Diesmal wird mein Blog-Beitrag etwas länger. Es geht um einen kritischen Kommentar zu Äusserungen einer politisch prominenten Person. In der NZZ am Sonntag vom 4. Januar 2015 lieferte die Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Badran ein schönes Muster für die Verwirrung um die Rolle des Staates und der Politik in Bereichen der Wirtschaft.

Frau Badran ist gemäss Kurz-Bio in der NZZ am Sonntag auch Ökonomin, und korrekt verweist sie auf die in der ökonomischen Wissenschaft übliche Differenzierung von wirtschaftlichen Gütern. Politisch befangen, zieht aber die SP-Nationalrätin aus einer richtigen Analyse die ökonomnisch falschen, markt- und wettbewerbsfeindlichen Schlüsse. Hier das zu kommentierende Badran-Zitat:
„Wir müssen wieder vermehrt in Güterklassen denken und argumentieren lernen. Wasser zum Beispiel gehört nicht in dieselbe Güterklasse wie Pingpongbälle, und das Gut Wohnen ist nicht zu vermengen mit Konsumgütern wie Pommes-Chips, Kühlschränken oder Schuhen. Früher wusste man das. Deshalb werden Güter wie Sicherheit, Gesundheit, Bildung, Strom, Wasser, Wohnen, Telekommunikation, Grundnahrungsmittel, Verkehr und sogar Finanzdienstleistungen anders behandelt (und in der Regel staatlich produziert). Sie unterliegen anderen ökonomischen Gesetzmässigkeiten. Heute reden wir völlig undifferenziert über Markt und Wettbewerb, auch wenn es sich um Güter handelt, die im klassischen Sinn gar nicht marktfähig sind.“
Nationalrätin Badran zettelt mit ihrer Forderung nach einer differenzierten Betrachtung von wirtschaftlichen Gütern eine ökonomische Debatte an, also darf man diese auch aus dem Blickwinkel des Ökonomen zu Ende führen. Da sich Frau Badran in öffentlichen Äusserungen an ein breites Publikum wendet, das während der gesamten Schulzeit nie mit ökonomischen Konzepten und Denkweisen in Berührung gekommen ist, kann sie davon ausgehen, dass ihre Aussagen den meisten Leuten ohne langes Nachdenken einleuchten. Doch schon die Behauptung, man rede heute völlig undifferenziert über Markt und Wettbewerb, ist schlicht falsch. Mit dieser Fehlinformation lenkt Badran davon ab, dass die ökonomisch korrekte Differenzierung von Gütern einen politisch unbefangenen Ökonomen zu ganz anderen Schlüssen führt als zu ihren marktkritischen und staatslastigen Vorstellungen. Gehen wir einfach mal die Badran’sche Zehner-Liste durch:
1. Sicherheit: Wenn es um die kollektive Sicherheit vor äusseren oder inneren Bedrohungen geht, handelt es sich ökonomisch um ein öffentliches Gut, also gibt es keinen Markt mit privaten Anbietern. Ein politisch ermitteltes staatliches Angebot (Armee, Polizei) ist notwendig. Sicherheit im kleineren Rahmen für begrenzte Bereiche und Zeiträume lässt sich aber auch privat und im Wettbewerb organisieren. Dafür gibt es diverse Sicherheitsfirmen wie Securitas und ähnliche.
2. Gesundheit: Alle massgebenden politisch unabhängigen Gesundheitsökonomen sind sich einig: Der Einfluss von Politik und Staat geht heute weit über jedes ökonomisch begründbare Mass hinaus. Gesundheitsgüter haben zwar latent sogenannt meritorischen Charakter, was bedeutet, dass die Leute ihre Vorsorge aus eigenem Antrieb vernachlässigen könnten. Aber es sind im Prinzip private Güter. In der Schweiz haben wir zum Beispiel Zahnarztleistungen ohne staatliches Versicherungs-Obligatorium privat organisiert, und dies dank richtigen Verhaltensanreizen mit hervorragenden Ergebnissen für die Zahngesundheit der Bevölkerung. Viele leichtere, nicht lebensbedrohende Krankheiten könnten im Prinzip ebenfalls privater Initiative überlassen werden. Stattdessen leisten wir uns mit vordergründig sozial klingenden Begründungen ein vielfach überreguliertes System mit einem überladenen Grundleistungskatalog. Dessen längst bekannte Fehlanreize führen zu einer unaufhaltsamen Mengenausweitung und Überbeanspruchung des Angebots – mit all den ebenfalls längst bekannten negativen Auswirkungen (Wettbewerbsverzerrungen, Kosten, Personalmangel, kantonaler Aufrüstungswettbewerb im Spitalbereich etc.).
3. Bildung: Bildung erfüllt keines der Kriterien eines öffentlichen Gutes (Nicht-Rivalität zwischen Nutzern, Nicht-Ausschliessbarkeit von Nutzern). Bildung gilt jedoch als meritorisches Gut, was aber ein privates wettbewerbliches Angebot von Bildungsleistungen nicht ausschliesst. Das bei uns dominierende staatliche Angebot für eine kostenlose obligatorische Schulbildung wird vor allem verteilungspolitisch begründet. Die staatliche Dominanz bei Angebot und Regulierung geht aber sehr weit und schliesst mögliche positive wettbewerbliche Elemente aus (Bildungsgutscheine, freie Schulwahl, Leistungsvergleiche zwischen Schulen etc.). Zudem kann auch das Argument des meritorischen Gutes zugunsten eines staatlichen Angebots überstrapaziert werden. Man denke nur an die enorme Nutzung des vielfältigen Angebots an selbst bezahlter privater beruflicher Weiterbildung. Noch eindrücklicher: In den Slums afrikanischer und indischer Megastädte organisierten sich schon vor Jahren ärmste Familien und gründeten private Grundschulen für ihre Kinder. Diese Schulen sind nicht kostenlos, doch gerade weil die Eltern sich das Schulgeld von ihrem kargen Einkommen abzweigen müssen (und die Kinder das auch wissen), schneiden diese privaten Schulen in allen Leistungsvergleichen klar besser ab als die kostenlosen staatlichen Schulen. Dies auch als Hinweis an unsere verwöhnte Studentenschaft, die jeweils sofort in militanter Stimmung auf die Barrikaden steigt, wenn eine Erhöhung der bescheidenen Studiengebühren zur Debatte steht.
4. Strom: Beim Strom kommt gegen eine Markt- bzw. Wettbewerbslösung das Argument des natürlichen Monopols ins Spiel. Dieses gilt aber nur für das Verteilungsnetz, nicht jedoch für die Produktion und die Vermarktung. Mehrere Verteilungsnetze aufzubauen und zu unterhalten, wäre volkswirtschaftlich nicht effizient. Genau deshalb wurden unter dem Binnenmarktprogramm der EU Netz und Produktion/Vermarktung getrennt (auch für andere Netzwerksektoren wie Bahn oder Telekommunikation). Die Schweiz hat sich dem angeschlossen. Weiterhin beherrschen jedoch staatliche Unternehmen (von Kantonen und Gemeinden) auch Produktion und Verteilung. Erste Ansätze für eine Marktöffnung wurden zwar für Grossabnehmer realisiert, aber unter dem Einfluss von Badran-Argumenten könnte es gut sein, dass ein Referendum gegen eine Liberalisierung für Kleinkunden (private Haushalte) dereinst Erfolg haben könnte. Ausgerechnet Badrans SP, welche die Schweiz in die EU führen möchte, kämpft gegen eine Liberalisierung, die zwingend zum EU-Binnenmarktprogramm gehört. Solche Widerstände behindern auch den Abschluss eines Stromabkommens mit der EU, das die optimale Integration der Schweiz in den europäischen Strommarkt sichern soll.
5. Wasser: Wo Wasser in der Schweiz knapp ist – etwa in agrarisch genutzten Regionen des Wallis – haben sich schon vor langer Zeit beispielhafte korporative Organisationsformen mit kollektiven, aber klaren Eigentumsrechten entwickelt, die für eine konfliktfreie Zuteilung des Wassers sorgen. In vielen Gegenden ist aber Wasser kein knappes Gut, sodass sich auch keine Märkte und Preise bilden können. Bei den Verteilungsnetzen lässt sich für eine staatliche Lösung das Argument des natürlichen Monopols anführen. Allerdings müssen dann Wassergebühren so angesetzt werden, dass sie die Kosten für den Unterhalt und die Erneuerung des Netzes decken. Wasser als „Menschenrecht“ im Sinne eines freien Gutes, das jedem kostenlos zusteht, schafft in der Debatte um knappes Wasser in der Dritten Welt gefährliche Illusionen. Wenn etwas knapp ist, aber keinen Preis hat, wird es übernutzt. Das ist genau die Situation, die man in vielen Entwicklungsländern antrifft. Es werden gewaltige Mengen an Wasser verschwendet. Stichwort dazu ist die „Tragik der Allmende“.
6. Wohnen: Wenn sich in Städten, wo „Wohnungsnot“ herrscht, auf ein Inserat für eine Mietwohnung jeweils 50 oder 60 oder gar 70 Leute zu einer Besichtigung einfinden und davon ein grosser Teil konkret am Objekt interessiert ist, schliesst jeder halbwegs ökonomisch denkende Mensch, dass wohl der Mietpreis etwas zu tief angesetzt ist. Ganz im Gegensatz zu dieser logischen Folgerung behaupten Frau Badran und ihre Genossen, Wohnungen seien „nicht mehr bezahlbar“. Deshalb müsse die Politik dafür sorgen, dass sich auch „gewöhnliche Leute“ noch Wohnungen in diesen Städten leisten können. Das gängige Schlagwort zugunsten der staatlichen Unterstützung in diversen Formen lautet „soziale Durchmischung“. Allerdings stellt sich die Frage, auf welchen räumlichen Bereich sich das beziehen soll: Zum Beispiel die Grossagglomeration Zürich mit Einschluss der angrenzenden Gemeinden? Oder etwas kleinräumiger nur auf das Stadtgebiet von Zürich? Oder noch enger auf einen bestimmten Stadtkreis (Seefeld, Kreis 5)? Die Wohnungsmarkt-Regulierer scheinen „soziale Durchmischung“ sogar noch enger zu sehen, nämlich auf Quartierebene oder sogar in einer einzelnen Wohnbau-Genossenschaft. Wenn sich die gegenwärtig vorherrschende, zu immer mehr staatlichen Eingriffen neigende Wohnungsmarkt-Politik weiterhin nach solchen dörflichen Stadtvorstellungen richten sollte, muss man sich nicht wundern, wenn Angebot und Nachfrage nach Wohnraum in den Städten mit „Wohnungsnot“ künftig noch weiter auseinanderklaffen werden. Immerhin lässt sich dann die „Wohnungsnot“ weiterhin politisch bewirtschaften.
7. Telekommunikation: Hier sind die ökonomischen Argumente für staatliches Engagement inzwischen ganz dünn geworden. Der technologische Fortschritt hat einerseits die Bedeutung des Netzwerkcharakters (natürliches Monopol) der traditionellen Festnetztelekommunikation stark reduziert. Anderseits haben sich in der immer wichtiger werdenden Mobiltelefonie sogar parallele Netze der Anbieter entwickelt. Zudem verlagert sich Kommunikation immer mehr ins Internet. Eine vom Bund beherrschte Swisscom, die dank politisch zugeschanzten Startvorteilen als übermächtiger Anbieter den Markt dominiert, ist deshalb nur politisch zu begründen. Die SP und die Grünen – gemäss Politologe Adrian Vatter die linkste Linke von Europa – sträuben sich fundamental gegen jede Liberalisierung von ehemaligen Staatsmonopolen. Man sieht das auch bei der Bahn und bei den Postdiensten, die in der Liste von Frau Badran fehlen, aber sicher nur aus Versehen. Nicht zu vergessen ist dabei der grosse Einfluss der staatsnahen Gewerkschaften gegen Liberalisierung und Entstaatlichung.
8. Grundnahrungsmittel: Welche Rolle Frau Badran hier für eine staatliche Zähmung von Markt und Wettbewerb oder gar eine staatliche Produktion (siehe Badrans Klammerbemerkung) vorgesehen hat, bleibt unklar. Will Badran etwa den volkswirtschaftlich schädlichen schweizerischen Agrarschutz legitimieren? Wenn es in der schweizerischen Volkswirtschaft einen Sektor gibt, wo es in der politischen Ausmarchung für ökonomische Rationalität kaum Platz hat, dann sicher in der Landwirtschaft. Auch Grundnahrungsmittel, was immer das heissen soll, sind keine öffentlichen Güter. Dass es für eine durch Subventionen getriebene, extrem intensive umweltbelastende Landwirtschaft wie die schweizerische staatliche Auflagen zum Schutz der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen braucht, ist ökonomisch mit den damit verbundenen negativen externen Effekten zu begründen. Ähnlich verhält es sich mit gesundheitspolitischen Auflagen. Diese sinnvollen staatlichen Regulierungen hat aber Frau Badran bestimmt nicht gemeint.
9. Verkehr: Hier spielt ökonomisch sowohl beim Strassen- wie auch beim Schienenverkehr wieder das Netzwerkargument die entscheidende Rolle. Die weiter oben erläuterten Überlegungen treffen auch hier zu: Das Strassen- oder Schienennetz, das in einer Form des gemeinschaftlichen Eigentums bleibt, wird sinnvollerweise vom privatwirtschaftlich-wettbewerblich organisierten Betrieb getrennt. Das EU-Binnenmarktprogramm ist hier konsequent, während die Schweiz mit der Entstaatlichung im Bahnverkehr offenbar Mühe hat. Im Güterverkehr, der für ein Transitland wie die Schweiz vorwiegend grenzüberschreitend stattfindet, hat eine gewisse Marktöffnung zwar notgedrungen stattgefunden. Im stark von inländischen Interessen geprägten Personenverkehr ist die staatliche Dominanz von SBB und Verkehrsunternehmen der öffentlichen Hand auf Kantons- und Gemeindeebene jedoch ungebrochen. Zudem wird kräftig staatlich subventioniert. Der Kostendeckungsgrad durch die Bahnkunden beträgt bloss etwa 40 Prozent. Mobilität ist generell zu billig. Im Strassenverkehr verweisen die immer länger werdenden täglichen Staumeldungen auf ein akutes Knappheitsproblem. Dennoch sind Knappheitspreise (Stichwort „mobility pricing“) nach erfolgreichen ausländischen Mustern praktisch tabu. Dasselbe gilt auch für differenzierte Preise im öffentlichen Verkehr, um die Stosszeiten zu entlasten. Differenzierung wird politisch, trotz dem dürftigen Kostendeckungsgrad von 40 Prozent, nur nach unten im Sinne von Rabatten unterstützt.
10. Finanzdienstleistungen: Hier spielt Frau Badran wohl auf die jüngste Finanzmarktkrise an, die nach ihrer Meinung sicher auf die zu weit gehende frühere Deregulierung des Sektors zurückzuführen ist. Man kann diese Meinung auch aus ökonomischer Sicht durchaus teilen, sollte aber die Verantwortlichkeiten der Politik für diese Fehlentwicklungen nicht ausblenden. Die Systemrisiken sind auch von der Politik stets unterschätzt worden, und dies angesichts der sprudelnden Steuereinnahmen vom Finanzsektor mit grossem Wohlwollen. Hier hilft die Brille des Polit-Ökonomen. Dieser sieht Politiker nicht als dem Gemeinwohl verpflichtete Gutmenschen, sondern als interessengeleitete Akteure. Mit diesem Politikerbild als Analysemuster lassen sich gewisse Fehlentwicklungen gut nachvollziehen oder voraussagen. Politik und Verwaltung lassen sich von Wirtschaftsinteressen vereinnahmen bzw. Wirtschaftsinteressen betreiben „rent seeking“, um sich auf politischem Weg Wettbewerbsvorteile zu ergattern. Was zudem beim Finanzmarkt eine optimale staatliche Regulierung erschwert, ist die rasche technologische und, damit verbunden, finanzmarkttechnische Entwicklung, die eine gewisse Informations-Asymmetrie zwischen Regulierern und Regulierten vermuten lässt. In der noch nicht abgeschlossenen laufenden Regulierung der Finanzmärkte lassen sich all diese polit-ökonomisch relevanten Phänomene gut verfolgen. Heute besteht unter dem Einfluss der grossen Wirtschaftsakteure (vor allem der Grossbanken) wiederum die Gefahr, dass am falschen Ort zu viel reguliert wird, während die wahren Systemrisiken nicht wirklich beseitigt werden.
Als Fazit bleibt dies: Wenn man die von Frau Badran genannten Güter ökonomisch wirklich korrekt analysiert, kommt als Schlussfolgerung das Gegenteil von Badrans staats- und politiklastigen Ideen heraus. Angezeigt ist praktisch überall mehr Markt und mehr Wettbewerb und nicht noch mehr Staat, wo der Staat ohnehin schon allgegenwärtig ist. Natürlich kann man entgegnen: Das Stimmvolk will es so haben. Das ist aber politisch und nicht ökonomisch argumentiert und weicht einer sachlich fundierten Diskussion aus. Zudem würde das Stimmvolk wohl in vielen der zehn Güterkategorien der Badran-Liste anders denken und entscheiden, wenn in der obligatorischen Schulzeit anhand praktischer Problemstellungen ein paar der wichtigsten ökonomischen Denk- und Analysekonzepte vermittelt würden. Leider ist dies von unseren Staatsschulen nicht zu erwarten, und der Lehrplan21 wird daran auch nichts ändern.