Es geht nicht mehr primär um die Sache

Machtspiele mit den direkten Volksrechten

In der Schweiz fühlen sich die meisten als Demokratie-Weltmeister. Auch Angehörige der verschiedenen Eliten in Politik, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft werden nicht müde, immer wieder die direkten Volksrechte und den Föderalismus als Hauptgrund für unseren hohen Wohlstand zu loben. Empirisch Gesinnte verweisen dann gerne noch auf statistische Vergleiche zwischen Teilstaaten mit mehr oder weniger direkter Demokratie aus den frühen 1990er-Jahren. Dort kam heraus, dass Gemeinwesen mit mehr direkten Volksrechten tiefere Steuern, eine niedrigere Staatsquote und mehr Wohlstand aufwiesen. Seither sind rund 30 Jahre vergangen, und neuere Vergleichsstudien sind mir nicht bekannt. Aber die Welt hat sich in dieser Zeit verändert, und die anstehenden Probleme auch.

Es gibt immerhin einen Grossvergleich, der keine aufwendigen Analysen benötigt und den Sonderfall Schweiz edelt. Ganz hinten im britischen „Economist“ sind jeweils die wichtigsten makroökonomischen Daten vieler Volkswirtschaften abgedruckt. Es ist leicht zu erkennen, dass die Schweiz dort seit Jahren einen Spitzenplatz einnimmt. Fragen stellen sich trotzdem: Mit wem will man sich vergleichen? Mit absteigenden europäischen Wohlfahrtsstaaten oder mit den besten der Welt? Oder ebenso wichtig: Können wir den Spitzenplatz auch in Zukunft halten oder schieben wir Grossprobleme mit hohen Kostenrisiken vor uns her, weil uns nachhaltige Reformen einfach nicht gelingen wollen?

Ernüchterndes aus den Niederungen der praktischen Politik
Begibt man sich von hoher Warte allgemeiner Lobpreisungen des Sonderfalls Schweiz in die Niederungen der praktischen Politik, muss man doch eines feststellen: Der Glanz der Sonderfall-Institutionen kriegt Kratzer. Es gibt kaum ein wichtiges Reformthema, bei dem die Schweiz nicht durch Widerstände gebremst oder blockiert ist, die mit drohenden Referenden oder Volksinitiativen oder föderalistischen Interessen zusammenhängen: Altersvorsorge, Gesundheitswesen, Europapolitik, Strommarkt-Liberalisierung. In der fundamental wichtigen Energiepolitik hat ein durch behördliche Manipulation und Desinformation zustande gekommenes Ja zum Energiegesetz ein unsinniges Neubauverbot für Kernkraftwerke demokratisch höchstlegitimiert – bei einer Stimmbeteiligung von nur 43 Prozent. Jetzt bastelt das Parlament aufgrund illusionärer Annahmen an einem „Mantelerlass“, der dieses Neubauverbot zu zementieren droht.

Seit Jahren wird auch gerne stereotyp und floskelhaft die Langsamkeit der politischen Prozesse als Vorteil herausgestrichen. Dies unter anderem, weil damit verhindert werde, dass falsche Politik bei uns später eingeführt werde als im Ausland – ein intellektuell bescheidenes Argument. Zudem sehen wir ja auch, dass es bei uns viel länger dauert, bis falsche Politik oder überholte Gesetze wieder korrigiert werden können, weil sich inzwischen Interessengruppen gebildet haben, welche eine „Rückkehr zur Vernunft“ bekämpfen. Ein schönes Beispiel dazu ist der vollkommen gescheiterte Versuch des früheren Finanzministers Hans-Rudolf Merz, die unter Referendumsdruck zustande gekommene komplizierte Mehrwertsteuer mit mehreren Sätzen und vielen Ausnahmen radikal zu vereinfachen. Noch ein Muster institutioneller Bedächtigkeit: Das revidierte Aktienrecht ist Anfang dieses Jahres in Kraft getreten. Der Anstoss dazu erfolgte im Jahr 2005!

Auch die verantwortungslose Vernachlässigung der militärischen Sicherheit hat mit Initiativrisiken zu tun. Schliesslich haben wir eine Gruppe für eine Schweiz ohne Armee GSoA, die als initiativfähige Macht die Rüstungspolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen vermochte. Auf der GSoA-Webseite liest man, sprachlich verbesserungsbedürftig wörtlich: „Die GSoA bedient verwendet direktdemokratischer Instrumente und hat seit ihrer Gründung 1982 sieben Volksinitiativen und zwei Referenden gesammelt. Bei weiteren fünf Initiativen hat die GSoA massgeblich zur Unterschriftensammlung beigetragen.“

Grosse Angst vor der institutionellen Frage
Wir hören und lesen aus sogenannt bürgerlich-liberalen Kreisen seit Jahren immer wieder dieselben kritischen Aufrufe, das erfolgreiche Modell Schweiz nicht verkommen zu lassen. Gefolgt von den immer gleichen Reformvorschlägen, die längst bekannt sind, jedoch in der Politik keine Mehrheiten finden. Niemand wagt, die institutionelle Frage zum Thema zu machen. Volksrechte und Föderalismus werden auch in ihrer real existierenden Form durch alle Böden verteidigt. Wer auch nur leise Skepsis anmeldet, wird gerne als Abschaffer unserer Institutionen diffamiert.

Dabei wird etwas Entscheidendes stets ausgeklammert. Der Gebrauch der direkten Volksrechte durch deren hauptsächliche Nutzer hat mit der Sache an sich oft wenig zu tun. Es geht um die Demonstration von genereller Referendumsmacht für alle Fälle, jedoch auch mit dem Ziel, schon im Vorfeld der Gesetzestätigkeiten präventiv Inhalte in Richtung der eigenen Interessen zu beeinflussen. Initiativ-mächtige Organisationen und Lobbies können mit Volksinitiativen auch Gegendruck zu laufenden Reformprojekten aufbauen. Damit werden die Grenzzäune für anstehende Reformprojekte angedeutet. So ist in Reformdebatten gegen den Vorwurf, es sei in Gesetzesreformen wenig erreicht worden, das stereotype Argument so populär, es sei halt unter Referendumsrisiken politisch nicht mehr möglich gewesen. Die endlosen Reformversuche für die erste und zweite Säule der Altersvorsorge und die resultierenden faulen Kompromisse, die nur dazu dienen, etwas Zeit bis zum nächsten Reformversuch zu gewinnen, sollten eigentlich deutlich genug zeigen, wie Referendums- und Initiativmacht als strategische Waffe zum Schaden des Gesamtinteresses eingesetzt wird.

RIP Credit Suisse

Ein wirtschaftspolitisches Panikorchester wählt eine schlechte Lösung

Die NZZ schreibt von einer „behördlich erzwungenen Übernahme“ der CS durch die UBS. Genau das ist es. Man hat sich mit diesem notrechtlichen Vorgehen praktisch alle möglichen Nachteile eingehandelt: Eine Ikone des schweizerischen Finanzplatzes wird kurzerhand aufgegeben. Es entsteht eine Monster-Bank, die für die Schweiz viel zu gross ist. Aktionäre und vor allem Obligationengläubiger der CS werden schamlos enteignet.

Dieser Vorgang ist eine Peinlichkeit und schadet dem Ansehen der Schweiz. Der ehemalige CS- und UBS-Chef Oswald Grübel beschreibt gegenüber der Zeitung „Blick“ die Patentlösung:

Es ist zu vermuten, dass Grübel nicht eine vollständige Übernahme meinte. Es hätte genügt, wenn die SNB etwa 30 Prozent übernommen hätte. Das hätte zum Kurs vom letzten Freitag plus einem kleinen Aufschlag (z.B. CHF 2 pro Aktie) rund drei Milliarden Franken gekostet. Der geschätzte effektive Wert einer solchen Beteiligung betrug mindestens das Dreifache.

Eine Beteiligung der SNB mit entsprechender Begleitmusik im Sinne von Draghis „whatever it takes“ (Martin Janssen) hätte den panikartigen Abzug von Geldern stoppen können. Interessant, was der damalige Nationalbankpräsident Jean-Pierre Roth bei der Rettung der UBS 2008 sagte: «Wir sind da für die Ewigkeit». Und so wie damals hätte eine SNB-Beteiligung nach einer Phase der sorgfältigen Konsolidierung der CS in einem Paketverkauf der SNB einen schönen Gewinn einbringen können. Nicht zu vergessen: Die SNB hält in ihrer Bilanz bereits milliardenschwere Pakete an ausländischen Unternehmen. Wieso nicht auch ein CS-Aktienpaket?

Offenbar fehlen heutzutage in der wirtschaftspolitischen Elite die Grübels. Man kann sich auch fragen, ob unter einem SNB-Präsidenten Hildebrand nicht die Grübel-Variante zum Zug gekommen wäre.

Generation Z verlässt punkt 17 Uhr den Arbeitsplatz

„Quiet Quitting“ als Symptom westlicher Dekadenz

Zum Glück haben wir das öffentlich-rechtliche Radioprogramm SRF2 Kultur. Dort erhalten die paar Menschen, die diesen Kanal willentlich oder zufällig einschalten, Wissensunterricht. Jüngst erklärte man dort den Ausdruck „quiet quitting“, was so viel heisst wie stilles Aufhören oder stille Kündigung auf Zeit bis am anderen Morgen punkt 8 Uhr. Das sei unter Angehörigen der Generation Z (geboren zwischen 1995 und 2010) die neue Mode.

Quiet Quitting bedeutet in der Praxis, man arbeitet nur noch genau nach Arbeitsvertrag die Stundenzahl, die dort festgelegt ist. Überstunden sind passé. Wegleitend ist das Schlagwort Work-Life-Balance.

Diese Einstellung der Generation Z sollte auch im Lichte der verhaltensökonomischen Forschung über arbeitsmarktliche Beziehungen beurteilt werden. Meines Wissens hat der renommierte Verhaltensökonom Ernst Fehr von der Universität Zürich in Experimenten mit dem Phänomen „wie du mir, so ich dir“ begründen können, warum sich auf dem Arbeitsmarkt oft Löhne über dem rein formell zu erwartenden Marktniveau bewegen. Die Formel „wie du mir, so ich dir“ verweist auf ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis. Besondere Anstrengungen eines Arbeitnehmers werden vom Arbeitgeber auch besonders honoriert und umgekehrt.

Junge Menschen scheinen aus den vergangenen, wirtschaftlich erfolgreichen Zeiten den Schluss zu ziehen, unsere gegenwärtige Stellung in der Welt garantiere weiterhin unsere Wohlfahrt auf weltweitem Spitzenniveau. In der Presse stand schon vor einigen Jahren zu lesen, gemäss einer Befragung von 12 000 jungen Schweizern gehe der jungen Generation die Work-Life-Balance über alles. Und 97 Prozent der Befragten schlössen aus, jemals eine eigene Firma zu gründen.

Das Fazit ist einfach zu ziehen: Wenn die freiwillige Leistungsbereitschaft über das absolut Notwendige hinaus verloren geht, könnte das Wohlstandsparadies Schweiz zunehmend Schaden nehmen.