Abgewrackte Armee – Kollateralschaden der Schuldenbremse

Dieser Text erschien am 15. Dezember als Gastkommentar in der Rubrik „Tribüne“ der NZZ und gleichentags in der Online-Ausgabe nzz.ch.

In der Schweiz ist man mächtig stolz auf die vom Stimmvolk beschlossene Selbstbindung gegen das Schuldenmachen im Bundeshaushalt. Der betreffende Verfassungsartikel 126 wurde in der Volksabstimmung vom 2. Dezember 2001 mit 85 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Die Eidgenössische Finanzverwaltung (EFV) erklärt die Schuldenbremse so: «Die Schuldenbremse soll den Bundeshaushalt vor strukturellen (chronischen) Ungleichgewichten bewahren und damit verhindern, dass die Bundesschuld ansteigt wie in den 1990er Jahren. Gleichzeitig gewährleistet sie eine antizyklische Fiskalpolitik, indem sie in Abschwungphasen begrenzte konjunkturelle Defizite zulässt und in Phasen der Hochkonjunktur Rechnungsüberschüsse verlangt.»

Für die überwältigende Zustimmung zur Schuldenbremse gibt es plausible Erklärungen. Erstens haben viele prinzipiell den Eindruck, ihr Steuergeld werde aus ihrer Sicht auch für unnütze Zwecke verschwendet. Zweitens wirkte bei dieser Volksabstimmung der «Schleier der Unwissenheit» (John Rawls). Niemand wusste im Voraus, wie sie oder er persönlich durch die Schuldenbremse betroffen sein würde. Diese Voraussetzung ist für Volksabstimmungen untypisch.

In der Zeit seit der Einführung der Schuldenbremse bis 2019 konnte die Verschuldung des Bundes dank strukturellen Überschüssen abgebaut werden. Gemäss EFV gelang dies vor allem, weil die Ausgaben tiefer ausfielen als budgetiert. Überschüsse sind aber nicht per se positiv. Sie können dadurch entstehen, dass Ausgaben für wichtige Vorhaben in die Zukunft verschoben werden. Beispielhaft dafür stehen die Altersvorsorge und das Gesundheitswesen inklusive Alterspflege. Mit der Energiewende, das heisst der Priorisierung erneuerbarer Energie, entstehen neue, noch kaum verlässlich bezifferbare Ansprüche an den Bundeshaushalt. So ist es kein Wunder, dass der Bund gerade in jüngster Zeit vor wachsenden strukturellen Defiziten warnt.

Als eine der grössten Fehlleistungen unseres politischen Systems erweist sich heute die skandalöse Vernachlässigung der militärischen Sicherheit. Sie ist ein idealtypisches öffentliches Gut und ist deshalb eine der prioritären Staatsaufgaben. Hier gab es jedoch keine der üblichen Blockaden aus der Unvereinbarkeit politischer Positionen wie bei drängenden Reformen der Altersvorsorge oder des Gesundheitswesens, sondern es herrschte quer durch das politisch-ideologische Spektrum eine opportunistische Grundstimmung für Einsparungen.

Damit gelangen wir zum Stichwort Crowding-out. Crowdingout bezeichnet dieVerdrängung von Notwendigem in Konkurrenz mit anderen Ansprüchen durch eine gesetzlich oder politisch vorgegebene Obergrenze. Wenn gesetzlich festgeschriebene Ansprüche – oft sind es sozialpolitische Ansprüche – oder andere, die politisch opportun sind, die Vorgaben der Schuldenbremse strapazieren, werden vorzugsweise die unpopulären Ausgaben beschnitten. Das Armeebudget gehört fast in allen Parteien zu diesen unpopulären Bereichen, weil sich mit dem Einsatz für höhere militärische Ausgaben keine Wahlen gewinnen lassen. Jetzt droht der grossartig verkündete Aufwuchs der Armee auf ein Ausgabenniveau von jährlich einem Prozent des BIP unter dem Druck wachsender Defizite schon wieder zurückgefahren und zeitlich gestreckt zu werden.

Das Crowding-out wirkt asymmetrisch zugunsten gebundener Konsumausgaben mit gesetzlichem Anspruch. Zurückgestellt werden primär Investitionen, also Ausgaben, deren Nutzen in der Zukunft anfällt. Hier gibt es meist weder gesetzliche Ansprüche noch fixe zeitliche Vorgaben. Nicht nur die Ausgaben für die militärische Sicherheit sind betroffen. Aus heutiger Warte ist auch klar, dass die grossen Infrastrukturprojekte in den Sektoren Verkehr und Energie nicht so wie zeitlich geplant realisiert werden können. Die Verdrängung von Vorhaben mit positiver Langzeitwirkung durch konsumtive Staatsausgaben nimmt der Schuldenbremse, so wie sie in der Praxis funktioniert, viel von ihrem Heiligenschein.

Volksabstimmung als symbolischer Akt

Zum Stempelsteuer-Referendum vom 13. Februar

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Es wäre langweilig, der Leserschaft all die bereits x-fach diskutierten Argumente zugunsten dieser volkswirtschaftlich vernünftigen Vorlage ein weiteres Mal vorzusetzen. Es gibt auf der institutionenkritischen Ebene einen interessanteren, weil vernachlässigten Zugang zum Thema. Abstimmungspropaganda hält uns selbsternannten Demokratieweltmeistern mehrmals jährlich den Spiegel vor. Aber wir wollen nicht reinschauen. Sonst könnte der Mythos vom klug entscheidenden Stimmvolk Schaden nehmen. Allerdings gibt es gelegentlich doch gewisse Zweifel an den Segnungen einer exzessiv partizipativen Demokratie.

Das Phänomen des «expressive voting»

Nationalrat Balthasar Glättli, Präsident der Grünen, beklagte sich über die Schwierigkeit, rechtzeitig genügend Unterschriften für das Referendum vom Mai 2019 gegen die STAF-Vorlage AHV-Unternehmenssteuern zu sammeln. Man müsse den Leuten auf der Strasse das Thema zuerst lange erklären. «Sie wissen nicht, um was es geht», sagte Glättli gemäss der »NZZ am Sonntag». Als wäre dieser Kombi-Deal in den Medien nicht schon ausführlich behandelt worden! Zudem waren sowohl die AHV wie auch die Unternehmenssteuern seit langem öffentlich-mediale Dauerthemen. Und beide waren erst 2017 Gegenstand von Volksabstimmungen, so dass man ein Vorwissen hätte erwarten können.

Im November 2018 kommentierte der Berner Politologe Klaus Armingeon in der »Neuen Zürcher Zeitung» eine Umfrage des Schweizer Datenarchivs Fors zu widersprüchlichen Meinungen zum Thema Bilaterale/EU-Rahmenabkommen in der Bevölkerung. Die Annahme, der Abstimmungsentscheid bei Integrationsfragen sei weitgehend vernunftgeleitet, beruhe auf Informationen und sei Folge eines Abwägens von Vor- und Nachteilen der konkreten Vorlage, sei sehr zu bezweifeln. Armingeon vermutete, dass die Leute Widersprüche gar nicht als solche empfinden, weil es ihnen nicht um die konkrete Vorlage gehe, sondern um grundsätzliche Ziele und Werte. Dafür spreche auch das bescheidene Wissen über die Vorlagen.

«Expressive voting» nennt man dieses Wahlverhalten in den USA. Dazu ein schweizerisches Muster: Vor der Abstimmung über das Energiegesetz vom Mai 2017 erklärte mir mein alter Schulfreund Hugo, weshalb er für das Gesetz stimme, gegen das die SVP als einzige Partei die Nein-Parole gefasst hatte: «Ich werde doch nicht Blocher helfen, eine Abstimmung zu gewinnen.» In jeder Abstimmung gibt es viele Hugos. Man stimmt nicht zum Thema ab, sondern man will aus der Abstimmung in einer Art symbolischem Akt emotionalen Gewinn ziehen.

«Polemik auf sehr tiefem Niveau»

Abstimmungen zu fiskalpolitischen Vorlagen, bei denen es, oberflächlich gesehen, um Steuersenkungen geht, sind besonders geeignet für «expressive voting». Das Referendum über die Abschaffung der Stempelsteuer steht ganz in dieser Tradition. So wiederholen sich die gegnerischen Schlagwort-Argumente jeweils wortwörtlich. Beim erfolgreichen Referendum vom Februar 2017 gegen die Unternehmenssteuerreform III hiess es: «Nein zum Unternehmenssteuer-Bschiss! Nein zu undurchsichtigen Steuertricks! Nein zu neuen Milliardenlöchern! Konzerne machen mit diesen Steuertricks Milliarden! Nein zum Bschiss an der Bevölkerung!» Der Freiburger Finanzwissenschafter Bernard Dafflon meinte dazu in einem Zeitungsinterview: «Der Text der Gegner ist reine Polemik auf sehr tiefem Niveau.»Gegen die Abschaffung der Stempelsteuer tönt es jetzt so: «….profitieren grösstenteils international tätige Grosskonzerne, Banken und Versicherungen. Nein zu diesem Stempelsteuer-Bschiss! Grosskonzerne, speziell aus der Finanzbranche, werden bereits heute stark bevorzugt… zahlen Finanzkonzerne bald gar keine Steuern mehr… unehrliche Verschleierungstaktik der Konzernlobby. Weitere Privilegien für Grosskonzerne sind bereits in der Pipeline.»

149 Lakaien von Grosskonzernen in der Bundesversammlung?

Referenden sind nicht bloss eine taktische Waffe, um eine Vorlage zu verhindern, sondern auch ein strategisches Mittel, um Referendumsmacht zu bestätigen. Die Linke demonstriert dies regelmässig auf ihren Lieblingsgebieten der Altersvorsorge, des Gesundheitswesens oder bei militärischen Rüstungsgeschäften. Und jetzt gerade wieder in der Steuerpolitik.

120 von 195 an der Abstimmung teilnehmenden Nationalräten und 29 von 44 Ständeräten haben der Stempelsteuervorlage zugestimmt. Das sind 62,3 Prozent Zustimmung. Sitzen in unserem Parlament 149 Lakaien von Finanz- und Grosskonzernen? Oder ebenso viele, die die Bevölkerung «bescheissen» wollen?Wenn wir institutionelle Hintergründe von Reformblockaden weiterhin tabuisieren, droht unserem Land auf wichtigen Gebieten der Stillstand. Selbst auf hohem Niveau ist Stillstand keine Option. Eine Verwesentlichung der direkten Volksrechte könnte darin bestehen, dass ein Referendum gegen eine Vorlage nur dann erfolgreich ist, wenn die prozentuale Ablehnung mindestens so hoch ausfällt wie die prozentuale Zustimmung im Parlament. Das ist natürlich nur mal eine spontane Idee. Diese könnte aber eine Debatte über das durch verschiedene Entwicklungen gestörte Gleichgewicht der Institutionen anstossen.

Post-Corona: Bleibende Hirnschäden

Noch mehr illusionäres Vertrauen auf Staat und Politik

Post-Corona werden wir mit den materiellen wirtschaftlichen Kosten der weitherum populären Lock- und Shutdown-Politik zu kämpfen haben. Von den geistigen Schäden ist fast nichts zu hören.

Symptome der Unterwerfung
Über die selbstverständliche Unterwerfung der Bevölkerung unter die „notrechtlich“ verfügten Schutzmassnahmen der meisten demokratischen Regierungen, teils auf staats- und verfassungsrechtlich fragwürdigen Grundlagen, war schon Einiges zu lesen und zu hören. Ein zusätzliches Detail ist dennoch erstaunlich: Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel, der italienische Ministerpräsident Conte wie auch die im Fokus stehenden schweizerischen Bundesräte Berset und Sommaruga erfuhren ein Popularitätshoch, von dem sie unter normalen Umständen sicher nicht einmal geträumt hätten.

Die Mechanismen sind leicht zu durchschauen: Plötzlich konnten Regierungen, denen zuvor in permanent kriselnden Zeiten nicht mehr viel gelungen war, Führungsstärke markieren. Als dann die Zustimmungsraten zur Politik in die Höhe schnellten, galt dies als Beweis, dass diese Politik richtig ist. Doch die Katze beisst sich in der Schwanz: Die einschneidenden Massnahmen der Politik, verstärkt durch die Mechanismen der Medien, konditionierten zuerst die öffentliche Meinung, sodass rabiate Interventionen ins Alltagsleben als alternativlos hingenommen wurden. Und dann hatten die Behörden die überwiegende Mehrheit der Leute natürlich hinter sich, wie Umfragen zeigten.

Zu Beginn des Lockdowns hatte ich in einem früheren Blogbeitrag Mitte März geschrieben: Was die wirtschaftlichen Verluste (der Corona-Politik) betrifft, ist der Prozess paradox. Zuerst verursacht die pauschale Quarantänen-Politik des Staates einen massiven wirtschaftlichen Einbruch, und dann spricht derselbe Staat gigantische Stützungspakete für alle möglichen Opfer seiner Politik. Und wer bezahlt dafür am Ende? Natürlich wir oder unsere Nachkommen als Steuerzahler, denn auch für den Staat gilt: Jeder Franken kann nur einmal ausgegeben werden.

Immaterielle Schadensbilanz
Genau diese Binsenwahrheit scheint nun ausser Kraft gesetzt. Regierungen können praktisch unbeschränkte Rettungspakete verkünden. Wiederum findet national und international eine Art von „edlem“ Wettlauf um die grössten Hilfspakete statt. Es ist das, was Politiker am liebsten tun, nämlich fremdes Geld verteilen. Entweder dasjenige der „Wirtschaft“ und der „Reichen“ oder das, welches niemanden zu schmerzen scheint, weil es mithilfe wohl gesonnener Zentralbanken aus dem Nichts geschaffen werden kann.

Plötzlich ist jetzt eine permanente Staatsverschuldung ohne Rücksicht auf deren Gewicht im Verhältnis zur Produktivkraft einer Volkswirtschaft salonfähig. So altmodische Regeln wie die „Maastricht-Verschuldungskriterien“ der EU werden kurzerhand über Bord geworfen. Die EU bewegt sich nun offen in Richtung einer Fiskal- und Schuldenunion, wie sie die notorischen EU-Schuldenstaaten seit langem fordern.

Diese Erfahrungen mit den staatlichen Milliarden-Stützungspaketen bleiben natürlich nicht ohne Wirkung auf die Denkweise der Menschen und deren Erwartungen an die Politik. Die verführerische Idee, ohne die Anstrengung des Konsumverzichts (sparen als „deferred gratification“) späteren Mehrwohlstand zu ermöglichen, verfängt bei vielen Menschen. Und weil die meisten Leute nur nominell in Geld denken, glauben sie auch an die versprochenen segensreichen Wirkungen der staatlichen x-Milliarden-Hilfsprogramme.

Ominöse Entwicklungen sind auch auf dem Gebiet der wirtschaftswissenschaftlichen Unterlegung dieser symbiotischen Geld- und Finanzpolitik zwischen Regierungen und Zentralbanken im Gange. Besonders in den angelsächsischen Ländern, vor allem USA, gibt es bereits eine ganze Schule von Ökonomen, die eine „Modern Monetary Theory“ (MMT) vertreten, um damit eine Politik wissenschaftlich zu legitimieren, die mit dem berühmten Draghi-Slogan „whatever it takes“ ihren prägnantesten Ausdruck gefunden hat. Ohne hier auf die ziemlich komplexen Details der MMT einzugehen, scheint es mir wichtig, auf die mit dieser Denkschule verbundenen Anliegen hinzuweisen. Erstens sollen Zentralbanken Zinsen bis weit in den Negativbereich senken können. Damit verbunden ist zweitens das Ziel, Bargeld abzuschaffen, damit die Leute als Reaktion auf Negativzinsen nicht Bargeld horten. Drittens gehört zu dieser Denkschule auch grosse Sympathie für die Allmacht des Steuerstaats.

Es ist kaum vorstellbar, dass die Verschuldung dieser Art, bei der potenziell wertlose Staatsanleihen in den Bilanzen der Zentralbanken auf der Aktivseite verbucht sind, nicht in irgendeiner Form der Enteignung von Gläubigern und Vermögensbesitzern ihre Entsprechung finden wird.

Zwei mal Anti-STAF

Zwei Referendumskomitees – eines von links, eines bürgerlich – erhielten im „Abstimmungsbüchlein“ des Bundesrats Raum für ihre Argumente. Und so sieht die Raumaufteilung aus:

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Das bürgerliche Referendumskomitee erhält bescheidene sechs Zeilen, das linke Komitee beansprucht rund sechs mal mehr Raum. Darf man fragen, weshalb die zuständigen Behörden so etwas in Ordnung finden?

Auch inhaltlich fallen die Unterschiede auf: Auf den sechs Zeilen des bürgerlichen Komitees findet man in nüchternem Ton zwei gewichtige Sachargumente. Dagegen strotzt das linke Argumentarium nur so vor Polemik. Mit der Dämonisierung von Multis und Konzernen hat man beim Stimmvolk schon oft gute Erfahrungen gemacht, also haut man weiter frisch drauf los! Und die Schlagworte Steuerbschiss, Milliardenverluste und Steuergeschenke haben schon früher gut funktioniert. Wer weiss schon, dass sich die Firmensteuererträge von Bund, Kantonen und Gemeinden in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt haben und unseren Luxus-Wohlfahrtsstaat kräftig mitfinanzieren? Wer will sich schon mit Fakten herumschlagen, wenn es in unserer geheiligten direkten Demokratie auch mit Polemik geht!

Was wollen die Chinesen hinter dem Mond?

Die sensationellen Bilder vom chinesischen Roboter auf der Rückseite des Mondes haben im Westen einen mittleren Schock ausgelöst. Ob er für die wohlfahrtsstaatlichen Demokratien heilsam sein wird, ist aus politisch-institutionellen Gründen zu bezweifeln.

Was China seit der von Deng vor 40 Jahren angestossenen Systemreform praktiziert, hat Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman (bevor er vom Ökonomen zum Journalisten mutierte) in einem Aufsatz über den wirtschaftlichen Aufstieg der ostasiatischen „Tigerstaaten“ in einer einfachen Formel ausgedrückt: „deferred gratification“, auf Deutsch „aufgeschobene Belohnung“. Auch China betreibt ganz ausgeprägt „deferred gratification“. Die chinesische Bevölkerung verzichtet, ob freiwillig oder erzwungen, auf einen Teil der erarbeiteten Früchte, sodass die Volkswirtschaft dauernd hohe Sparüberschüsse produziert. Diese ermöglichen es dem Reich der Mitte und seinen Unternehmen, gleichzeitig im Inland in atemberaubendem Tempo die Infrastruktur auszubauen, im Ausland Investitionen zu tätigen, massiv aufzurüsten und in der Raumfahrt die finanziell klammen Grossmächte USA und Russland in absehbarer Zeit zu überholen.

Natürlich wachsen auch in China die Bäume nicht in den Himmel. In einer staatlich gelenkten Volkswirtschaft kommt es zwingend zu Verzerrungen, Fehlanreizen, Verschwendungen und entsprechenden Verlusten. Diese Relativierung chinesischer Erfolge ändert allerdings nichts an der Feststellung, dass unsere wohlfahrtsstaatlichen Demokratien unter Fehlanreizen für Politiker leiden. Für diese lohnt es sich, der Bevölkerung immer mehr soziale Wohltaten zu versprechen, was in vielen Ländern in eine permanente Schuldenwirtschaft mündete. In den wenigen Staaten, wo noch Überschüsse anfallen, werden diese vornehmlich wieder zum Ausbau des Sozialstaats verwendet, siehe Deutschland. Mit einem Wahlprogramm unter dem Motto „deferred gratification“ wäre in westlichen Demokratien kein Blumentopf zu gewinnen.

 

 

Echte Steuergeschenke im alten Korea

Im Nationalmuseum von Korea stiess ich gestern auf eine erstaunliche Herrscherfigur im alten Korea. Unter König Sejong wurden in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wichtige Erneuerungen angestossen und durchgeführt. Dieser „Ruler for the People“ wird an einer erläuternden Anschrift zu einem Bild wie folgt beschrieben (für besseres Bild dieses anclicken):

König Sejong „…performed a survey of public opinion to find ways to lessen taxes for the people.“ Man stelle sich mal so etwas in unserem modernen massiv umverteilenden Wohlfahrtsstaat vor. Steuersenkungen heissen bei uns „Steuergeschenke“ (für die Reichen), und mit dem Schreckwort „Steuerausfälle“ lässt sich meist jede noch so gut begründete Massnahme, welche die Staatseinnahmen schmälern könnte, verhindern.

Was ist der Unterschied zu früheren Zeiten? Der intransparente umverteilende Wohlfahrtsstaat mit progressiven Einkommenssteuern suggeriert einer Mehrheit, vom steuerfinanzierten staatlichen Segen mehr zu kriegen als man selber dafür bezahlt. Der vom System inzwischen umgepolte Mensch von heute hat Ansprüche an die Gesellschaft, und dass Andere dafür bezahlen sollen, hat sich in den Köpfen längst zur unangreifbaren Selbstverständlichkeit verfestigt. Ein solches System ist unreformierbar, weil die Blockademechanismen eingebaut sind. Ein Beispiel: Entlastungsmassnahmen unter einem progressiven Steuersystem begünstigen oft zwingend die oberen Schichten stärker als die grosse Mehrheit. Doch diese Mehrheit findet das unfair und stimmt dagegen, selbst wenn sie selbst auch profitieren würde.

Unternehmenssteuerreform: „Das kann man dem Stimmvolk nicht erklären.“

Die Vorlage einer Unternehmenssteuerreform (USTR III) wurde letztes Jahr vom Volk verworfen. 74 Prozent der in der VOTO-Nachbefragung befragten Stimmenden gaben an, die Vorlage sei schwierig zu verstehen gewesen. Man kann das ruhig so interpretieren, dass die überwiegende Mehrheit der Stimmenden die Steuerreform in ihren Einzelheiten nicht verstanden hatte, trotzdem stimmte, und zwar meist mit Nein. Entlarvend für das elitäre Urteil über die mangelnde politische Kompetenz des Stimmvolks behauptete das Referendumskomitee in seiner Abstimmungspropaganda sogar, 99 Prozent der Leute würden die Vorlage mit all den technischen Begriffen nicht verstehen. So war es nur folgerichtig, dass man den Leuten bei ihrer Meinungsbildung mit Schlagworten wie „Steuertricks“, „Milliardenausfälle“, „Steuerreform für die Konzerne“ und „Steuerbschiss“ nachhalf und damit auch Erfolg hatte (siehe auch Blogbeitrag unten).

Jetzt werkelt man in den Eidgenössischen Räten an einer neuen Vorlage herum, diesmal als Paket in „kreativer“ Kombination mit einer zusätzlichen AHV-Finanzierung. Heute vernahm man am Radio, verschiedene Kantone hätten gegen eine „Lex Zürich“ Einwände erhoben. Im jüngsten Entwurf soll nur der Kanton Zürich die sogenannte zinsbereinigte Gewinnsteuer einführen dürfen. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, zu was für waghalsigen Konstruktionen uns die stets drohendenen Referendumsrisiken und die föderalistischen Interessenverflechtungen nötigen, dann liegt er hier vor.

Im Radiobericht wurde der Ausdruck „zinsbereinigte Gewinnsteuer“ nicht ein einziges Mal verwendet, obwohl es genau darum ging. Schon in der USTR III-Vorlage hatte man vorsichtshalber den steuerlich wirksamen Zinsabzug auf überschüssiges Eigenkapital aus der Vorlage gestrichen. Dies geschah mit der umwerfend überzeugenden Begründung, die man aus verschiedenen Quellen hören oder lesen konnte: Die zinsbereinigte Gewinnsteuer ist dem Stimmvolk nicht zu erklären.

Da fragt man sich natürlich, was alles dem Stimmvolk bei anderen komplexen Vorlagen auch nicht erklärt werden kann!

Steuerreform 17: Kollateralschäden der direkten Volksrechte

Die auf billigste Polemik setzende Opposition des linken Lagers hat die Unternehmenssteuerreform III im Referendum vom Februar 2017 zu Fall gebracht. In einem Interview mit der NZZ sagte der Finanzwissenschaftler Bernard Dafflon (Universität Freiburg): „Der Text der Gegner ist reine Polemik auf sehr tiefem Niveau.“ Was er damit meinte, ist den Abstimmungserläuterungen des Bundesrats zu entnehmen, wo die wichtigsten „Argumente“ des Referendumskomitees gegen die Unternehmenssteuerreform III (USTR III) aufgeführt sind:

  • Nein zu undurchsichtigen Steuertricks
  • Nein zu neuen Milliardenlöchern
  • Nein zum erneuten Bschiss an der Bevölkerung
  • Ein paar Konzerne machen mit diesen Steuertricks Milliarden. Aber die Rechnung bezahlen wir alle.

Seit dem Schiffbruch der USTR III rotieren unsere Parlamentarier im Bestreben, unter dem Zeitdruck der von aussen vorgegebenen engen Reformfrist eine neue referendumsresistente Vorlage zusammen zu schustern. Anders kann man es leider nicht ausdrücken. Man ist gezwungen, den linken Forderungen nach Kompensation für angebliche Steuerausfälle entgegenzukommen. Das kann nichts Anderes heissen, als  linke Anliegen im Bereich der Sozialpolitik mit der Steuervorlage zu verknüpfen. Gemäss sda-Bericht in der NZZ vom 16. Mai hat sich die Kommission des Ständerats einstimmig auf den Grundsatz geeinigt, dass für jeden Steuerfranken, der durch die Steuervorlage 17 entfällt, ein Franken in die AHV fliessen solle. Bei der Berechnung stütze sich die Kommission auf die vorläufigen Umsetzungsprojekte der Kantone. Unter dem Strich würden sich die Steuerausfälle auf knapp zwei Milliarden Franken belaufen.

Es ist kaum zu fassen, zu was für unappetitlichen und volkswirtschaftlich schädlichen Kuhhändeln die direkten Volksrechte immer öfter zwingen. Die AHV hat mit der Besteuerung von Firmen schlicht nichts zu tun. Jeder von der Politik konstruierte Zusammenhang ist reinste Voodoo-Ökonomie. Die AHV mit solchen Mätzchen auf Kosten der Jungen und der noch nicht Geborenen notdürftig flicken zu wollen und nachhaltige Reformen damit einfach auf die noch längere Bank zu schieben, ist Populismus pur und einfach absurd. Und was die geschätzten Steuerausfälle betrifft: Wie sollen diese dann tatsächlich berechnet werden, um die Beträge zu bestimmen, die in die AHV fliessen sollen? Was solche statischen Milchbüchlein-Rechnungen wert sind, zeigt sich an der langfristigen Betrachtung der Unternehmenssteuererträge in der Grafik unten, die bereits in einem früheren Blogeintrag gezeigt worden ist (für schärferes Bild die Grafik anklicken):

Die Firmensteuererträge stiegen zwischen 1995 und 2014 von ca. CHF 8 Mrd. auf rund CHF 20 Mrd., trotz USTR I und II. Eine solche dynamische Entwicklung wäre eigentlich ein Grund, die Steuern zu senken. Zumindest sollte man angesichts eines solchen Wachstums von Steuereinnahmen mit dem alarmistischen Argument „Steuerausfälle“ etwas vorsichtiger umgehen.

Die Kollateralschäden der direkten Volksrechte werden zunehmend sichtbar, nur getraut es sich im selbsternannten Demokratieparadies Schweiz noch niemand, verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen. Das Paradebeispiel, wie primär linke Lobbies ein Thema kapern, um ihre Interessen durchzusetzen, sind die „flankierenden Massnahmen“. Dieses Projekt einer immer stärkeren, vornehmlich Gewerkschaftsinteressen dienenden Arbeitsmarktregulierung konnte dank dem Hebel der bilateralen Verträge mit der EU vorangetrieben werden. Die Bilateralen waren und sind immer wieder dem Risiko von Volksbefragungen ausgesetzt. Unter dem Schlagwort „Schutz gegen Lohndumping“ gelang es linken Interessen, immer mehr Regulierungen wie die erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen sowie ein massives und für die Gewerkschaften einträgliches Kontrollregime gegen „Lohndumping“ durchzusetzen.

All diese Versuche, dem Stimmvolk Vorlagen mit solchen Paketlösungen schmackhaft zu machen, zeigen vor allem auch, auf welch erschreckenden Mangel an ökonomischer Kompetenz man in der schweizerischen Referendumsdemokratie Rücksicht nehmen muss. Die Schweiz riskiert, mit solchen aus Angst vor Volksabstimmungen ausgehandelten faulen Kompromissen immer mehr von ihren bisherigen wirtschafts- und sozialpolitischen Vorteilen zu verspielen.

Voodoo-Ökonom Levrat

In einem Interview mit der NZZ am Sonntag vom 25. März zur Steuervorlage 17 (Unternehmenssteuerreform) bezeichnete SP-Ständerat und Parteipräsident Christian Levrat Finanzminister Ueli Maurers Argumentation als „Voodoo-Ökonomie“. Maurer hatte als Reaktion auf die Kritik an hohen Steuerausfällen wegen der Senkung der Gewinnsteuern auf den dynamischen Effekt der Steuerreform hingewiesen. Gemäss Modellrechnungen des Bundes erwartet man in der längeren Frist deutlich über eine Milliarde Franken zusätzliche Steuereinnahmen pro Jahr.

Dagegen argumentieren die notorischen Gegner von Steuersenkungen und Steuerwettbewerb immer rein statisch mit den unmittelbar zu erwarteten Einbussen, in diesem Fall angeblich pro Jahr 2,2 Mrd. Franken, die möglichst vollumfänglich „gegenfinanziert“ werden müssten. „Gegenfinanzierung“ ist einer dieser rituell verwendeten Begriffe aus dem Kampfarsenal linker Finanzpolitik. Im Publikum kommt man mit statischen Milchbüchlein-Rechnungen und Forderungen nach „Gegenfinanzierung“ gut an und kann damit auch Referenden gewinnen. Dies nicht zuletzt, weil ziemlich genaue Zahlen geschätzt werden können, die allerdings ökonomisch von beschränktem Wert sind. Dagegen sind die volkswirtschaftlich relevanten dynamische Effekte ein abstraktes Konzept und nur in einer grösseren Bandbreite quantifizierbar.

Wie eine ökonomisch fundierte Gegenfinanzierung von Unternehmenssteuerreformen (USTR I und II) durch langfristige dynamische Effekte aussieht, zeigt die unten stehende Grafik, welche die Entwicklung der Einnahmen von Firmen (juristischen Personen) zeigt  –  von rund 8 Mrd. Fr. 1995 auf ca. 20 Mrd. Fr. 2014.

(Für ein schärferes Bild auf die Abbildung klicken. Fehlerhinweis: Die vertikale Fr.-Skala muss mit dem Faktor 10 multipliziert werden  –  ein Fehler der Zeitung, aus der die Grafik kopiert wurde.)

Wenn also jemand Voodoo-Ökonomie betreibt, dann ist es Levrat. Das NZZaS-Interview enthält weitere Muster von linker Voodoo-Ökonomie, so etwa die Forderung, die Entlastung der systemwidrigen Doppelbesteuerung von Dividenden aus qualifizierten Beteiligungen sei wieder teilweise rückgängig zu machen. Oder die steuersystematisch unhaltbare Forderung von Levrat, man müsse „die Fehler der USTR II korrigieren, vor allem beim Kapitaleinlageprinzip. Auf diesem Weg schütten Firmen heute Milliarden komplett steuerfrei aus, dieses Leck müssen wir dringend schliessen.“ Auch das kommt im Publikum weitherum gut an, denn wer weiss schon, was das Kapitaleinlageprinzip ist bzw. dass die „steuerfreie“ Ausschüttung aus bereits früher versteuerten Mitteln erfolgt.

Nachbemerkung zur Steuervorlage 17: Weil die Kantone ihre Unternehmenssteuern senken müssen, erhalten die Kantone gemäss Vorlage mehr Geld aus der direkten Bundessteuer. Ihr Anteil wird von 17 auf 21,2 Prozent erhöht, was aktuell jährlich etwa 990 Millionen Franken entspricht. Eine bessere Alternative wäre es, wenn der Bund die Besteuerung juristischer Personen reduzieren würde und so den Kantonen mehr Spielraum für eigene Reformen böte. Wie die oben stehende Abbildung zeigt, haben ja die Einnahmen aus Unternehmenssteuern beim Bund deutlich am stärksten zugenommen. Dieser Weg wäre auch ganz im Sinne eines echt föderalistischen Staatsverständnisses.

UST-Reform III: Der Widmer-Schlumpf-Anti-Maurer-Effekt

Natürlich konnte eine Person vom Naturell von alt Bundesrätin Widmer-Schlumpf diese Gelegenheit nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen. Dass ausgerechnet der SVP-Bundesrat Maurer diese von Widmer-Schlumpf aufgegleiste Vorlage vertreten musste, erhöhte die Wirkung ihres „Blick“-Interviews. Nicht nur ihre Popularität als „Blocher-Killerin“ liess sich ausschlachten, sondern gleichzeitig auch noch die Abneigung vieler Wähler  –  bis weit ins bürgerliche Lager  –  gegenüber der SVP und ihrem Finanzminister. Diese emotionalen Motive summierten sich zu der überraschend klaren Ablehnung der Vorlage.

Bezeichnend für den Widmer-Schlumpf-Anti-Maurer-Effekt ist die Tatsache, dass gemäss einer Tamedia-Nachbefragung bloss 21 Prozent der BDP-Wähler für Maurers Vorlage, also gegen das Referendum, stimmten. Daraus lässt sich schliessen, dass sich viele Leute in Abstimmungen, die sachlich so komplex sind wie die UST-Reform III, einfach an der Position von ihnen politisch nahe stehenden Personen oder Parteien orientieren. Da bei Widmer-Schlumpf beim „Blick“-Interview selbstverständlich ein Rachemotiv mitspielte, übertrug sich dieses emotionale Element auf die Stimmabgabe von Leuten, die auf Widmer-Schlumpfs Äusserungen abstellten.

Dieses Referendum liefert auf allgemeiner Ebene eine Illustration für das Kosten-Nutzen-Kalkül, das Wähler gemäss dem US-amerikanischen Ökonomen Bryan Caplan anstellen. Die einzelne Stimme wiegt für das Endresultat so wenig, dass man die Teilnahme an Abstimmungen rational nur erklären kann, indem man das emotionale Element mit einbezieht. Die Menschen ziehen emotionalen Gewinn aus ihrer Stimme, gerade in so aufgeladenen Urnengängen wie diesem. Das Referendum bot Gelegenheit, dem SVP-Maurer, der SVP, „den Reichen“, den „Abzockern“, der „Wirtschaft“ oder den „Globalisierungsgewinnern“ eins auszuwischen. In Umfragen wird dies natürlich nicht zugegeben, sondern viele Leute plappern dann irgendwelche rational klingenden Propagandafetzen nach, etwa das diffuse Pauschalurteil, dass der Mittelstand die Steuerausfälle zu berappen habe. Aus den üblichen Nachbefragungen nach Abstimmungen kann man sich darüber ein gutes Bild machen, obschon die Interpretationen der Autoren jeweils politisch überkorrekt formuliert sind.