen.
  • Die Unternehmenssteuer-Reform III wurde im Referendum von 2017 mit 59 Prozent Nein-Stimmen verworfen. Im Parlament lauteten die Ja-Mehrheiten 139 zu 55 im Nationalrat und 29 zu 10 im Ständerat.
  • Als jüngstes Beispiel eines linken Abstimmungssiegs gegen Bundesrat und Parlament haben wir nun den Fall der 13. AHV-Rente. Der Nationalrat hatte die Initiative der Gewerkschaften mit 126 zu 69 abgelehnt. Im Ständerat gab es 31 Nein zu 10 Ja.

Quoren für Volksabstimmungen?

Bei Volksinitiativen und Referenden geht es nie einfach nur um die konkrete Sache an sich. Die direkte Demokratie erlaubt besondere Machtspiele. Gewinnt eine Partei oder ein Interessenverband eine Volksabstimmung, steigert dies immer auch die Verhandlungs- und Referendumsmacht, und zwar mit beträchtlicher Vorauswirkung auf die Gesetzgebung. Der oft gehörte Satz „das ist politisch nicht machbar“ ist symptomatisch. Nicht zufällig bereicherte auch der frühere Bundesrat Berset mit dieser Floskel die Diskussion um eine Erhöhung des Rentenalters. Eine unbefangene Sichtung der wichtigsten Volksabstimmungen seit der Jahrtausendwende stützt die These einer schleichenden Sozialdemokratisierung der Schweiz. Und dieser Prozess läuft weiter.

Eine ideologiefreie Analyse führt zum Schluss, dass mit der Häufung von Volksinitiativen das Gleichgewicht zwischen den repräsentativen Organen Bundesrat und Parlament einerseits und den Volksrechten der stimmberechtigten Bevölkerung anderseits aus den Fugen geraten ist. Als eine unter vielen denkbaren Reformansätzen könnte man Quoren für Volksabstimmungen einführen. Der Vorteil von kruden Mehrheitsabstimmungen nach heutigen Regeln – 50 Prozent plus eine Stimme – ist deren Einfachheit. Sonst spricht wenig dafür. Als Diskussionsbeitrag folgt ein Vorschlag.

Wenn eine Vorlage im Parlament eine bestimmte Ja-Mehrheit (bei Referenden) oder Nein-Mehrheit (bei Volksinitiativen) überschreitet, braucht es in der Volksabstimmung für einen Abstimmungssieg auch höhere Mehrheiten als 50 Prozent plus eine Stimme. Eine krude Regel wäre „gleiche Mehrheiten wie im Parlament, einfach umgekehrt“. Natürlich sind auch mildere Quoren denkbar.

Eine Lösung für das Ständemehr wäre noch zu finden. Mehrheitsregeln zu ändern ist ein möglicher Ansatz. Doch auch die Regeln für das Zustandekommen von Volksinitiativen müssten heutigen Verhältnissen angepasst werden. Eigentlich lautet die Grundfrage: Sind Reformen der direkten Volksrecht überhaupt noch diskutierbar oder haben wir inzwischen ein derart religiöses Verhältnis zur direkten Demokratie, dass jeder Versuch, eine Reformdiskussion anzustossen, als Sakrileg gilt?

Die Armeeausgaben unter der Knute der starren Schuldenbremse

Dieser Text erscheint in der Weltwoche vom 08.24 vom 22. Februar 2024 in einer redigierten Version unter dem Titel „Friedensdividende für die Armee“.

Neben der Schuldenbremse gilt auch die Staatsmaxime der bewaffneten Neutralität, die man wegen ihres historischen Gewichts als hierarchisch übergeordnet betrachten kann. Als Folge der Beschlüsse des Wiener Kongresses von 1815 ergeben die Begriffe „bewaffnet“ und Neutralität nur in Verbindung den beabsichtigten Sinn. ChatGPT erklärt: „Der Wiener Kongress legte fest, dass die Neutralität der Schweiz eine „bewaffnete Neutralität“ sein würde. Dies bedeutete, dass die Schweiz zwar als neutraler Staat anerkannt wurde, von ihr aber auch erwartet wurde, dass sie über eine gut ausgerüstete und fähige Armee zur Verteidigung ihrer Neutralität verfügte.“ Nur mit dieser Verpflichtung ist die Schweiz von den damaligen Grossmächten in die Neutralität entlassen worden.

Daran erinnerte letztes Jahr, wohl ohne den historischen Bezug zu kennen, der Botschafter der USA in Bern, Scott Miller, als er in einem NZZ-Interview meinte, die Nato sei wie ein Donut mit der Schweiz als Loch in der Mitte. Donut hin oder her, die Aussichten für den enorm teuren Wiederaufbau einer glaubwürdigen Armee sind düster. Eine zum Fetisch gewordene Schuldenbremse steht im Weg. Nach jüngsten Meldungen soll sich der Wiederaufbau der Armee bis ins Jahr 2045 hinziehen. Dass der Begriff „express“ in der politischen Realität der Schweiz mit ihrem oft wirren Institutionengeflecht keinen Platz hat, wissen wir nicht erst seit dem Stocken von Solar- und Wind-Express. Doch die starre Schuldenbremse stur auf die überfällige Nachrüstung der Armee anzuwenden, ist nicht nur sicherheitspolitisch fahrlässig und ökonomisch fragwürdig, sondern von den Prioritäten her auch irgendwie verkehrt.

Die Starrheit der Schuldenbremse lässt sich volkswirtschaftlich kaum begründen. Zwischen 2005, als die Schuldenbremse zu wirken begann, bis 2022 sank die Verschuldung des Bundes – ohne die ausserordentlichen Corona-Ausgaben – von rund CHF 130 Mrd. um gut CHF 30 Mrd. auf knapp unter CHF 100 Mrd. Um die Militärausgaben auf das international eher bescheidene Niveau von einem Prozent des BIP anzuheben, hätte die Schweiz gemäss Statista-Daten zwischen 2012 und 2022 zusätzlich CHF 22,5 Milliarden in die Armee stecken müssen. Nimmt man die Jahre von 2005 bis 2012 dazu, wozu Statista-Daten fehlen, landet man auch bei etwa CHF 30 Mrd.. Der Schuldenabbau des Bundes von gut CHF 30 Mrd. stimmt also mit der eingestrichenen Friedensdividende überein.

Für die Wiederherstellung einer glaubwürdigen Verteidigungsfähigkeit waren aus offiziellen Quellen Beträge von CHF 40 Milliarden im Umlauf. Eine Überschlagsrechnung ergibt Folgendes: Erhöhten sich die Nettoschulden um CHF 40 Milliarden, stiege die Schuldenquote des Bundes um etwa fünf Prozentpunkte und die Schuldenquote aller staatlichen Ebenen um zwei bis drei Prozentpunkte. Damit befände sich die Schweiz noch längst unter den am niedrigsten verschuldeten Demokratien. Auch an der komfortablen Situation des Bundes als Kreditnehmer mit Schuldzinsen deutlich unter einem Prozent würde sich kaum etwas ändern.

Investive Staatsausgaben sollen in der Zukunft einen produktiven Nutzen, d.h. eine Rendite bringen. Man denke etwa an wirksame Ausgaben für die Bildung oder die Infrastruktur. Die „Rendite“ gesteigerter Armeeausgaben ist die Erhöhung der militärischen Sicherheit. Es ist volkswirtschaftlich kaum sinnvoll, dem Bund mit Rücksicht auf eine starre Schuldenbremse eine Kreditaufnahme zu Zinsen nahe null zu verbieten, wenn damit Investitionen in die Zukunft des Landes verhindert werden. Aus dieser Sicht gilt auch das einseitige Argument nicht, künftige Generationen hätten später die Lasten unseres Schuldenmachens zu tragen. Sie sind es ja gerade, die vom Nutzen sinnvoller Zukunftsprojekte profitieren.

Natürlich garantiert mehr Geld allein noch nicht, dass die Schweiz wieder eine glaubwürdige Verteidigungsarmee erhält. Es braucht auch qualitative Reformen, speziell im Bereich der komplizierten und bürokratischen Beschaffung. Dazu zählt nicht zuletzt der Verzicht auf den üblichen föderalistisch verbrämten Firlefanz um Kompensationsgeschäfte, der Rüstungsgeschäfte verteuert und verzögert.

Abgewrackte Armee – Kollateralschaden der Schuldenbremse

Dieser Text erschien am 15. Dezember als Gastkommentar in der Rubrik „Tribüne“ der NZZ und gleichentags in der Online-Ausgabe nzz.ch.

In der Schweiz ist man mächtig stolz auf die vom Stimmvolk beschlossene Selbstbindung gegen das Schuldenmachen im Bundeshaushalt. Der betreffende Verfassungsartikel 126 wurde in der Volksabstimmung vom 2. Dezember 2001 mit 85 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Die Eidgenössische Finanzverwaltung (EFV) erklärt die Schuldenbremse so: «Die Schuldenbremse soll den Bundeshaushalt vor strukturellen (chronischen) Ungleichgewichten bewahren und damit verhindern, dass die Bundesschuld ansteigt wie in den 1990er Jahren. Gleichzeitig gewährleistet sie eine antizyklische Fiskalpolitik, indem sie in Abschwungphasen begrenzte konjunkturelle Defizite zulässt und in Phasen der Hochkonjunktur Rechnungsüberschüsse verlangt.»

Für die überwältigende Zustimmung zur Schuldenbremse gibt es plausible Erklärungen. Erstens haben viele prinzipiell den Eindruck, ihr Steuergeld werde aus ihrer Sicht auch für unnütze Zwecke verschwendet. Zweitens wirkte bei dieser Volksabstimmung der «Schleier der Unwissenheit» (John Rawls). Niemand wusste im Voraus, wie sie oder er persönlich durch die Schuldenbremse betroffen sein würde. Diese Voraussetzung ist für Volksabstimmungen untypisch.

In der Zeit seit der Einführung der Schuldenbremse bis 2019 konnte die Verschuldung des Bundes dank strukturellen Überschüssen abgebaut werden. Gemäss EFV gelang dies vor allem, weil die Ausgaben tiefer ausfielen als budgetiert. Überschüsse sind aber nicht per se positiv. Sie können dadurch entstehen, dass Ausgaben für wichtige Vorhaben in die Zukunft verschoben werden. Beispielhaft dafür stehen die Altersvorsorge und das Gesundheitswesen inklusive Alterspflege. Mit der Energiewende, das heisst der Priorisierung erneuerbarer Energie, entstehen neue, noch kaum verlässlich bezifferbare Ansprüche an den Bundeshaushalt. So ist es kein Wunder, dass der Bund gerade in jüngster Zeit vor wachsenden strukturellen Defiziten warnt.

Als eine der grössten Fehlleistungen unseres politischen Systems erweist sich heute die skandalöse Vernachlässigung der militärischen Sicherheit. Sie ist ein idealtypisches öffentliches Gut und ist deshalb eine der prioritären Staatsaufgaben. Hier gab es jedoch keine der üblichen Blockaden aus der Unvereinbarkeit politischer Positionen wie bei drängenden Reformen der Altersvorsorge oder des Gesundheitswesens, sondern es herrschte quer durch das politisch-ideologische Spektrum eine opportunistische Grundstimmung für Einsparungen.

Damit gelangen wir zum Stichwort Crowding-out. Crowdingout bezeichnet dieVerdrängung von Notwendigem in Konkurrenz mit anderen Ansprüchen durch eine gesetzlich oder politisch vorgegebene Obergrenze. Wenn gesetzlich festgeschriebene Ansprüche – oft sind es sozialpolitische Ansprüche – oder andere, die politisch opportun sind, die Vorgaben der Schuldenbremse strapazieren, werden vorzugsweise die unpopulären Ausgaben beschnitten. Das Armeebudget gehört fast in allen Parteien zu diesen unpopulären Bereichen, weil sich mit dem Einsatz für höhere militärische Ausgaben keine Wahlen gewinnen lassen. Jetzt droht der grossartig verkündete Aufwuchs der Armee auf ein Ausgabenniveau von jährlich einem Prozent des BIP unter dem Druck wachsender Defizite schon wieder zurückgefahren und zeitlich gestreckt zu werden.

Das Crowding-out wirkt asymmetrisch zugunsten gebundener Konsumausgaben mit gesetzlichem Anspruch. Zurückgestellt werden primär Investitionen, also Ausgaben, deren Nutzen in der Zukunft anfällt. Hier gibt es meist weder gesetzliche Ansprüche noch fixe zeitliche Vorgaben. Nicht nur die Ausgaben für die militärische Sicherheit sind betroffen. Aus heutiger Warte ist auch klar, dass die grossen Infrastrukturprojekte in den Sektoren Verkehr und Energie nicht so wie zeitlich geplant realisiert werden können. Die Verdrängung von Vorhaben mit positiver Langzeitwirkung durch konsumtive Staatsausgaben nimmt der Schuldenbremse, so wie sie in der Praxis funktioniert, viel von ihrem Heiligenschein.

Die neuen meinungsmächtigen Eliten ticken links

So wie in den USA, läuft es auch bei uns

Am 29. Dezember 2022 erschien in der NZZ mein Artikel mit dem Titel *Klimapolitik und der neue Moraladel“. Dort kommentierte ich Ergebnisse der Referenden über das Energiegesetz (Mai 2017) und über das CO2-Gesetz (Juni 2021). Akademisch Gebildete hatten den von links-grüner Ideologie getränkten „Energiewende-Gesetzen“ in beiden Volksabstimmungen mit dem weitaus höchsten Ja-Anteil aller Bildungskategorien zugestimmt.

Zu dieser politisch-ideologischen Verschiebung der Eliten in den Sektoren der „knowledge economy“ nach links bieten die USA harte Daten zu Parteiverschiebungen nach sozio-ökonomischen Kriterien. In der Demokratischen Partei dominieren heute ganz andere Bevölkerungsgruppen als früher. Das hat auch massive Auswirkungen auf die finanzielle Unterstützung der Parteien. Ich zitiere aus einem Artikel auf der Plattform „The Liberal Patriot“ (Hervorhebungen durch Fettschrift von mir):

Two decades ago, sociologists Jeff Manza and Clem Brooks observed that “professionals have moved from being the most Republican class in the 1950s, to the second most Democratic class by the late 1980s and the most Democratic class in 1996.” This consolidation has only grown even more pronounced in the intervening years. As professionals have increasingly clustered in the Democratic Party, moreover, they’ve grown increasingly progressive, particularly on “cultural” issues surrounding sexuality, race, gender, environmentalism—and especially when compared with blue-collar workers.

Federal Election Commission campaign contribution data provides stark insights into just how strongly knowledge economy professionals have aligned themselves with the Democratic Party in recent cycles. In 2016, roughly nine out of ten political donations from those who work as activists or in the arts, academia, and journalism were given to Democrats. Similarly, Democrats received around 80 percent of donations from workers involved in research, entertainment, non-profits, and science. They also received more than two-thirds of donations from those in information technology, law, engineering, public relations, or civil service jobs. Among industries that skewed Democratic, the party’s highest total contributions came from lawyers and law firms, environmental political action committees, non-profits, the education sector, the entertainment sector, consulting, and publishing.

Similar patterns held in 2020: the occupations and employers with the largest number of workers who donated to the Biden-Harris campaign included teachers, educators and professors, lawyers, medical and psychiatric professionals, people who work in advertising, communications and entertainment, consultants, human resources professionals and administrators, architects and designers, IT specialists and engineers. Industries that provided the highest total contributions to the Democrats included securities and investment, education, lawyers and law firms, health professionals, non-profits, electronics companies, business services, entertainment, and civil service. Geographically speaking, Democratic votes in 2020 were tightly clustered in major cities and college towns where knowledge economy professionals live and work—and outside those zones, it was largely a sea of red.

The alignment of knowledge economy professionals with the Democratic Party has also shifted the socioeconomic composition of the Democratic base. To give some perspective of how much has changed: in 1993 the richest 20 percent of congressional districts were represented by Republicans over Democrats at a ratio of less than two to one. Today, they tilt Democratic by nearly five to one. 

Diese ideologisch-politische Verschiebung der zahlenmässig wachsenden akademischen Elite nach links sieht man in der Schweiz auch in der Leichtigkeit, mit welcher linke Gruppierungen heutzutage Finanzen und Unterschriften für Volksinitiativen und Referenden zusammenbringen.

Mein kurzes Intermezzo mit SP-Bundesratskandidat Jon Pult

Vor den Eidgenössischen Wahlen im Herbst 2019, als Jon Pult für den Nationalrat kandidierte, hatte ich die Ehre, im bündnerischen Tiefencastel gegen Pult auf einem SP-Podium zum Thema Klimawandel anzutreten. Aufgrund verschiedener kritischer klimapolitischer Beiträge in den Medien hatte ich mir offenbar den Ruf eines Klimaskeptikers erworben. Ein Mann im Publikum äusserte in der anschliessenden Diskussion sogar den Verdacht, es könnte sich bei mir um einen Klimaleugner handeln. Wie dem auch sei, für eine kontroverse Veranstaltung mit Kandidat Pult war ich ein grundsätzlich geeigneter Antipode.

Im Verlauf der Podiumsdiskussion fiel mir auf, dass Pult auf jede Frage, zu jedem Thema fliessend und ohne anzustossen eine geschmeidig, mit unerschütterlicher Überzeugung vorgetragene Meinung zum Besten gab. Die Äusserungen klangen oft wie auswendig gelernte Formulierungen aus einem ausführlicheren Parteiprogramm. Nachdem ich meinen Part als Kontrahent gespielt hatte, wagte ich gegen Ende des Podiums schliesslich eine wenig riskante Wahlprognose. Ich prophezeite Pult eine sichere Wahl zum Nationalrat. Seine rhetorische Gabe, auf alles und jedes eine fertig formulierte Antwort oder Meinung zu haben, prädestiniere ihn zum erfolgreichen Politiker.

Kernenergie in den USA: im Aufwind, aber gegen Widerstand

Eine Gallup-Umfrage vom letzten Jahr unter dem Titel „Unterstützung der Amerikaner für die Kernenergie“ zeigte auch bei diesem Thema das übliche Bild einer gespaltenen Gesellschaft. 51 Prozent der befragten Erwachsenen gaben an, sie seien sehr oder eher für Strom aus Kernkraft. Beinahe die Hälfte ist demnach grundsätzlich gegen die Kernenergie.

Aufschlussreich sind die Ergebnisse nach Kategorien. Eine sehr grosse Diskrepanz gibt es zwischen den Geschlechtern. 63 Prozent der befragten Männer sind pro Kernenergie, während es bei den Frauen bloss 39 Prozent sind. Ähnliche Geschlechterdifferenzen kennen wir bei ideologisch aufgeladenen Themen auch in der Schweiz. Zwischen den Alterskategorien gibt es ebenfalls Unterschiede. Die über 55-Jährigen zeigen die höchste Zustimmung (57 Prozent pro Kernenergie).

Die Ergebnisse nach Bildungsgrad interessieren besonders, weil wir aus der VOTO-Studie zum Referendum über das Energiegesetz vom Mai 2017 vergleichbare schweizerische Daten haben. Diese Abstimmung war bekanntlich auch eine „Atomausstiegs-Abstimmung“, weil das Gesetz im Anhang ein Neubauverbot für Kernkraftwerke enthält. In den USA sind Hochschulabgänger gemäss Gallup-Umfrage kernenergiefreundlicher als Leute ohne Hochschulbildung (57 Prozent zu 45 Prozent pro Kernenergie). Dagegen erhielt das Energiegesetz mit „Atomausstieg“ von den Stimmenden mit Hochschulabschluss bei weitem die höchste Unterstützung, nämlich 74 Prozent gegenüber nur 45 Prozent Zustimmung von der untersten Bildungskategorie. Über die Gründe dieses Kontrasts zwischen den USA und der Schweiz liesse sich bloss spekulieren. Ein Unterschied besteht darin, dass die Gallup-Umfrage die ganze erwachsene Bevölkerung abbildet, während die VOTO-Umfrage nur die Leute erfasst, die abgestimmt haben, also nur rund 42 Prozent der Stimmberechtigten.

Das pikanteste Resultat der Gallup-Umfrage ist aus schweizerischer Sicht nicht überraschend. Denn auch bei uns kennt man die eklatanten Widersprüche grüner Politik, wenn es um die Kernenergie als praktisch CO2-freie Stromproduktion geht. In den USA lehnen ausgerechnet die Leute, die sich am meisten Sorgen um die Folgen des Klimawandels machen, die Kernenergie mit der grössten Mehrheit ab. Nur 34 Prozent der Befragten waren pro Kernenergie. Anderseits waren 70 Prozent derjenigen, die sich kaum oder gar keine Sorgen um den Klimawandel machen, für die Kernenergie.

Also genau wie bei uns. Wer die Ablehnung der Kernenergie zum mobilisierenden Markenzeichen gemacht hat, wie links-grüne Parteien und NGO, hat grösste Mühe, sich von überholten Vorurteilen zu verabschieden, selbst wenn sich grundlegende Fakten geändert haben. Kernenergie hat in Zeiten der CO2-Reduktion einen besonders hohen Stellenwert, was weltweit – mit Ausnahme Deutschlands und der Schweiz – zu einer Neubeurteilung der Kernenergie geführt hat. In der Schweiz sind politische Kurswechsel allerdings besonders schwierig, weil Bundesrat und Parlament stets den Risiken von Volksinitiativen oder Referenden ausgesetzt sind, was den Reformeifer in wichtigen Dossiers beträchtlich bremst.

Abstimmungssieg der ETH

Eine staatliche Hochschule im Kampagnenmodus

Der folgende Text erschien am 26. Juni 2023 in der Online-Zeitschrift „Nebelspalter (Zugang nur mit Zahlschranke).

Vermutlich knallten am Abstimmungssonntag vom 18. Juni nicht nur bei den Siegerparteien die Korken, sondern auch am Energy Science Center der ETH Zürich. Das sogenannte Klimaschutzgesetz war vom Stimmvolk mit einer Ja-Mehrheit von rund 59 Prozent angenommen worden. Damit wurde der unerwartete Lapsus des erfolgreichen Referendums gegen das CO2-Gesetz vom Juni 2021 mehr als korrigiert. Unter dem Druck der „Gletscherinitiative“ haben wir nun als CO2-Reduktionsziel „netto null 2050“ gesetzlich festgeschrieben. In Bezug auf die absehbaren praktischen Auswirkungen bedeutet dies eine Radikalisierung der Klima- und Energiepolitik. Obwohl Politik und Medien dem Stimmvolk mit Verweis auf diverse Studien suggerierten, „netto null 2050“ sei technisch und wirtschaftlich machbar, weiss heute niemand, wie das gehen könnte. Deshalb soll jetzt die ETH in einem teils privat finanzierten 100-Millionen-Projekt nützliche Erkenntnisse liefern.

Verdient hat die ETH diese Forschungsmittel voll und ganz. Unsere Renommierhochschule hatte sich kampagnenmässig im Abstimmungskampf für das Klimaschutzgesetz engagiert. Auf erste Anzeichen eines politischen Engagements stiess ich, als ich mich nach der Lancierung der Gletscherinitiative im Jahr 2018 für einen Zeitungsartikel über die Initianten informierte. Dort stiess ich im wissenschaftlichen Beirat auf den ETH-Professor und Klimamodellforscher Reto Knutti, mittlerweile dank seinem gut sichtbaren Engagement wohl der bekannteste Kopf der hiesigen Klimaforschung.

Im April dieses Jahres mobilisierte Professor Knutti über 200 Wissenschafterinnen und Wissenschafter von Schweizer Universitäten und Forschungsanstalten für einen öffentlichen Aufruf zur Unterstützung des Klimaschutzgesetzes. Genau zum Zeitpunkt, als das Abstimmungsbüchlein zur Abstimmung in den Briefkästen der Stimmberechtigten landete, las man in den Medien von einem eben erschienenen «White Paper» des Energy Science Center. In diesem erklären die beteiligten ETH-Autoren „netto null 2050“ aus wissenschaftlicher Sicht für technisch machbar und wirtschaftlich tragbar.

Wenige Tage später interviewte die NZZ die beiden ETH-Präsidenten Joël Mesot und Martin Vetterli unter dem Titel «So schaffen wir die Klimawende». Ihre Antworten klangen teilweise wie die offizielle Propaganda im Abstimmungsbüchlein. Für einen informierten Zeitgenossen schwer zu ertragen waren die Aussagen zur Kernenergie. Die ETH mit ihrem Energy Science Center fühlt sich offenbar immer noch einer kernenergiefreien Schweiz verpflichtet. Man kann sich gut vorstellen, dass das Verfolgen eines möglichst schwierig bis utopisch zu erreichenden Ziels – «netto null 2050» plus energetische Versorgungssicherheit nur mit Erneuerbaren – besonders hohe Forschungsbudgets erfordert. Sollte das Neubauverbot für Kernkraftwerke aufgehoben werden, könnten die Forschungsmittel schrumpfen.

Zur Knutti-Initiative meinte ETHZ-Präsident Mesot, sie widerspreche den ETH-Governance-Regeln nicht. Ihre Forschenden hätten ebenso ein Recht auf freie Meinungsäusserung wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger. Und weiter: «Zudem kann ich nachvollziehen, dass bei ihnen die Dringlichkeit zum Handeln grösser ist als in anderen Kreisen. Sie forschen zum Teil seit Jahrzehnten zum Thema Klimawandel und zu erneuerbaren Energien. Aber politisch geht es ihnen viel zu langsam vorwärts.»

So wurde die Govenance-Problematik nochchalant zur Seite gewischt. Es fehlte jegliche Sensibilität für den grundlegenden Unterschied zwischen einer individuellen Meinungsäusserung eines Forschers als Bürger und der organisierten Kollektivaktion von Reto Knutti im Namen der ETH. Es scheint, als habe die Sakralisierung der direkten Volksrechte das Sensorium für Grundsätze demokratiepolitischen Verhaltens nachhaltig beschädigt. Die entlarvenden Pointen des Interviews kamen auf die Schlussfrage «Was empfehlen Sie zum Klimaschutzgesetz?»: Mesots Antwort lautete: «Ich kann nur den Bundesrat unterstützen.» Und Vetterli: «Das sind schliesslich unsere Chefs, und wir opponieren als gute Angestellte natürlich nicht (lacht).»

Zum Lachen gibt es für mein Empfinden wenig. Es scheint mir äusserst fragwürdig, wenn sich staatliche Hochschulen als Steigbügelhalter der offiziellen Politik gebärden. Gerade von einer ETH kann die steuerzahlende Bevölkerung erwarten, dass sie ihre Forschung unabhängig von politischen Vorgaben betreibt. Eine Abstimmungskampagne gehört bestimmt nicht in den Aufgabenbereich einer staatlichen Hochschule. Wenn unsere Hochschulen nicht selbst in der Lage sind, sich Governance-Regeln zur Einhaltung politischer Neutralität und Unabhängigkeit zu geben, ist die Politik gefordert. Auch die Hochschulforschung muss sich ihre Unabhängigkeit durch die Einhaltung strikter Governance-Prinzipien verdienen.

Mehr Richterstaat, weniger Demokratie

Das Klimaschutz-Gesetz fördert die Spaltung der Gesellschaft

Dieser Text erschien am 5. Juni 2023 in der Online-Zeitschrift „Nebelspalter“ (mit Zahlschranke).

Im Abstimmungsbüchlein des Bundesrats steht unter „Ausganslage“ zum Klimaschutz-Gesetz: „Die Schweiz hat sich 2017 im Übereinkommen von Paris gemeinsam mit 192 weiteren Staaten und der EU verpflichtet, den Ausstoss von Treibhausgasen zu reduzieren.“ Die Genehmigung und Ratifizierung des Pariser Übereinkommens erfolgte im Juni 2017 per Bundesbeschluss. Das Referendum wurde nicht ergriffen, was verständlich wird, wenn man den offenen Absatz 3 in Artikel 1 des Bundesbeschlusses liest: „Das übermittelte nationale Reduktionsziel unterliegt keinen Einschränkungen bei der Umsetzung; der Inland- und der Auslandanteil am Reduktionsziel werden im Rahmen des nationalen Rechts festgelegt.“

Bis dahin also keine Rede von „netto null 2050“. Die Idee von Bundesrat und Parlament, „netto null 2050“ als Ziel in ein Gesetz zu schreiben, entstand unter dem Druck der „Gletscher-Initiative“. In Kombination mit dem Atomausstieg und einem möglichst hohen Inlandanteil bei der CO2-Reduktion haben wir nun eine Konstellation, die weitestgehend mit links-grünen Parteiprogrammen übereinstimmt. Das Motto lautet: Alles, was wir wollen, ist auch machbar.

Anreize für Klagen steigen

Die Abstimmung vom 18. Juni bietet den Leuten die Möglichkeit, mit einem Ja zum Gesetz klimapolitische Korrektheit zu signalisieren und sich dabei gut zu fühlen. Was die möglichen Folgen betrifft, wirkt das Sedativ der behördlichen Propaganda. Doch wenn die Schweiz mit der Annahme des Klimaschutz-Gesetzes das Ziel „netto null bis 2050“ ins Gesetz geschrieben haben wird, sind zwei Folgen zu beachten, die in der öffentlichen Debatte bisher kaum Gewicht hatten.

Während man früher noch versuchte, die Kosten der CO2-Reduktion pro Tonne für die verschiedenen Massnahmen bei Gebäuden oder im Verkehr und in der Industrie zu schätzen, spielt das mit der Verpflichtung „netto null“ keine Rolle mehr. Man muss auf null kommen, koste es, was es wolle, auch wenn die Reduktion pro Tonne zehn mal teurer ist als der CO2-Preis im Emissionshandel, der angibt, wie viel die Reduktion einer Tonne im Raum des europäischen Emissionshandels (EU-ETS) kostet. Zudem gilt „netto null“ auch unabhängig davon, ob die Schweiz in 27 Jahren 20, 30, 40 oder 50 Prozent mehr Einwohner hat als heute.

Der zweite Effekt besteht darin, dass die Formulierung von konkreten Ziel- und Richtwerten im Gesetz die Möglichkeiten und Anreize für Klagen an Gerichten steigert, wenn Zwischenziele der CO2-Reduktion verfehlt werden. Der Klageweg ist im Klimaaktivismus nicht neu, aber steigerungsfähig. Im Gesetz sind auch für die einzelnen Sektoren (Gebäude, Verkehr, Industrie) Richtwerte als Mindest-Reduktionswerte vorgegeben, was die Klageopportunitäten wesentlich erhöht. Wie wohlwollend gewisse Richter gegenüber militanten Klimaaktivisten und -aktivistinnen urteilen, haben wir an einigen Fällen bereits sehen können. Und für juristische Gratisverteidigung steht heutzutage das ideologisch richtig gepolte Anwaltspersonal willig bereit. Im Notfall kann man auch auf höchster Ebene jenseits der Landesgrenzen klagen. Das Urteil des EGMR in Strassburg, an das sich unsere KlimaSeniorinnen über alle beträchtlich partizipativ ausgestalteten eidgenössischen Institutionen hinweg gewendet haben, steht noch aus. Für unentgeltliche professionelle Beratung im Hinblick auf maximales Medienecho steht etwa der globalisierte Umwelt-Multi Greenpeace stets zu Diensten.

Unrealistische Richtwerte sorgen für einklagbare Ziellücken

„Netto null 2050“ erfordert zwingend die kaum realistischen Richtwerte im Gesetz als Zwischenziele. Die absehbaren Ziellücken werden einschneidende Massnahmen verlangen. Diese Warnung steht ja schon im Gesetz. Doch Widerstände gegen hohe Kosten, massive Eingriffe in den Lebensalltag und gegen die Verschandelung der Umwelt durch Anlagen der sogenannt Erneuerbaren werden sich auch in regelmässigen Referenden gegen neue gesetzliche Verschärfungen ausdrücken. Gleichzeitig werden die aktivistischen Klimaretter vermehrt an Gerichte gelangen, um die Politik zur Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen zu zwingen.

Es bleibt die ungute Aussicht, dass die ideologisch aufgeladene Klima- und Energiepolitik die Spaltung der Gesellschaft in mehrfacher Weise fördert. Nicht zuletzt wächst auch die Kluft zwischen den gut gebetteten akademisch gebildeten Eliten in den meinungsmächtigen Institutionen, die die offizielle Politik prägen, und den gewöhnlichen Menschen. Diese haben ihren Alltag zu bewältigen, ohne auf dem moralischen Hochsitz stets auch noch die „Rettung des Planeten“ im Auge zu haben.