Klimaaktivist Knutti

„Die Wissenschaft“ engagiert sich im Abstimmungskampf

Vor wenigen Wochen berichteten die Medien über eine Aktion des ETH-Klimaforschers Reto Knutti. Er hatte über 200 Wissenschafterinnen und Wissenschafter von Schweizer Universitäten und Forschungsanstalten für die Unterstützung des Klimaschutz-Gesetzes mobilisiert. Seine Begründung für die professorale Einmischung in die Volksabstimmung vom 18. Juni lautet so: „Gerade bei komplexen Themen wie dem Klimawandel sollten sich auch Wissenschaftler:innen mit ihrer Expertise einbringen und zur Meinungsbildung beitragen.“

Diese Aktion, die beansprucht, „die Wissenschaft“ zu vertreten, wurde in den Medien, kaum überraschend, fast nur wohlwollend kommentiert. Dabei kam das Grundsätzliche nicht zur Sprache: Diese Einmischung in einen Abstimmungskampf missachtet eigentlich selbstverständliche Governance-Prinzipien von staatlichen Hochschulen. Natürlich können alle, die die Aktion unterzeichnet haben, ihre persönliche politische Meinung haben und diese in Wahlen und Abstimmungen ausdrücken.

Es ist aber etwas völlig anderes, mithilfe der geliehenen Reputation seiner staatlich finanzierten Hochschule die Abstimmung über eine konkrete Gesetzesvorlage beeinflussen zu wollen – zudem noch eine ideologisch derart aufgeladene Vorlage, welche die Gesellschaft spaltet. Wenn man auf die Neinstimmen gegen das Energiegesetz mit dem „Atomausstieg“ und gegen die CO2-Vorlage abstellt, ist auch beim Klimaschutz-Gesetz mit rund 40 Prozent ablehnenden Stimmen zu rechnen. Die politische Aktion „der Wissenschaft“ richtet sich somit gegen eine grosse Minderheit, die – genau wie alle – Steuern für die staatliche Forschung zahlt.

Die Wissenschaft hat nie die Wahrheit, sondern sucht sie

Die Governance-Forderung gilt unabhänigig von der Frage, ob „die Wissenschaft“, welche diese politische Einmischung zu vertreten vorgibt, überhaupt die eine und einzige Wahrheit über den Klimawandel besitzt. Was man sicher sagen kann: Die Wahrheit über die richtige Klimapolitik kennt diese „Wissenschaft“ bestimmt nicht. Reto Knutti schreibt, die Aussage, dass die Schweiz ihre CO2-Emissionen rasch reduzieren müsse, sei eine logische Schlussfolgerung aus der Physik. Ist eine derart verkürzte Argumentation der „déformation professionnelle“ eines Klimamodell-Experten zuzuschreiben?

Auf SRF info3 sagte Reto Knutti, die Leute sollen auf der Grundlage von Fakten entscheiden können. Natürlich meint er die Fakten, so wie er sie interpretiert. Seine Sicht der Energie- und Klimapolitik ist nicht zuletzt durch seine persönliche Ablehnung der Kernenergie verzerrt. Deshalb unterstützt er Gesetze, die das Neubauverbot für KKW zementieren wollen. Nicht zufällig fehlt auf der Unterstützerliste die Unterschrift seiner ETH-Kollegin Annalisa Manera, Nuklearforscherin am PSI – Leuchtturm in einem Meer von Opportunismus.

Wenn die Fakten so aussehen, wie sie Reto Knuttis ETH-Kollege Anthony Patt in seinem Beitrag in der NZZ vom 21.April dargelegt hatte, müsste man der NZZ-Leserschaft dringend empfehlen, sich auch noch aus anderen Quellen über die Kosten einer rabiaten Dekarbonisierungspolitik zu informieren. Patt schrieb, dass die Solar- und Windenergie sowie Batterien für Elektrofahrzeuge so billig und zuverlässig geworden seien, dass die Gesellschaft im Vergleich zur Nutzung fossiler Brennstoffe damit Geld sparen werde. Das ist in ihrer Pauschalität eine faktenfreie Behauptung ohne datenbasierte Substanz, genau wie die folgende Aussage: „Die Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 °C erfordert eine Halbierung der globalen Emissionen bis 2030 und ihre vollständige Beseitigung bis 2050. Das ist technisch möglich und bezahlbar, wenn alle Länder und auch die Schweiz ihren Beitrag leisten.“ Man meint, man lese aus dem Parteiprogramm der Grünen Partei.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Klimaforschung politisiert ist, dann liefert sie die Aktion von Reto Knutti. Seine selbsternannte Wahrheits-Wissenschaft solidarisiert sich mit einer bestimmten politischen Agenda. Wie die oben genannten Volksabstimmungen zeigten, gibt es in der Klima- und Enegiepolitik eine tiefe Spaltung, da sie durch das Thema Kernenergie moralisch-ideologisch aufgeladen ist. Die Aktion „der Wissenschaft“ fördert diese Spaltung, indem sie sich einseitig positioniert.

Das eiserne Gesetz der Klimapolitik

Der britische Klimatologe Mike Hulme spricht von einem neuen Klimareduktionismus, der von einer Hegemonie prognostizierender Naturwissenschaften angetrieben sei, einer Hegemonie, die modellbasierten Beschreibungen vermeintlicher zukünftiger Klimata eine unverhältnismässige Macht im politischen und gesellschaftlichen Diskurs verleihe. Dieser Klimareduktionismus verdrängt die historische Erfahrung, dass „energy transitions“, also jetzt die Dekarbonisierung, Jahrhundertprojekte sind.

Dessen ungeachtet engt die Politik unter dem Einfluss alarmistischer Töne aus der Klimaforschung den Zeitrahmen für Emissionsreduktionen immer enger ein. Doch es ist eine Sache, „netto Null bis 2050“ in ein Gesetz zu schreiben, jedoch eine ganz andere Sache, später die realen Konsequenzen zu tragen. Demokratien sind für radikale Wenden nicht geeignet. Es gilt „the iron law of climate change“ (Roger Pielke jr.), das besagt, dass die Opferbereitschaft der Menschen in Wohlstandsgesellschaften begrenzt ist.

Die absehbare Entwicklung wird sein, dass Strategien der Anpassung an den Klimawandel gegenüber der radikalen Emissionsreduktion zunehmend an Gewicht gewinnen. Mit Anpassung waren die Menschen schon bisher erfolgreich. Der beste Beweis dafür sind die weltweit drastisch gesunkenen Opferzahlen aus extremen Naturereignissen. Davon hört man allerdings von „der Wissenschaft“ von Reto Knutti nichts.

Dieser Beitrag erschien in der WELTWOCHE Nr. 19/23 vom 11. Mai in leicht gekürzter Form. (Link-Zugang zum Artikel vermutlich nur für Abonnenten)


Es geht nicht mehr primär um die Sache

Machtspiele mit den direkten Volksrechten

In der Schweiz fühlen sich die meisten als Demokratie-Weltmeister. Auch Angehörige der verschiedenen Eliten in Politik, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft werden nicht müde, immer wieder die direkten Volksrechte und den Föderalismus als Hauptgrund für unseren hohen Wohlstand zu loben. Empirisch Gesinnte verweisen dann gerne noch auf statistische Vergleiche zwischen Teilstaaten mit mehr oder weniger direkter Demokratie aus den frühen 1990er-Jahren. Dort kam heraus, dass Gemeinwesen mit mehr direkten Volksrechten tiefere Steuern, eine niedrigere Staatsquote und mehr Wohlstand aufwiesen. Seither sind rund 30 Jahre vergangen, und neuere Vergleichsstudien sind mir nicht bekannt. Aber die Welt hat sich in dieser Zeit verändert, und die anstehenden Probleme auch.

Es gibt immerhin einen Grossvergleich, der keine aufwendigen Analysen benötigt und den Sonderfall Schweiz edelt. Ganz hinten im britischen „Economist“ sind jeweils die wichtigsten makroökonomischen Daten vieler Volkswirtschaften abgedruckt. Es ist leicht zu erkennen, dass die Schweiz dort seit Jahren einen Spitzenplatz einnimmt. Fragen stellen sich trotzdem: Mit wem will man sich vergleichen? Mit absteigenden europäischen Wohlfahrtsstaaten oder mit den besten der Welt? Oder ebenso wichtig: Können wir den Spitzenplatz auch in Zukunft halten oder schieben wir Grossprobleme mit hohen Kostenrisiken vor uns her, weil uns nachhaltige Reformen einfach nicht gelingen wollen?

Ernüchterndes aus den Niederungen der praktischen Politik
Begibt man sich von hoher Warte allgemeiner Lobpreisungen des Sonderfalls Schweiz in die Niederungen der praktischen Politik, muss man doch eines feststellen: Der Glanz der Sonderfall-Institutionen kriegt Kratzer. Es gibt kaum ein wichtiges Reformthema, bei dem die Schweiz nicht durch Widerstände gebremst oder blockiert ist, die mit drohenden Referenden oder Volksinitiativen oder föderalistischen Interessen zusammenhängen: Altersvorsorge, Gesundheitswesen, Europapolitik, Strommarkt-Liberalisierung. In der fundamental wichtigen Energiepolitik hat ein durch behördliche Manipulation und Desinformation zustande gekommenes Ja zum Energiegesetz ein unsinniges Neubauverbot für Kernkraftwerke demokratisch höchstlegitimiert – bei einer Stimmbeteiligung von nur 43 Prozent. Jetzt bastelt das Parlament aufgrund illusionärer Annahmen an einem „Mantelerlass“, der dieses Neubauverbot zu zementieren droht.

Seit Jahren wird auch gerne stereotyp und floskelhaft die Langsamkeit der politischen Prozesse als Vorteil herausgestrichen. Dies unter anderem, weil damit verhindert werde, dass falsche Politik bei uns später eingeführt werde als im Ausland – ein intellektuell bescheidenes Argument. Zudem sehen wir ja auch, dass es bei uns viel länger dauert, bis falsche Politik oder überholte Gesetze wieder korrigiert werden können, weil sich inzwischen Interessengruppen gebildet haben, welche eine „Rückkehr zur Vernunft“ bekämpfen. Ein schönes Beispiel dazu ist der vollkommen gescheiterte Versuch des früheren Finanzministers Hans-Rudolf Merz, die unter Referendumsdruck zustande gekommene komplizierte Mehrwertsteuer mit mehreren Sätzen und vielen Ausnahmen radikal zu vereinfachen. Noch ein Muster institutioneller Bedächtigkeit: Das revidierte Aktienrecht ist Anfang dieses Jahres in Kraft getreten. Der Anstoss dazu erfolgte im Jahr 2005!

Auch die verantwortungslose Vernachlässigung der militärischen Sicherheit hat mit Initiativrisiken zu tun. Schliesslich haben wir eine Gruppe für eine Schweiz ohne Armee GSoA, die als initiativfähige Macht die Rüstungspolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen vermochte. Auf der GSoA-Webseite liest man, sprachlich verbesserungsbedürftig wörtlich: „Die GSoA bedient verwendet direktdemokratischer Instrumente und hat seit ihrer Gründung 1982 sieben Volksinitiativen und zwei Referenden gesammelt. Bei weiteren fünf Initiativen hat die GSoA massgeblich zur Unterschriftensammlung beigetragen.“

Grosse Angst vor der institutionellen Frage
Wir hören und lesen aus sogenannt bürgerlich-liberalen Kreisen seit Jahren immer wieder dieselben kritischen Aufrufe, das erfolgreiche Modell Schweiz nicht verkommen zu lassen. Gefolgt von den immer gleichen Reformvorschlägen, die längst bekannt sind, jedoch in der Politik keine Mehrheiten finden. Niemand wagt, die institutionelle Frage zum Thema zu machen. Volksrechte und Föderalismus werden auch in ihrer real existierenden Form durch alle Böden verteidigt. Wer auch nur leise Skepsis anmeldet, wird gerne als Abschaffer unserer Institutionen diffamiert.

Dabei wird etwas Entscheidendes stets ausgeklammert. Der Gebrauch der direkten Volksrechte durch deren hauptsächliche Nutzer hat mit der Sache an sich oft wenig zu tun. Es geht um die Demonstration von genereller Referendumsmacht für alle Fälle, jedoch auch mit dem Ziel, schon im Vorfeld der Gesetzestätigkeiten präventiv Inhalte in Richtung der eigenen Interessen zu beeinflussen. Initiativ-mächtige Organisationen und Lobbies können mit Volksinitiativen auch Gegendruck zu laufenden Reformprojekten aufbauen. Damit werden die Grenzzäune für anstehende Reformprojekte angedeutet. So ist in Reformdebatten gegen den Vorwurf, es sei in Gesetzesreformen wenig erreicht worden, das stereotype Argument so populär, es sei halt unter Referendumsrisiken politisch nicht mehr möglich gewesen. Die endlosen Reformversuche für die erste und zweite Säule der Altersvorsorge und die resultierenden faulen Kompromisse, die nur dazu dienen, etwas Zeit bis zum nächsten Reformversuch zu gewinnen, sollten eigentlich deutlich genug zeigen, wie Referendums- und Initiativmacht als strategische Waffe zum Schaden des Gesamtinteresses eingesetzt wird.

Klimapolitik und der «neue Moraladel»

Klimaleugner kann man heutzutage ebenso rasch und unverhofft werden wie «Rassist». Es genügt, das 1,5-Grad- oder das Netto-null-Ziel kritisch zu hinterfragen. Roger Pielke Jr. etwa, ein Politikwissenschafter an der University of Colorado in Boulder, wurde als «Klimaleugner» diffamiert, bloss weil er in akribischen Datenanalysen zu Dürren, Überschwemmungen, Buschbrände oder Orkanen – entgegen dem verbreiteten Alarmismus – keine klaren Trends zu extremeren globalen Wetterereignissen feststellen konnte.

Wohlhabende Wachstumskritiker

Pielke äusserte zudem, wenn man sich in der Klimadebatte bewege, werde man oft von Leuten angegriffen, die sagen, zur Senkung von CO2-Emissionen müsse das Wirtschaftswachstum gestoppt werden. Er höre diese Argumentation meistens von wohlhabenden Akademikern in noblen Universitätsstädten in den reichen Teilen der Welt. Das ist auch in der Schweiz nicht anders. Umfrageergebnisse zu den Referenden gegen das Energiegesetz vom Mai 2017 (gescheitert) oder gegen das CO-Gesetz vom Juni 2021 (erfolgreich) bestätigen Pielkes Aussage über die klimabesorgten wohlhabenden Wachstumskritiker.

Beide Gesetzesvorlagen appellierten an wachstumskritische Kreise, was man aus dem Zustimmungsgefälle von links (hoch) nach rechts (niedrig) ablesen kann. Interessanter ist jedoch das Gefälle nach Bildungsgrad. Akademisch Gebildete (Fachhochschule/ Uni/ETH) machten in beiden Abstimmungen mit grossem Vorsprung die höchsten Anteile an Ja-Stimmen aus. Während Stimmende mit beruflicher Grundbildung/ Berufslehre das Energiegesetz mit nur 45 Prozent Ja-Stimmen ablehnten, stimmten 74 Prozent der akademisch Gebildeten dem Gesetz zu. Beim CO-Gesetz waren die Hochgebildeten mit einem Ja-Anteil von 64 Prozent die einzige zustimmende Kategorie. Gleichzeitig glänzten die akademisch Gebildeten wie immer mit der klar höchsten Stimmbeteiligung.

Dieses Abstimmungsverhalten der Hochschul-Gebildeten hat wenig mit fundierterem Wissen zum konkreten Thema, jedoch viel mit Werten und Moral zu tun. Hält man sich an die Kategorien des US-amerikanischen Politikwissenschafters Jason Brennan, passen die Hochgebildeten gut in seine Gruppe der politischen «Hooligans». Diese halten sich für politisch gut informiert, pflegen aber ein festgefügtes Weltbild. «Having opinions» gehört für sie zur persönlichen Ausstattung. Diese Meinungen gelten auch als Ausdruck moralisch höherer Werte und werden gegen Sachargumente und neue Information mit aller Kraft verteidigt.

Werte versus Wirkungen

Jenseits der Interpretationen der VOX- und VOTO-Umfrageforscher zu den beiden Referenden fördert eine vertiefte Analyse einen grundsätzlichen Unterschied in den wichtigsten Abstimmungsmotiven von Befürwortern und Gegnern zutage. Etwas plakativ ausgedrückt: Befürworter wünschen sich eine Welt nach ihren eigenen Idealvorstellungen. Dazu passt, dass auch die erwarteten Folgen gerne idealisiert werden, vorzugsweise ganz unbescheiden als Einsatz für eine bessere Welt, zur Rettung des Planeten oder für künftige Generationen. Gegner dagegen fragen sich: Wenn wir das tun, welche Folgen wird das haben? Den ersten geht es um Werte, den zweiten um Wirkungen.

Das Leben nach bestimmten Werten dient oft auch der Selbstinszenierung. Ein Leben in höheren Sphären der Moral ist jedoch oft mit Kosten verbunden. Man denke nur an die üblichen Preise für Angebote ethischen Konsums aller Art. Doch Werte müsse man sich leisten können, schrieb der Kulturwissenschafter Wolfgang Ullrich vor einigen Jahren in einem Beitrag in der NZZ. Werte zur Geltung zu bringen, sei an Ressourcen und Aufwand gebunden. Deshalb sei die Lebensorientierung an Werten «die Seligkeit nur von Eliten». Der «neue Moraladel» könne es sich dank seiner privilegierten sozialen Stellung leisten, einen wertebewussten Lebensstil zu verwirklichen und sich damit auch über andere Menschen zu erheben.

Im Lichte dieser Erkenntnisse kann es nicht verwundern, dass eine Orientierung an Werten in der meist auch materiell gut versorgten Bildungselite besonders verbreitet ist. Deren hohe Zustimmung zum Energiegesetz mit seinem hohen moralischen Anspruch als Einstieg in die «Energiewende» – gepaart mit der Forderung nach einem Ausstieg aus der bösen Kernenergie, bestätigt dies.

Doch der akademisch gebildete «Moraladel» ist nicht nur in Bezug auf die Klima- und Energiepolitik in den meinungsmachenden Institutionen (Politik, staatliche Verwaltung, Medien, Wissenschaft und Kultur) stark übervertreten. Der übergrosse Einfluss dieser Meinungsmacht auf die öffentliche Meinungsbildung gilt für alle ideologisch aufgeladenen gesellschaftlichen Fragen. Oder besser gesagt: Der neue «Moraladel» ist bestrebt, möglichst jedes gesellschaftliche Thema zu einer Frage der richtigen Gesinnung zu machen.

Dieser Text erschien leicht gekürzt am 29. Dezember 2022 auf nzz.ch

Der Bundesrat missachtet das Verursacherprinzip

Warum man bei Energiemangel zuerst den privaten Haushalten Strom oder Gas abstellen muss, nicht der Wirtschaft

Wie zu vernehmen war, plant der Bundesrat, dass bei Strom- oder Gasknappheit im kommenden Winter zuerst gewissen Branchen der Wirtschaft Strom oder Gas abgestellt wird. Die privaten Haushalte sollen dagegen geschont werden, solange es geht. Überbringerin der frohen Botschaft war Energieministerin Sommaruga. Die bisherige Kritik an dieser Strategie strich die potenziell viel höheren volkswirtschaftlichen Kosten von Strom- und Gasunterbrüchen in der Wirtschaft hervor. Es gibt aber eine ebenso wichtige politisch-institutionelle Perspektive.

Dabei können wir auf einen der rituell wiederholten politischen Glaubenssätze von Weltwoche-Herausgeber Roger Köppel bauen: „Bei uns ist das Stimmvolk der Chef“ – eine Floskel, die in seinem „Weltwoche daily“ rund jedes vierte Mal vorkommt. Was liegt aus dieser Sicht also näher, als die energiepolitische Sackgasse, in die wir uns über Jahrzehnte hineinmanövriert haben, dem Stimmvolk anzulasten.

Das energiepolitische Unheil begann 1987 mit der Aufgabe des AKW-Projekts Kaiseraugst. Der AKW-Unfall von Tschernobyl von 1986 hatte die Stimmungslage in der Bevölkerung verändert, genau so, wie es sich nach der Reaktor-Havarie vom März 2011 in Fukushima wiederholen sollte. Mit dem verseuchten Rückenwind von Tschernobyl reichte der Verein „Nie Wieder Atomkraftwerke“ (NWA) 1987 eine Volksinitiative „Stopp dem Atomkraftwerkbau“ ein. Diese Initiative für ein zehnjähriges nationales Moratorium des Atomkraftwerksbaus wurde im September 1990 vom Stimmvolk mit 54,5 Prozent Ja-Stimmen gutgeheissen.

Der Verein NWA hatte sich zuvor schon mit der Besetzung des Baugeländes des AKW Kaiseraugst in Szene gesetzt und war mit seinem rechtswidrigen Vorgehen im Verein mit anderen militanten Gruppen schliesslich erfolgreich. Man gab dem Druck der Proteste nach, weil auch die nach „Tschernobyl“ veränderte Stimmung in der Bevölkerung den politisch bequemen Rückzug möglich machte. Dass dabei SVP-Übervater Christoph Blocher eine Schlüsselrolle spielte, ging inzwischen in weitesten Kreisen vergessen. Gut, dass Peter Bodenmann dieses pikante Detail in der letzten Weltwoche wieder einmal in Erinnerung rief.

Nach dem Reaktorunfall in Fukushima war die Volksseele erneut aufgewühlt und die Lage vor den Herbstwahlen für politische Wendemanöver günstig. Flugs stoppte ein weiblich dominierter Bundesrat Gesuche für AKW-Rahmenbewilligungen von drei Stromunternehmen und rief die Energiewende mit „Atomausstieg“ aus. Das Parlament erteilte dem Bundesrat den Auftrag zur Erarbeitung einer Energiestrategie unter dem Motto „Versorgungssicherheit mit erneuerbaren Energien“ – ein wahres Oxymoron.

Danach setzte Energieministerin Doris Leuthard sämtliche vefügbaren Hebel in Bewegung, um Wissenschaft, Wirtschaft, Medien und Bevölkerung auf Linie zu bringen. Die Konstellation alle gegen die SVP im Referendum gegen das Energiegesetz führte dazu, dass viele Stimmbürger „expressive voting“ betrieben. Es ging ihnen nicht um die Sache, sondern darum, Blochers und Köppels SVP eins auszuwischen. Das Gesetz als Einstieg in die Energiewende wurde im Mai 2017 mit gut 58 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Der „Atomausstieg“ mit dem Neubauverbot war gemäss VOTO-Analyse das wichtigste Motiv der Ja-Stimmenden.

Selbstverständlich hat die drohende Mangelsituation nichts mit dem AKW-Neubauverbot im Energiegesetz zu tun, sondern mit der seit Kaiseraugst erfolgreichen Dämonisierung der Kernenergie. Diese konnte nur dank der Desinformation der Bevölkerung und dem eklatanten Wissensmangel über die wahren Risiken und Kosten verschiedener Energieträger gelingen. Heute sind die Hürden für ein neues AKW derart hoch, dass es leicht ist, zu behaupten, niemand baue heute in der Schweiz ein AKW.

Bei uns ist die stimmberechtigte Bevölkerung letztverantwortlich für die Politik. Fehlendes Wissen über Fakten und Zusammenhänge entlastet nicht. Das Verursacherprinzip verlangt, dass die Verursacher die Folgen ihres Handelns tragen. Deshalb muss in Mangellagen zuerst den privaten Haushalten Strom und Gas abgestellt werden. Dort leben all die Mehrheiten der Leute, die sich trotz warnenden Stimmen von der Propaganda gegen die Kernenergie und für eine Energiewende allein mit erneuerbaren Energien in die Irre leiten liessen.

Wie Tschernobyl und Fukushima gezeigt haben, braucht es Schocks, um die Menschen aufzuwühlen und Wenden zu ermöglichen. Ein Gegenschock zu den beiden AKW-Unfällen wären Stromausfälle im kommenden Winter. Man möchte dies niemandem wünschen, aber einer Wende hin zu einer sachgerechten und weniger moralisch aufgeladenen Energie- und Klimapolitik könnte ein solcher Weckruf doch dienlich sein.

Eine stark verkürzte Version dieses Textes erschien in der „Weltwoche“ Nr. 32.22 vom 18. August 2022.

„Volksrepublik Schweiz“ – von Stimmvolks Gnaden

Antikapitalistische Reflexe in vielen Volksabstimmungen

In der Weltwoche Nr. 8.22 beleuchtete Rainer Zitelmann anhand von Umfragedaten die kapitalismus- und marktkritische Haltung der Menschen in 14 Ländern.  Die Menschen sind zwar in der Schweiz etwas weniger kapitalismuskritisch als die Bevölkerungen in Deutschland, Grossbritannien, Italien, Österreich Spanien und Frankreich. Doch auch hier überwiegt eine antikapitalistische Einstellung.

Zitelmanns Befunde sollten uns nicht überraschend. Man braucht nur die Ergebnisse von wichtigen Abstimmungen der vergangenen Jahrzehnte zu betrachten. Gegen Reformen für Liberalisierungen, weniger Staat, weniger Umverteilung und mehr wirtschaftliche Freiheit spielt die Referendumsmacht der Linken, gelegentlich auch im Verbund mit Protektionisten aller Art, eine zentrale Rolle. Hier ein Blick auf fünf erfolgreiche Referenden auf den grössten wirtschafts- und sozialpolitischen Baustellen mit teils enormer Diskrepanz zwischen Parlament und Stimmvolk:

Abstimmung NationalratStänderatStimmvolk 
Beitritt zum EWR (1992)128 zu 5838 zu 249,7% zu 50,3%
Elektrizitätsmarktgesetz (2002)160 zu 2436 zu 247,4% zu 52,5%
11. AHV-Revision (2004)109 zu 7334 zu 932,1% zu 67,9%
BVG-Revision (2010)126 zu 6235 zu 127,3% zu 72,7%
KVG „Managed Care“-Vorlage (2012)133 zu 4628 zu 624,0% zu 76,0%
Unternehmenssteuerreform III (2017)139 zu 5529 zu 1040,9% zu 59,1%

EWR-Beitritt: Auch ein Nein der Protektionisten
Der Erfolg von Christoph Blochers SVP gegen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vom Dezember 1992 wäre ohne den Beitrag der Protektionisten jeglicher Couleur nicht zustande gekommen. Der pauschale Liberalisierungsschub, den der EWR-Beitritt der Schweiz gebracht hätte, war in den geschützten Branchen der Binnenwirtschaft nicht populär. Zwar spielten im Abstimmungskampf schon damals die „fremden Richter“ eine Rolle. Gerne wurden aber von EWR-Gegnern die institutionellen Nachteile von Souveränitätseinbussen in den Vordergrund geschoben, um protektionistische Motive nicht zugeben zu müssen. 

Beim Aushandeln der bilateralen sektoriellen Verträge mit der EU galt es stets, den Schutzinteressen der Binnenwirtschaft gerecht zu werden, die auch den bei der Linken geheiligten „Service Public“ umfasst. Auch beim Scheitern des institutionellen Rahmenabkommens spielte die Linke mit ihrem Arbeitsmarktprotektionismus eine entscheidende Rolle. Die flankierenden Massnahmen zum freien Personenverkehr und der Lohnschutz seien nicht verhandelbar, hiess es vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB), der mit dem Referendum drohte. Erst dieser späte kompromisslose Positionsbezug machte einen Absturz in einer Volksabstimmung praktisch sicher.

Liberalisierung des Strommarkts: Ein bis heute unbewältigtes Nein  
Das Elektrizitätsmarktgesetz zielte darauf ab, mit der Strommarktliberalisierung in der EU Schritt zu halten. Die Zustimmung in National- und Ständerat war überwältigend. Die drei grossen Schweizer Gewerkschaften und die Grünen ergriffen das Referendum und siegten. Danach erliess das Parlament ein Stromversorgungsgesetz. Seit 2009 ist nun der Strommarkt für Grossverbraucher liberalisiert. Die Ausweitung des freien Netzzugangs auf Haushalte und andere Kleinverbraucher war fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes vorgesehen, allerdings mit der Hürde des fakultativen Referendums. Lange hatten Bundesrat und Parlament diesen zweiten Schritt aus Angst vor einem erneuten linken Referendum nicht gewagt. Inzwischen liegt nun, verpackt in ein links-grünes Oxymoron namens „Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien“, eine Lösung vor, in der keine vollständige Liberalisierung vorgesehen ist. Haushalte und kleine Betriebe sollen weiterhin das Recht haben, in der Grundversorgung zu bleiben oder vom freien Markt wieder zur Grundversorgung zurückzukehren. 

Altersvorsorge: Der wahre Rentenklau 
Alle Reformversuche, AHV und BVG den demografischen Trends und den unvorhersehbaren Entwicklungen auf den Finanzmärkten anzupassen, scheiterten am Widerstand des Stimmvolks, sofern sie nicht schon im Parlament Schiffbruch erlitten. In den beiden Referenden in der Tabelle siegte die linke Opposition haushoch. Dabei waren die zur Abstimmung gelangenden Vorlagen keine langfristig soliden Lösungen, sondern enthielten unter den unvermeidlichen Referendumsrisiken bereits Kompromisse. Auch die AHV-Massnahmen im Paket mit der neuen Unternehmenssteuervorlage (STAF) ändern nichts an der nicht nachhaltigen Finanzierung der AHV. In der beruflichen Vorsorge verhinderte der Widerstand der Linken bis heute, den milliardenschweren Rentenklau durch die system- und gesetzeswidrige Umverteilung von den Aktiven zu den Rentnern endlich zu mildern. Das bereits seit Jahren andauernde politische Geschacher um die Erhöhung des Rentenalters der Frauen auf 65 Jahre zeigt erneut, welch massiven Einfluss die Referendumsmacht der Linken auf die Gesetzgebung ausübt.

Gesundheitswesen: Keine Aussicht auf Gesundung 
Im Jahr 2008 hatte das Stimmvolk bereits den Verfassungsartikel „Für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Krankenversicherung“ mit fast 70 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Darin sollten die Grundsätze des Krankenpflegesystems in der Verfassung verankert werden: Wettbewerb, Transparenz sowie Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungen. Noch nicht klar geregelt war die Frage der Vertragsfreiheit der Krankenversicherungen mit den Anbietern. Hier setzte die gegnerische Propaganda erfolgreich an. Gemäss VOX-Analyse entscheidend war das dramatisierende Argument, die freie Wahl des Arztes oder des Spitals sei in Gefahr, wenn der Vertragszwang aufgehoben werde. 2010 folgte die noch massivere Abfuhr für die Vorlage „Managed Care“. Der wichtigste Ablehnungsgrund gemäss VOX-Analyse war wiederum die Sorge um die freie Wahl des Arztes oder des Spitals. Hinzu kam die Begründung, die Macht der Krankenkassen würde zu gross werden. Dabei würde gerade die Aufhebung des Vertragszwangs die Macht der Krankenversicherer durch den Wettbewerb im freien Markt begrenzen. 

Unternehmenssteuern: Paradoxe Folgen der direkten Volksrechte 
„Nein zu undurchsichtigen Steuertricks. Nein zu neuen Milliardenlöchern. Nein zum erneuten Bschiss an der Bevölkerung. Ein paar Konzerne machen mit diesen Steuertricks Milliarden.“ Diese vier Hauptargumente für die Volkabstimmung vom 12. Februar 2017 brachte das linke Referendumskomitee gegen die Unternehmenssteuerreform III (USTR III) vor. Und mit diesen emotional aufgeladenen Schlagworten erreichten die Referendums-Initianten ihr Ziel: die mehrheitlich positive Einstellung zur Vorlage gemäss SRG-Umfragen wich einer deutlichen Ablehnung. 

Die VOTO-Nachbefragung bestätigte eine Überforderung des Stimmvolks: drei Viertel der Befragten sagten, die Vorlage sei schwierig zu verstehen gewesen. Der überforderte Stimmbürger wird immer mehr zum Normalfall. Nach der Abstimmungsniederlage wurde unter Zeitdruck das Kombipaket mit der AHV-Finanzierung nach linkem Gusto durchgeboxt, um die Unternehmenssteuervorlage referendumssicher zu machen. Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass die direkten Volksrechte die paradoxe Auswirkung haben, dass sie mit einem solchen Doppelpaket praktisch neutralisiert werden. Wie soll ein Referendum aussehen, wenn eine klare Willensäusserung zu den einzelnen Paketteilen gar nicht möglich ist?

Das Volksnein gegen die Abschaffung der Emissionsabgabe vom Februar 2022 ist nur das jüngste Beispiel für die Wirkung der direkten Volksrechte auf die Mobilisierungskraft linker Anliegen gegen volkswirtschaftlich sinnvolle Vorlagen.

Übergrosser staatlicher Fussabdruck 
Schweizerische Liberalisierungen und Privatisierungen sind auf halbem Weg stecken geblieben, immer unter dem Druck linker Interessen. Die staatliche Post hat immer noch ein Briefmonopol, und gegen die Privatisierung der Postfinance liegen schon Referendumsdrohungen in der Luft. An der Swisscom hält der Bund eine gesetzlich vorgeschriebene Mehrheit. Die Kanäle der öffentlich-rechtlichen SRG dominieren die elektronischen Medien und werden durch eine steuerähnliche Zwangsabgabe finanziert. Kantonalbanken und Stromkonzerne sind ganz oder überwiegend in staatlichem Eigentum. Economiesuisse hat in einer grossen Studie nachgewiesen, dass über die Hälfte der Preise in der Schweiz keine freien Marktpreise sind.

Die grosse Angst vor der institutionellen Frage 
Das Wirtschaftswunder Schweiz der vergangenen 50 bis 100 Jahre ist keine Garantie, dass unsere Institutionen in ihrer heutigen Gestalt und Anwendung auch in Zukunft eine erfolgreiche Entwicklung ermöglichen. So antwortete SECO-Chefökonom Eric Scheidegger in einem Interview mit der NZZ am Sonntag im August 2017 auf die Frage, was geschehe, wenn in Sachen Reformen nichts passiere: «Es droht eine schleichende Erosion des Wohlstandes. Schon heute ist die Produktivität unserer Wirtschaft im internationalen Vergleich eher schwach. Ohne Reformen verschenken wir Wirtschaftswachstum, das in der Schweiz eher bei 2 Prozent liegen könnte statt wie zuletzt bei 1,3 Prozent.» 

Wir profitieren bis heute von Pionierleistungen aus früheren Zeiten, als die Schweiz in Form oder Praxis noch eine mehrheitlich repräsentative Demokratie war und die direkten Volksrechte keine grosse Rolle spielten. Die Entwicklung zu einem immer grösseren Gewicht der direkten Volksrechte und zu einer schleichenden Abwertung des Parlaments ist jüngeren Datums. Die Schwierigkeiten, innerhalb nützlicher Frist zu volkswirtschaftlich vernünftigen Lösungen zu gelangen, haben fast immer mit den Volksrechten zu tun. 

Die Frage, ob es nicht auch ein Zuviel an direkter Demokratie geben könnte, muss erlaubt sein. Angeblich hat die Schweiz bisher mehr Volksabstimmungen durchgeführt als die ganze übrige Welt zusammen. Mit den neuen Online-Kanälen geht der Trend eher hin zu noch mehr Direktpartizipation. Der Glaube, dass mehr direkte Demokratie auch in einem Land, in dem ein Bürger jährlich über zehn Vorlagen auf Bundesebene und zig weitere auf kantonaler und kommunaler Ebene abstimmen soll, strikt besser ist, muss man als politischen Extremismus interpretieren.

Was für Auswege gibt es? Jenseits von auf der Hand liegenden aber politisch unbeliebten Massnahmen wie der Erhöhung der Unterschriftenzahlen (und ihrer Festlegung in Prozent der Anzahl Stimmberechtigten) oder der Kürzung der Sammelfristen wäre es zum Beispiel vorstellbar, dass Bundesvorlagen, die klare Parlamentsmehrheiten gewonnen haben, nicht mehr durch ein einfaches Mehr der Stimmbürger gekippt werden können, sondern dass gewisse Quoren oder qualifizierte Mehrheiten gefordert werden. Oder man könnte sich überlegen, bei Vorlagen, die ohne grossen Schaden reversibel sind, Referenden die aufschiebende Wirkung zu entziehen. So könnte die Bevölkerung mit einer Veränderung erst mal Erfahrungen mit der Neuerung sammeln.

Volksabstimmung als symbolischer Akt

Zum Stempelsteuer-Referendum vom 13. Februar

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Es wäre langweilig, der Leserschaft all die bereits x-fach diskutierten Argumente zugunsten dieser volkswirtschaftlich vernünftigen Vorlage ein weiteres Mal vorzusetzen. Es gibt auf der institutionenkritischen Ebene einen interessanteren, weil vernachlässigten Zugang zum Thema. Abstimmungspropaganda hält uns selbsternannten Demokratieweltmeistern mehrmals jährlich den Spiegel vor. Aber wir wollen nicht reinschauen. Sonst könnte der Mythos vom klug entscheidenden Stimmvolk Schaden nehmen. Allerdings gibt es gelegentlich doch gewisse Zweifel an den Segnungen einer exzessiv partizipativen Demokratie.

Das Phänomen des «expressive voting»

Nationalrat Balthasar Glättli, Präsident der Grünen, beklagte sich über die Schwierigkeit, rechtzeitig genügend Unterschriften für das Referendum vom Mai 2019 gegen die STAF-Vorlage AHV-Unternehmenssteuern zu sammeln. Man müsse den Leuten auf der Strasse das Thema zuerst lange erklären. «Sie wissen nicht, um was es geht», sagte Glättli gemäss der »NZZ am Sonntag». Als wäre dieser Kombi-Deal in den Medien nicht schon ausführlich behandelt worden! Zudem waren sowohl die AHV wie auch die Unternehmenssteuern seit langem öffentlich-mediale Dauerthemen. Und beide waren erst 2017 Gegenstand von Volksabstimmungen, so dass man ein Vorwissen hätte erwarten können.

Im November 2018 kommentierte der Berner Politologe Klaus Armingeon in der »Neuen Zürcher Zeitung» eine Umfrage des Schweizer Datenarchivs Fors zu widersprüchlichen Meinungen zum Thema Bilaterale/EU-Rahmenabkommen in der Bevölkerung. Die Annahme, der Abstimmungsentscheid bei Integrationsfragen sei weitgehend vernunftgeleitet, beruhe auf Informationen und sei Folge eines Abwägens von Vor- und Nachteilen der konkreten Vorlage, sei sehr zu bezweifeln. Armingeon vermutete, dass die Leute Widersprüche gar nicht als solche empfinden, weil es ihnen nicht um die konkrete Vorlage gehe, sondern um grundsätzliche Ziele und Werte. Dafür spreche auch das bescheidene Wissen über die Vorlagen.

«Expressive voting» nennt man dieses Wahlverhalten in den USA. Dazu ein schweizerisches Muster: Vor der Abstimmung über das Energiegesetz vom Mai 2017 erklärte mir mein alter Schulfreund Hugo, weshalb er für das Gesetz stimme, gegen das die SVP als einzige Partei die Nein-Parole gefasst hatte: «Ich werde doch nicht Blocher helfen, eine Abstimmung zu gewinnen.» In jeder Abstimmung gibt es viele Hugos. Man stimmt nicht zum Thema ab, sondern man will aus der Abstimmung in einer Art symbolischem Akt emotionalen Gewinn ziehen.

«Polemik auf sehr tiefem Niveau»

Abstimmungen zu fiskalpolitischen Vorlagen, bei denen es, oberflächlich gesehen, um Steuersenkungen geht, sind besonders geeignet für «expressive voting». Das Referendum über die Abschaffung der Stempelsteuer steht ganz in dieser Tradition. So wiederholen sich die gegnerischen Schlagwort-Argumente jeweils wortwörtlich. Beim erfolgreichen Referendum vom Februar 2017 gegen die Unternehmenssteuerreform III hiess es: «Nein zum Unternehmenssteuer-Bschiss! Nein zu undurchsichtigen Steuertricks! Nein zu neuen Milliardenlöchern! Konzerne machen mit diesen Steuertricks Milliarden! Nein zum Bschiss an der Bevölkerung!» Der Freiburger Finanzwissenschafter Bernard Dafflon meinte dazu in einem Zeitungsinterview: «Der Text der Gegner ist reine Polemik auf sehr tiefem Niveau.»Gegen die Abschaffung der Stempelsteuer tönt es jetzt so: «….profitieren grösstenteils international tätige Grosskonzerne, Banken und Versicherungen. Nein zu diesem Stempelsteuer-Bschiss! Grosskonzerne, speziell aus der Finanzbranche, werden bereits heute stark bevorzugt… zahlen Finanzkonzerne bald gar keine Steuern mehr… unehrliche Verschleierungstaktik der Konzernlobby. Weitere Privilegien für Grosskonzerne sind bereits in der Pipeline.»

149 Lakaien von Grosskonzernen in der Bundesversammlung?

Referenden sind nicht bloss eine taktische Waffe, um eine Vorlage zu verhindern, sondern auch ein strategisches Mittel, um Referendumsmacht zu bestätigen. Die Linke demonstriert dies regelmässig auf ihren Lieblingsgebieten der Altersvorsorge, des Gesundheitswesens oder bei militärischen Rüstungsgeschäften. Und jetzt gerade wieder in der Steuerpolitik.

120 von 195 an der Abstimmung teilnehmenden Nationalräten und 29 von 44 Ständeräten haben der Stempelsteuervorlage zugestimmt. Das sind 62,3 Prozent Zustimmung. Sitzen in unserem Parlament 149 Lakaien von Finanz- und Grosskonzernen? Oder ebenso viele, die die Bevölkerung «bescheissen» wollen?Wenn wir institutionelle Hintergründe von Reformblockaden weiterhin tabuisieren, droht unserem Land auf wichtigen Gebieten der Stillstand. Selbst auf hohem Niveau ist Stillstand keine Option. Eine Verwesentlichung der direkten Volksrechte könnte darin bestehen, dass ein Referendum gegen eine Vorlage nur dann erfolgreich ist, wenn die prozentuale Ablehnung mindestens so hoch ausfällt wie die prozentuale Zustimmung im Parlament. Das ist natürlich nur mal eine spontane Idee. Diese könnte aber eine Debatte über das durch verschiedene Entwicklungen gestörte Gleichgewicht der Institutionen anstossen.

Der Wille des Volkes geschehe! Welcher Wille? Welchen Volkes?

Abschied von klimapolitischen Illusionen nach dem Volksnein zum CO2-Gesetz

(Wer den „Nebelspalter“ abonniert hat, kann diesen Beitrag auch hier lesen. Eine englische Version des Essays wurde inzwischen auch auf der US-amerikanischen News-Plattform RealClear Energy publiziert.)

Am 13. Juni scheiterte das revidierte CO2-Gesetz an der Urne. Dass der Schock in den politisch zuständigen Kreisen eine heilsame Wirkung zugunsten von mehr Realismus entfaltet hätte, kann man angesichts der verwirrten Debatte, was jetzt zu tun sei, nicht behaupten. Viele Kommentatoren zeigten sich über den Bremser des Stimmvolks in der Energie- und Klimapolitik überrascht und schienen von der Deutung des Volkswillens überfordert. Im Mai 2017 hatte es ein deutliches Ja zum revidierten Energiegesetz gegeben, trotzdem folgte vier Jahre später ein knappes Nein zum revidierten CO2-Gesetz.

Keine Inkonsistenz im Abstimmungsverhalten

Beide Gesetzesrevisionen sind als miteinander verbundene Teilschritte im Grossprojekt der Leuthard’schen Energiewende zu betrachten. Zuerst ja, dann nein – das sieht aus wie hüst und hott. Die VOTO- bzw. VOX-Analysen aus den Nachbefragungen erlauben einen Vergleich der beiden Abstimmungen. Der entscheidende Punkt klingt beinahe banal: Das Stimmvolk, das im Mai 2017 dem Energiegesetz zugestimmt hatte, war nicht dasselbe Stimmvolk, das vier Jahre später gegen das CO2-Gesetz votierte – ganz abgesehen von den demografischen Verschiebungen. Der Hauptunterschied liegt in der viel höheren Stimmbeteiligung beim CO2-Gesetz – fast 60 Prozent gegen bloss 43 Prozent beim Energiegesetz.

Die weit über dem Durchschnitt von 46 Prozent liegende Mobilisierung war den vier anderen gleichentags zur Abstimmung gelangenden Vorlagen zu verdanken, vor allem den beiden agrarpolitischen Volksinitiativen. Diese hatten wegen radikaler Auflagen betreffend Trinkwasserschutz und Pestizideinsatz für die Landwirtschaft sowie vor- und nachgelagerte Branchen einschneidende Folgen erwarten lassen. In einer aufwendigen Kampagne bekämpften die Verbände des Agrarsektors die Initiativen und lockten in ländlichen Regionen viele Leute an die Urnen. Gemäss einer Analyse des Umfrage-Instituts gfs.bern ist ein doppeltes Nein zu den Agrar-Initiativen der stärkste Erklärungsfaktor für ein Nein zum CO2-Gesetz. Es brauchte nicht viel Energie, um auch beim CO2-Gesetz ein Nein auf den Abstimmungszettel zu schreiben.

In diesen Zusammenhang passt auch eine Tatsache, die bisher kaum beachtet wurde. Obwohl die SVP beim Energiegesetz als einzige der grösseren Parteien das Referendum unterstützte, vermochte sie ihre Anhänger nicht zu mobilisieren. Nur 38 Prozent nahmen an der Abstimmung teil, der tiefste Wert aller Parteien. Dagegen mobilisierte die SVP ihre Anhängerschaft beim Urnengang über das CO2-Gesetz am stärksten: 73 Prozent der SVP-Sympathisanten beteiligten sich an der Abstimmung – wegen den beiden Agrarinitiativen. Das CO2-Gesetz bekam, quasi im Seitenwagen, die Folgen zu spüren.

Gräben, wohin man schaut

Vor einem Stadt-Land-Graben wurde in den Abstimmungskommentaren schon lange nicht mehr so laut gewarnt. Wie wenn dies etwas Neues wäre! Dasselbe wäre schon bei anderen Urnengängen sichtbar gewesen, hätte man genauer hingeschaut. Der Stadt-Land-Graben bildet nur die unterschiedlichen politisch-ideologischen Positionen ab: Die urbane Schweiz tickt links, die ländliche nicht-links. Statt oberflächlich eine Stadt-Land-Spaltung zu beklagen, lohnt es sich, den Blick auf andere Gräben zu richten. Selbstredend sind die Differenzen zwischen Links und Rechts besonders gross bei Themen, die ideologisch-moralisch so aufgeladen sind wie die Energie- und Klimapolitik. Anhänger der Grünen stimmten dem Energiegesetz mit einem Ja-Anteil von 94 Prozent zu, während nur 16 Prozent der SVP-Parteisympathisanten ein Ja einlegten. Praktisch gleich sah es beim CO2-Gesetz aus: 93 Prozent gegen 17 Prozent.

Erstaunlich sind die innerparteilichen Gräben. Die Parteiparole der nationalen FDP lautete bei beiden Abstimmungen Ja, doch die FDP-Parteianhänger folgten dieser Vorgabe mehrheitlich nicht. Beim Energiegesetz stimmten 53 Prozent gegen die Vorlage, beim CO2-Gesetz sogar 63 Prozent. Dabei hatte die Parteiführung vor den Wahlen im Herbst 2019 in einer Basisbefragung unter dem Einfluss der medial aufgebauschten Streiks der Klimajugend eine mehrheitliche Unterstützung für einen grün gefärbten „last-minute“-Schwenker gewinnen können. Doch Befragungen produzieren viel Deklamatorisches zum Preis null, während es bei Gesetzesvorlagen um konkrete Massnahmen und spürbare Wirkungen geht.

Einen ganz speziellen Konflikt gab es im Einflussbereich der SVP, die bei beiden Referenden die einzige namhafte Partei war, die gegen die Vorlagen eintrat. Doch der Schweizer Bauernverband hatte, gegen die traditionelle Bauernpartei SVP, die Ja-Parole ausgegeben und lag damit extrem weit neben seiner politischen Basis. Die Vermutung liegt nahe, dass der Bauernverband ein Tauschgeschäft mit Wirtschaftsinteressen eingegangen war, die für das Gesetz kämpften und im Gegenzug landwirtschaftliche Schutzinteressen, speziell bei neuen Freihandelsabkommen, zu respektieren versprachen.

Da die VOX- und VOTO-Institute in ihren Abstimmungsanalysen Daten nach Geschlecht, etwas altmodisch, immer noch binär-biologisch erheben, wird ein Graben zwischen Mann und Frau sichtbar. Dem Energiegesetz hatten Frauen mit einem Ja-Anteil von 64 Prozent zugestimmt, Männer nur mit 53 Prozent. Beim Urnengang zum CO2-Gesetz gab es bei den Frauen eine Ja-Mehrheit von 52 Prozent, während die Männer die Vorlage mit nur 45 Prozent Ja-Stimmen ablehnten. Die Differenz war zwar etwas kleiner als beim Energiegesetz. Aber der Geschlechter-Graben war von ernsthafterer Qualität, weil die Männer die Frauen majorisierten, indem sie das Gesetz, dem eine Mehrheit der Frauen zustimmte, zum Absturz brachten.

Die Bildungselite als Speerspitze der Energiewende

Ein breiter Graben zeigt sich auch im Abstimmungsverhalten nach Bildungsgrad. Hochgebildete zeigen sich als überzeugteste „Energiewender“. Das Energiegesetz lehnte die Gruppe mit beruflicher Grundbildung/Berufslehre mit rund 55 Prozent Nein-Stimmen ab. Dagegen votierten die Leute mit tertiärem Bildungsabschluss mit einer Dreiviertel-Mehrheit für das Gesetz. Beim CO2-Gesetz waren die Unterschiede zwar kleiner, aber die Kategorie der Hochgebildeten lag mit rund 70 Prozent Ja immer noch deutlich über den Zustimmungsquoten der Gruppen mit tieferem Bildungsgrad. Dies sind gewöhnlich Menschen, die ihren Alltag zu bewältigen und meist andere Sorgen haben, als knappe materielle Ressourcen dazu zu verwenden, irgendwelche ideellen Werte auszudrücken.

Gut versorgt, ist es einfach, alles Mögliche zu fordern, ohne die Auswirkungen im eigenen Alltag mittragen zu müssen. Eine Orientierung an Werten ist in der materiell privilegierten Bildungselite verbreitet. Dies dient auch der Selbstinszenierung, ist jedoch mit Kosten verbunden. Man denke etwa an die hohen Preise für „ethischen Konsum“. Die Lebensorientierung an Werten sei die Seligkeit nur von Eliten schrieb der Kulturwissenschafter Wolfgang Ullrich in einem Beitrag in der NZZ. Der „neue Moraladel“ könne es sich dank seiner privilegierten sozialen Stellung leisten, einen wertebewussten Lebensstil zu verwirklichen und sich damit auch über andere Menschen zu erheben. Dass die Zustimmung zum Energiegesetz und zum CO2-Gesetz gerade im staatsnahen Hochschul- und Kulturmilieu so klar war, ist primär mit dieser Werteorientierung zu erklären, und nicht mit einem besonders guten technisch-ökonomischen Verständnis der Vorlagen. Der prominente amerikanische Moralpsychologe Jonathan Haidt meinte in einem Referat nur leicht überspitzt, Hochgebildete seien nicht, wie sie selber meinen würden, besser informiert als andere, sie seien nur geschickter in der Begründung ihrer Vorurteile.

Die grobe Kategorisierung „hochgebildet“ überdeckt zudem eine wichtige Tatsache. Zahlenmässig dominierend sind dort weiche, meist von Frauen bevorzugte Fachrichtungen wie Sprachen, Psychologie, Publizistik/Medien, Recht, Politikwissenschaften, Soziologie, Geschichte, Geografie, Ethnologie und medizinisch-soziale Fachrichtungen. Dort überwiegen links-grüne ideologische Positionen bei weitem. Im Kontrast zum politisch-ideologischen Spektrum des gesamten Stimmvolks zeigt sich unter den Absolventen von Hochschulen ein ausgeprägter links-grüner „Werte-bias“. Zudem widerspiegelt sich in dieser Orientierung an selbst definierten Werten eine Neigung zu illusionären gesellschaftlichen Zielen und eine massive Überschätzung des politischen Wollens und Könnens im Sinne von: Was wir wollen, ist auch machbar; wir müssen nur können wollen.

Abschied von Illusionen: Unerreichbares 1,5-Grad-Ziel

Das Volks-Nein zum CO2-Gesetz passt natürlich nicht in den behördlich vorgespurten Pfad hin zur Energiewende und zu den Zwischenzielen der CO2-Reduktion. Doch wie ist aus den beiden energie- und klimapolitischen Referenden der Volkswille zu deuten, wenn sich einerseits das teilnehmende Stimmvolk in den zwei Abstimmungen in vielerlei Hinsicht stark unterscheidet, und anderseits Abstimmungsergebnisse offenkundig davon abhängen, ob ein Gesetz dem Stimmvolk allein oder in einem Paket mit anderen Vorlagen vorgelegt wird?

Nichts wäre in Zeiten anschwellender alarmistischer Stimmen und Aufrufe nützlicher, als unbefangen eine nüchterne Lageanalyse vorzunehmen und sich von all den Illusionen loszusagen, die die gängige Klimapolitik prägen. Dies gilt besonders auch für die Fukushima-befeuerte schweizerische Energiewende.

Das 1,5-Grad-Ziel aus „Paris 2015“ ist die grosse Illusion, von der sich die Klimapolitik verabschieden müsste. Weshalb sollte ausgerechnet der Weltzustand von 1850 am Ende der kleinen Eiszeit mit einer CO2-Konzentration von 280 ppm ein für die Umwelt, Gesundheit und Ernährung natürliches Klimaoptimum darstellen? Da zudem die durchschnittliche globale Temperatur seit damals bereits um 1,1 Grad zugenommen hat und die Temperatur auf die heutige CO2-Konzentration von 415 ppm verzögert reagiert, würden die 1,5 Grad wahrscheinlich auch erreicht oder überschritten werden, wenn die menschliche Welt morgen stillstehen würde.

Trotzdem verkünden unsere zuständigen Behörden weiterhin unbeirrt, das 1,5-Grad-Ziel des Klimaabkommens von Paris 2015 sei erreichbar, wenn wir nur wollten. Das Problem liegt in der unklaren Bedeutung von „wir“. Wir in der Schweiz haben mit dem Erreichen des 1,5-Grad-Ziels nichts zu tun. Wir sind nur solidarisch Verpflichtungen zur Treibhausgas-Reduktion eingegangen, in der Hoffnung, die anderen Staaten dieser Welt täten dasselbe und hielten sich daran. Diese Hoffnung ist im Lichte der Trittbrettfahrer-Problematik auf Sand gebaut. Wenn das „wir“ dagegen global gemeint ist, liegt es ausserhalb unserer politischen Zuständigkeiten und Kompetenzen.

Der enorme technologische und wirtschaftliche Fortschritt und der hohe Wohlstand in den Gesellschaften des Massenkonsums in den westlichen Wohlfahrtsstaaten und in erfolgreichen asiatischen Ländern sowie auch die Entwicklung in ärmeren Ländern sind ohne die Verfügbarkeit fossiler Energie völlig undenkbar. Deshalb ist im Umkehrschluss schon rein logisch zu folgern, dass eine rabiate Dekarbonisierung der Volkswirtschaften ein äusserst kostspieliges Vorhaben wäre, solange man – ökonomisch korrekt – mit Opportunitäts- oder Verzichtskosten rechnet. (Hinweis: Werden knappe Ressourcen einer neuen Verwendung zugeführt, fehlen diese andernorts. Die wegfallende Wertschöpfung aus dem nächstbesten oder gar besseren Einsatz dieser Ressourcen sind volkswirtschaftliche Kosten). Politisch kaum lösbar wären auch die zu erwartenden Verteilungskonflikte, sowohl landesinterne wie auch zwischenstaatliche. Wer das Schlagwort „Klimagerechtigkeit“ in die Debatte wirft, um die reichen Länder an ihre Verantwortung zu erinnern, pflegt eine verengte Sicht. Denn es sind die technologisch-ökonomischen Errungenschaften der von westlichen Werten geprägten Länder, welche weltweit die extreme Armut und die Kindersterblichkeit massiv reduziert und die durchschnittliche Lebenserwartung seit 1900 global mehr als verdoppelt haben – mit den grössten Fortschritten in den (ehemals) armen Ländern Asiens und Afrikas.

Die öffentliche Debatte um Kosten und Nutzen einer „ambitionierten Klimapolitik“ ist von diffusen Warnungen und Illusionen geprägt. Die fundiertesten Kostenschätzungen über die langfristigen Schäden des Klimawandels und die Kosten der Klimapolitik stammen vom amerikanischen Yale-Ökonomen William Nordhaus. Dieser hatte 2018 für seine Beiträge zu dieser Thematik den Wirtschafts-Nobelpreis erhalten. Dessen ungeachtet, haben seine Erkenntnisse für die auf hochtrabende Deklamationen setzende offizielle Klimapolitik keine Bedeutung. Und unter Klimaaktivisten aller Art, die in der Illusionswelt von „Paris 2015“ leben, hat Nordhaus ohnehin keine Anhänger. Denn nach seinen Schätzungen ist eine Klimapolitik, die das 1,5-Grad-Ziel von „Paris 2015 zu erreichen trachtet, praktisch unbezahlbar. Im Trade-off zwischen den Kosten der Klimapolitik und den verhinderten Schäden des Klimawandels schneidet ein Erwärmungs-Szenario von gegen 3,5 Grad am besten ab. Auch wenn viele an diesen Modell-Simulationen zweifeln mögen oder sie gar als zynisch abtun, sind solche Kosten-Nutzen-Vergleiche unverzichtbar, nicht zuletzt, weil sich in den Modellannahmen die Denk- und Handlungsweise der Menschen realistisch widerspiegelt.

Ohne „Atomstrom“ weiter wie bisher?

Die in der Schweiz selbst kultivierten Illusionen inklusive „fake facts“, die auch von offiziellen Stellen verbreitet wurden, betreffen behauptete Einsparungen beim Stromverbrauch trotz der geplanten Elektrifizierung von Mobilität und Gebäuden, den weit überschätzten künftigen Ausbau der erneuerbaren Energien Wind, Solar und Wasserkraft, die Verfügbarkeit von Stromimporten zur Deckung der massiv wachsenden Winterstrom-Lücke sowie die vagen Hoffnungen auf technologische Durchbrüche bei der Stromspeicherung und bei der Abscheidung oder Lagerung von CO2 im Untergrund (carbon capture and storage). Darüber ist andernorts bereits ausführlich berichtet worden, ohne dass die Politik darauf bereits sichtbar reagiert hätte. Die politische Schweiz ist ein schwerer Dampfer mit vielen Akteuren im Maschinenraum und an den Steuerrudern.

Das Ja zum Energiegesetz war primär ein Votum für den Ausstieg aus der Kernenergie. In der VOTO-Nachbefragung gaben vier von fünf Befragten an, dass sie sich eine Schweiz ohne Atomenergie wünschen. Die Bilder von der Reaktor-Explosion in Fukushima hatten sich in den Köpfen fest eingeprägt. Doch „hard cases make bad law“, lautet eine alte politische Weisheit, die hier treffend passt. Aus dem Fall Fukushima hätte man viel lernen können, wenn man die Folgen gelassener analysiert hätte, statt zwei Monate nach dem Unglück eine Energiewende mit dem Ausstieg aus der Kernenergie zu verkünden. Winston Churchill wird die Aussage zugeschrieben, Sicherheit liege in der Vielzahl der Variablen, die einem als Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden. Wer sich jedoch nach dem Prinzip Hoffnung selbst seine Handlungsmöglichkeiten einschränkt, muss damit rechnen, dass sich die Realität anders verhält als erhofft.

Immerhin vernimmt man jetzt allmählich Stimmen, die eine Neubeurteilung der Kernenergie in Zeiten der rabiaten, aber brüchigen Zielvorstellungen betreffend „netto null 2050“ fordern. Wegen der demokratischen Höchstlegitimation durch einen Volksbeschluss scheint ein Ausstieg aus dem „Atomausstieg“ gegenwärtig praktisch unmöglich. Zudem ist die Ablehnung der Kernenergie für politisch massgebende Personen, Parteien und NGO ein zentrales Element ihrer Mission und ihres Selbstbildes. Eine nüchterne Neubeurteilung wäre ein Verrat an der Sache, der man sich mit Haut und Haar verschrieben hat. Und wenn rund vier Fünftel der Stimmberechtigten den Ausstieg aus der Kernenergie befürworten, braucht es Zivilcourage, um dem restlichen Fünftel eine Stimme zu geben.

Eine energiepolitisch wirksame Gegenerfahrung zu Fukushima, die die Volksseele ähnlich aufwühlen könnte, wäre ein Strom-Blackout mit einem Versagen wichtiger Systeme. Unrealistisch ist dies unter der Fuchtel der verkündeten Energiewende nicht. Die entsprechenden Warnungen finden sich auch in Risikoszenarien für die Schweiz. Mit ihrer zunehmenden Marginalisierung im europäischen Stromverbund nehmen diese Risiken noch zu. Aber solange die Erfahrungen mit und die mediale Vermittlung von Unfällen im Energiebereich – nicht zuletzt dank den Scheckgespenstern „Fukushima“ und „Tschernobyl“ – derart zulasten der Kernenergie verzerrt sind, darf man die gerade herrschenden Meinungen in der Bevölkerung nicht überbewerten. Vielleicht erleben wir in einigen Jahren eine streikende Klimajugend, die – nicht wie die heutige, ideologisch verblendete – zum Nutzen der Klimaziele den Ausstieg aus dem „Atomausstieg“ fordert.

Dieser Text wurde am 10. September in der online-Zeitschrift „Nebelspalter“ publiziert.

Nachgeplapperte Abstimmungspropaganda

Zur VOTO-Nachbefragung zum Referendum gegen das CO2-Gesetz

In der VOTO-Nachbefragung zur Volksabstimmung vom 13. Juni über das CO2-Gesetz haben viele Befragte als Grund für ihr Nein die Sorge vor höheren Benzinpreisen angegeben. Damit wiederholten sie einfach wörtlich das simpelste Argument, das ihnen die Abstimmungspropaganda der Gegner des Gesetzes in nervtötender Wiederholung geliefert hatte. Das ist natürlich Schwachsinn, wenn man denkt, dass es um maximal 12 Rappen/l ging.

Hat vielleicht jemand von denen auch daran gedacht wie stark der ohnehin volatile Benzinpreis in den letzten Monaten und Jahren angestiegen ist? Letztes Jahr lag der Durchschnittspreis für Bleifrei 98 bei gut CHF 1.50. Heute sind wir bei rund 1.80. Hat jemand protestiert? Nicht dass ich wüsste. Die Schweiz hatte früher im europäischen Vergleich klar unterdurchschnittliche Benzinpreise (Phänomen Tankstellen-Tourismus). Heute liegt der schweizerische Preis bereits auf dem Niveau von Italien und Deutschland, für Diesel darüber.

Wir haben mit staatlichen Abgaben von über 80 Rappen pro Liter längst Lenkungssteuern auf Benzin, nur heissen sie halt Mineralölsteuer, Mineralölsteuerzuschlag und Mehrwertsteuer. Wenn die staatlichen Abgaben fast die Hälfte des Preises betragen, kann man sicher sein, dass sie eine Lenkungswirkung erzielen. Ökonomisch gesehen ist es egal, mit was für einer politischen Zweckbindung sie versehen sind.

Sommarugas Oxymoron

Nach der CO2-Gesetz-Niederlage soll ein Mantelerlass der Unvereinbarkeiten die netto-null-Klimapolitik retten

Nach der verlorenen Volksabstimmung über ihr Prestigeprojekt des revidierten CO2-Gesetzes kündigte Energieministerin Simonetta Sommaruga einen Mantelerlass unter dem Namen «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien» an. Eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien ist eine in sich widersprüchliche Begriffskombination. Es gibt noch auf lange Zeit hinaus keine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien. Aber Sommaruga ist ihrem ideologischen Wertekostüm und ihrer politischen Kundschaft verpflichtet und kann nicht über den eigenen Schatten springen. Das Anhängsel „mit erneuerbaren Energien“ ist reines Signalling links-grüner politischer Korrektheit.

Doch wenn eine Energieministerin in ihrer ideologischen Zwangsjacke stecken bleibt, bezahlen wir alle dafür. Die Niederlage an der Urne wäre eigentlich ein Rücktrittsgrund. Nur haben wir in unserem politischen System keine Rücktrittskultur entwickelt. Jedenfalls müssten wir jetzt die Gelegenheit nutzen, um die von Sommarugas Vorgängerin Doris Leuthard eingeleitete „Energiewende“ neu zu überdenken. Mit dem Scheitern des Rahmenabkommens mit der EU und geplatzten Hoffnungen auf ein Stromabkommen sollte auch in der Gehirnwäsche-Anstalt UVEK die Einsicht gereift sein, dass es allein mit Sonne und Wind kaum je eine sichere Stromversorgung geben wird. Martin Schlumpf hat aufgrund einer EMPA-Studie hier gezeigt, in welchem Ausmass eine massive PV-Aufrüstung und Elektrifizierung von Mobilität und Gebäuden bei Abschaltung der AKW nach 2030 die Versorgungssicherheit gefährden würde.

Doch wir haben in der Schweiz ein grosses Problem in Sachen Aufklärung der Bevölkerung. Die wichtigen meinungsmachenden Institutionen sind staatlich oder vom Staat abhängig: die ganze staatliche Bürokratie, Schule, Bildung und Hochschulen, Radio und Fernsehen der SRG, zahlreiche Kulturinstitutionen. Dort bewegen sich die Leute in einer links-grünen staats- und regulierungsfreundlichen Blase. Von dort gibt es kaum vernehmbare kritische Stimmen zur „Energiewende“ oder zum Oxymoron einer „sicheren Stromversorgung mit erneuerbaren Energien“. So wäre es auch keine Überraschung, wenn wir, trotz dem Volks-Nein zum neuen CO2-Gesetz, bei den nächsten Wahlen wieder eine grüne Sympathiewelle erleben würden. Wer in Wahlen und Abstimmungen Konsistenz des Stimmverhaltens erwartet, hat die Essenz unseres Systems noch nicht erfasst.

Der geheiligte diffuse Volkswille

Spontane Nachbetrachtung zum erfolgreichen Referendum gegen das revidierte CO2-Gesetz

Mit 51,6 Prozent Nein-Stimmen wurde am 13. Juni das neue CO2-Gesetz abgelehnt. Ein knappes Nein. In Kommentaren hörte und las man, der Bundesrat hätte die Abstimmung nicht am gleichen Datum wie die beiden Agrar-Initiativen ansetzen sollen. Diese Initiativen hätten die überwiegend nicht-linke ländliche Bevölkerung auch gegen das CO2-Gesetz mobilisiert, was sich auch in der sehr hohen Stimmbeteiligung von fast 60 Prozent ausdrückt.

Diese Argumentation klingt durchaus plausibel. Die Zusammenstellung des Abstimmungspakets für ein bestimmtes Datum hat schon immer eine Rolle für die Abstimmungsergebnisse gespielt. Das ist in der politischen Forschung längst bekannt. Worüber aber weniger gesprochen wird, ist die Konsequenz für die Interpretation des sakralisierten Volkswillens. Wenn die Zusammenstellung der Vorlagen ohne weiteres ein (knappes) Abstimmungsergebnis umkehren könnte, sollte man vielleicht mit dem „Volkswillen“ etwas vorsichtiger umgehen, was angesichts des simplen Ja-Nein-Schemas ohnehin angezeigt wäre.

Was auch noch auffällt: In Kommentaren wird jetzt wieder stereotyp auf den Stadt-Land-Graben verwiesen. Dieser ist aber nur ein Abbild der demografisch-politischen Verschiebungen zwischen Stadt und Land. Heute dominiert Rot-grün in Exekutiven und Legislativen praktisch alle grösseren Städte der Schweiz, ein Abbild der politischen Einstellungen der städtischen Bevölkerung. Stadt-Land ist heute schlicht und einfach die oberflächliche Sicht des Gegensatzes von links versus nicht-links.