Verzerrte Kriminalstatistiken

In seinem heutigen Memo kommentiert Markus Somm vom „Nebelspalter“ die Daten der Ausländerkriminalität für Deutschland und die Schweiz. Er zeigt für die Schweiz eine „Rangliste des Grauens“. Der obere Teil der Tabelle mit den höchsten Anteilsquoten sieht so aus:

Als erstes europäisches Land liegt Rumänien auf Platz 11. Das entspricht durchaus der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.

Am untersten Ende der Tabelle befinden sich durchwegs europäsiche Länder mit rund drei bis zehn mal tieferen Quoten als die Länder oben.

 Ich habe schon bei verschiedenen Gelegenheiten darauf hingewiesen, dass eine solche Darstellung verzerrend ist, weil die Daten nicht normalisiert sind. Was heisst das? Die sozio-demografische Struktur der Ausländer ist gerade bei den problematischsten Herkunftsländern völlig anders als bei der deutschen oder schweizerischen Gesamtbevölkerung. Wenn man aus der einheimischen Bevölkerung jeweils die gleiche sozio-demografische Struktur simulieren würde, wären die Unterschiede in der Statistik bestimmt deutlich kleiner, allerdings ohne dass die Unterschiede ganz verschwinden würden.

Markus Somm macht eine solche Normalisierung für die deutschen Verhältnisse ansatzweise, indem er nur Daten von jungen Männern vergleicht. Jung und männlich, das sind immerhin zwei sozio-demografische Kriterien. Es gibt aber noch viele andere, zum Beispiel den Bildungsstand, die kulturelle Herkunft und Prägung, die Einkommensverhältnisse, die soziale Einbettung in die Gesellschaft etc. Qualitative Kriterien sind allerdings schwierig zu normalisieren. Eine gewisse Verzerrung wird also immer bestehen bleiben.

Ein Detail fällt auf: In der Schweiz haben die Briten die tiefste Kriminalitätsquote, niedriger als der Schweizer Durchschnitt. Kein Wunder, denn Briten sind sicher überdurchschnittlich oft Expats mit hoher Bildung und leitenden Jobs in der Schweiz, allenfalls noch Rentner, die hier ihren Lebensabend verbringen. Deren sozio-demographische Struktur weicht von der Struktur der Schweizer Bevölkerung auch ab, nur in der anderen Richtung als bei den Problemländern.

Was die Daten vor allem zeigen, ist die völlig aus dem Ruder gelaufene Gutmenschen-Migrationspolitik bzw. die Unfähigkeit der Politik und der Behörden, mit den bekannten und anhaltenden Problemen umzugehen, insbesondere indem Anreizsituationen durch eine harte, gleichsam „dänische“ Politik grundlegend verändert werden.

Untertauchen ist rational

Das Kosten-Nutzen-Kalkül von abgewiesenen Asylbewerbern

Wer regt sich nicht auf über die abgewiesenen Asylbewerber, die untertauchen, bevor sie ausgeschafft werden können! Noch mehr kann man sich aufregen, wenn man aus den Medien erfährt, was der Hintergrund der Wahnsinnstat des Solinger Messermörders ist. Auf nzz.ch las man am 25. August zu dieser Tragödie einen Abschnitt, der das ganze Versagen einer „moralischen“ Migrationspolitik beleuchtet, die aus der Situation heraus immer wieder die eigenen Regeln bricht:

Nach «Spiegel»-Informationen hätte der mutmassliche Täter längst ausgeschafft werden sollen. Nach den sogenannten Dublin-Regeln des europäischen Asylsystems wäre Bulgarien für ihn zuständig gewesen. Die Abschiebung sei gescheitert, weil der Syrer am Tag der geplanten Ausreise in seiner Flüchtlingsunterkunft nicht angetroffen worden und danach untergetaucht sei. Eine Ausschreibung zur Festnahme habe es wohl nicht gegeben. Ende 2023 sei dem Syrer von Deutschland subsidiärer Schutz gewährt worden.

Statt sich aufzuregen, kann es nützlich sein, einmal den ökonomischen Blick auf die Kosten-Nutzen-Rechnung bzw. die spezifischen Anreizsituationen diverser Akteure des Migrationsphänomens zu richten. Es ist hier die Rede von der Wirtschaftsmigration, nicht von echten Kriegs- und Katastrophenflüchtlingen. Bekanntlich gibt es inzwischen eine umfassende Migartionsindustrie, in der es für die Nachfrage nach Süd-Nord-Migration eine wahre Lieferkette von Angeboten gibt, beginnend beim mafiösen Schleppergewerbe mit seinen Unterabteilungen. Um in den bevorzugten Zielländern nördlich der Alpen anzukommen, braucht es auch die Schengen-Dublin-Regeln verletzende oder gar bestechliche Grenzbehörden. Einmal im Zielland angekommen, stehen den Asylbewerbern alle Angebote der einheimischen Flüchtlingsindustrie offen: hilfreiche Flüchtlings-NGO, spezialisierte juristische Angebote für Einsprachen gegen Ausweisungsentscheide und teilweise willfährige Gerichte und Migrationsbehörden.

Das Kosten-Nutzen-Kalkül von abgewiesenen Asylbewerbern ist nicht schwierig nachzuvollziehen. Der Wirtschaftsmigrant wägt die Lebens- und Arbeitsaussichten in seinem von Staatsversagen gebeutelten Heimatland gegen die Aussicht auf ein besseres Leben in Europa ab. Obwohl eine solche Rechnung nicht objektiv zu machen ist und illusionäre Erwartungen mitspielen dürften, machen x Tausende aus den bekannten Herkunftsländern Jahr für Jahr diese Kosten-Nutzen-Rechnung. Wie viele die Rechnung auch machen und dann zuhause bleiben, wissen wir nicht. Sicher gibt es auch viele, denen die Risiken einer Schlepperreise ins gelobte Europa zu hoch sind.

Nun machen wir einen Sprung und lassen unseren Migranten im Zielland ankommen und ein Asylgesuch stellen. Dieses wird umgehend abgelehnt, und der abgewiesene Asylbewerber erhält den Ausschaffungsentscheid. Vor welcher Situation steht er jetzt? Er hat sein gesamtes erspartes Geld in die illegalen Transitaktivitäten gesteckt, eine ungemein beschwerliche Reise auf sich genommen und sich dabei höchsten Risiken ausgesetzt. Und jetzt soll diese ganze monetäre und nicht-monetäre Investition in ein neues Leben durch einen abschlägigen Asylentscheid und die Ausschaffung zunichte gemacht werden! Alles für die Katze!

Hand aufs Herz: Wer von uns käme in einer solchen Situation nicht auch auf die Idee, unterzutauchen? Zumal man als Untergetauchter über seine guten Chancen auf einen schliesslichen Verbleib im bevorzugten Zielland bestens informiert ist. Nicht nur berichten die Medien regelmässig über die lächerlichen Zahlen von geglückten Abschiebungen. Die Widerspenstigen können sich für Beratung über das optimale Verhalten im Widerstand gegen eine Ausschaffung auch vertrauensvoll an Institutionen des hiesigen Flüchtlingsgewerbes wenden.

Faesers Messerverbot: Typisch links-grüne Logik

Dieses Messer dürfte noch knapp durchgehen

Die Medien berichten, die deutsche Innenministerin Nancy Faeser wolle wegen der ansteigenden Zahl der Messerangriffe das Messerverbot verschärfen. Nur noch Messer mit Klingen bis zu 6 cm Länge sollen die Leute auf sich tragen dürfen. Die Zeitung „Welt“ schreibt dazu: „Ein Messerverbot kann keine geordnete Asylpolitik ersetzen.“

Doch die SPD-Innenminsterin bewegt sich mit ihrem Projekt ganz auf der Linie links-grüner Logik, die einer „end-of-the-pipe“-Politik Vorschub leistet. „End-of-the-pipe-Massnahmen sind nachgeschaltete Eingriffe, die unerwünschte Symptome unterdrücken wollen, aber an deren Ursachen nichts ändern. Der oben zitierte Satz aus der „Welt“ beschreibt das Phänomen in kürzester Weise. Die Merkel’sche Asylpolitik der Willkommenskultur genoss im links-grünen Spektrum bekanntlich am meisten Sympathien. Die Ampel-Koalition hat daran noch nichts Wesentliches geändert.

Ein anderes Muster von „end-of-the-pipe“: Die von Links-grün am überzeugtesten gepushte e-Mobilität gehorcht der Logik, was keinen Auspuff hat, ist gut für das Klima und die Umwelt. Alle vorgelagerten und nicht direkt sichtbaren Umweltbelastungen der e-Mobilität, nicht zuletzt auch jene jenseits der arbiträr gezogenen nationalen Systemgrenzen, werden ausgeblendet. Politisch ist dies insofern rational, als es für eine solche Sichtweise ein politisches Marktsegment gibt, das es zu bedienen gilt. Einer immer noch erstaunlich grossen Zahl von Menschen erscheint die links-grüne Logik plausibel.

„End-of-the-pipe“ sind im Übrigen auch die von US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris angedrohten Preiskontrollen für Lebensmittel. Ein typisch linkes Rezept – garniert mit dem latenten oder offen geäusserten Vorwurf des „Wuchers“. Wo Harris auf dem politisch-ideologischen Spektrum anzusiedeln ist, wissen wir inzwischen.

Die Armeeausgaben unter der Knute der starren Schuldenbremse

Dieser Text erscheint in der Weltwoche vom 08.24 vom 22. Februar 2024 in einer redigierten Version unter dem Titel „Friedensdividende für die Armee“.

Neben der Schuldenbremse gilt auch die Staatsmaxime der bewaffneten Neutralität, die man wegen ihres historischen Gewichts als hierarchisch übergeordnet betrachten kann. Als Folge der Beschlüsse des Wiener Kongresses von 1815 ergeben die Begriffe „bewaffnet“ und Neutralität nur in Verbindung den beabsichtigten Sinn. ChatGPT erklärt: „Der Wiener Kongress legte fest, dass die Neutralität der Schweiz eine „bewaffnete Neutralität“ sein würde. Dies bedeutete, dass die Schweiz zwar als neutraler Staat anerkannt wurde, von ihr aber auch erwartet wurde, dass sie über eine gut ausgerüstete und fähige Armee zur Verteidigung ihrer Neutralität verfügte.“ Nur mit dieser Verpflichtung ist die Schweiz von den damaligen Grossmächten in die Neutralität entlassen worden.

Daran erinnerte letztes Jahr, wohl ohne den historischen Bezug zu kennen, der Botschafter der USA in Bern, Scott Miller, als er in einem NZZ-Interview meinte, die Nato sei wie ein Donut mit der Schweiz als Loch in der Mitte. Donut hin oder her, die Aussichten für den enorm teuren Wiederaufbau einer glaubwürdigen Armee sind düster. Eine zum Fetisch gewordene Schuldenbremse steht im Weg. Nach jüngsten Meldungen soll sich der Wiederaufbau der Armee bis ins Jahr 2045 hinziehen. Dass der Begriff „express“ in der politischen Realität der Schweiz mit ihrem oft wirren Institutionengeflecht keinen Platz hat, wissen wir nicht erst seit dem Stocken von Solar- und Wind-Express. Doch die starre Schuldenbremse stur auf die überfällige Nachrüstung der Armee anzuwenden, ist nicht nur sicherheitspolitisch fahrlässig und ökonomisch fragwürdig, sondern von den Prioritäten her auch irgendwie verkehrt.

Die Starrheit der Schuldenbremse lässt sich volkswirtschaftlich kaum begründen. Zwischen 2005, als die Schuldenbremse zu wirken begann, bis 2022 sank die Verschuldung des Bundes – ohne die ausserordentlichen Corona-Ausgaben – von rund CHF 130 Mrd. um gut CHF 30 Mrd. auf knapp unter CHF 100 Mrd. Um die Militärausgaben auf das international eher bescheidene Niveau von einem Prozent des BIP anzuheben, hätte die Schweiz gemäss Statista-Daten zwischen 2012 und 2022 zusätzlich CHF 22,5 Milliarden in die Armee stecken müssen. Nimmt man die Jahre von 2005 bis 2012 dazu, wozu Statista-Daten fehlen, landet man auch bei etwa CHF 30 Mrd.. Der Schuldenabbau des Bundes von gut CHF 30 Mrd. stimmt also mit der eingestrichenen Friedensdividende überein.

Für die Wiederherstellung einer glaubwürdigen Verteidigungsfähigkeit waren aus offiziellen Quellen Beträge von CHF 40 Milliarden im Umlauf. Eine Überschlagsrechnung ergibt Folgendes: Erhöhten sich die Nettoschulden um CHF 40 Milliarden, stiege die Schuldenquote des Bundes um etwa fünf Prozentpunkte und die Schuldenquote aller staatlichen Ebenen um zwei bis drei Prozentpunkte. Damit befände sich die Schweiz noch längst unter den am niedrigsten verschuldeten Demokratien. Auch an der komfortablen Situation des Bundes als Kreditnehmer mit Schuldzinsen deutlich unter einem Prozent würde sich kaum etwas ändern.

Investive Staatsausgaben sollen in der Zukunft einen produktiven Nutzen, d.h. eine Rendite bringen. Man denke etwa an wirksame Ausgaben für die Bildung oder die Infrastruktur. Die „Rendite“ gesteigerter Armeeausgaben ist die Erhöhung der militärischen Sicherheit. Es ist volkswirtschaftlich kaum sinnvoll, dem Bund mit Rücksicht auf eine starre Schuldenbremse eine Kreditaufnahme zu Zinsen nahe null zu verbieten, wenn damit Investitionen in die Zukunft des Landes verhindert werden. Aus dieser Sicht gilt auch das einseitige Argument nicht, künftige Generationen hätten später die Lasten unseres Schuldenmachens zu tragen. Sie sind es ja gerade, die vom Nutzen sinnvoller Zukunftsprojekte profitieren.

Natürlich garantiert mehr Geld allein noch nicht, dass die Schweiz wieder eine glaubwürdige Verteidigungsarmee erhält. Es braucht auch qualitative Reformen, speziell im Bereich der komplizierten und bürokratischen Beschaffung. Dazu zählt nicht zuletzt der Verzicht auf den üblichen föderalistisch verbrämten Firlefanz um Kompensationsgeschäfte, der Rüstungsgeschäfte verteuert und verzögert.

Abgewrackte Armee – Kollateralschaden der Schuldenbremse

Dieser Text erschien am 15. Dezember als Gastkommentar in der Rubrik „Tribüne“ der NZZ und gleichentags in der Online-Ausgabe nzz.ch.

In der Schweiz ist man mächtig stolz auf die vom Stimmvolk beschlossene Selbstbindung gegen das Schuldenmachen im Bundeshaushalt. Der betreffende Verfassungsartikel 126 wurde in der Volksabstimmung vom 2. Dezember 2001 mit 85 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Die Eidgenössische Finanzverwaltung (EFV) erklärt die Schuldenbremse so: «Die Schuldenbremse soll den Bundeshaushalt vor strukturellen (chronischen) Ungleichgewichten bewahren und damit verhindern, dass die Bundesschuld ansteigt wie in den 1990er Jahren. Gleichzeitig gewährleistet sie eine antizyklische Fiskalpolitik, indem sie in Abschwungphasen begrenzte konjunkturelle Defizite zulässt und in Phasen der Hochkonjunktur Rechnungsüberschüsse verlangt.»

Für die überwältigende Zustimmung zur Schuldenbremse gibt es plausible Erklärungen. Erstens haben viele prinzipiell den Eindruck, ihr Steuergeld werde aus ihrer Sicht auch für unnütze Zwecke verschwendet. Zweitens wirkte bei dieser Volksabstimmung der «Schleier der Unwissenheit» (John Rawls). Niemand wusste im Voraus, wie sie oder er persönlich durch die Schuldenbremse betroffen sein würde. Diese Voraussetzung ist für Volksabstimmungen untypisch.

In der Zeit seit der Einführung der Schuldenbremse bis 2019 konnte die Verschuldung des Bundes dank strukturellen Überschüssen abgebaut werden. Gemäss EFV gelang dies vor allem, weil die Ausgaben tiefer ausfielen als budgetiert. Überschüsse sind aber nicht per se positiv. Sie können dadurch entstehen, dass Ausgaben für wichtige Vorhaben in die Zukunft verschoben werden. Beispielhaft dafür stehen die Altersvorsorge und das Gesundheitswesen inklusive Alterspflege. Mit der Energiewende, das heisst der Priorisierung erneuerbarer Energie, entstehen neue, noch kaum verlässlich bezifferbare Ansprüche an den Bundeshaushalt. So ist es kein Wunder, dass der Bund gerade in jüngster Zeit vor wachsenden strukturellen Defiziten warnt.

Als eine der grössten Fehlleistungen unseres politischen Systems erweist sich heute die skandalöse Vernachlässigung der militärischen Sicherheit. Sie ist ein idealtypisches öffentliches Gut und ist deshalb eine der prioritären Staatsaufgaben. Hier gab es jedoch keine der üblichen Blockaden aus der Unvereinbarkeit politischer Positionen wie bei drängenden Reformen der Altersvorsorge oder des Gesundheitswesens, sondern es herrschte quer durch das politisch-ideologische Spektrum eine opportunistische Grundstimmung für Einsparungen.

Damit gelangen wir zum Stichwort Crowding-out. Crowdingout bezeichnet dieVerdrängung von Notwendigem in Konkurrenz mit anderen Ansprüchen durch eine gesetzlich oder politisch vorgegebene Obergrenze. Wenn gesetzlich festgeschriebene Ansprüche – oft sind es sozialpolitische Ansprüche – oder andere, die politisch opportun sind, die Vorgaben der Schuldenbremse strapazieren, werden vorzugsweise die unpopulären Ausgaben beschnitten. Das Armeebudget gehört fast in allen Parteien zu diesen unpopulären Bereichen, weil sich mit dem Einsatz für höhere militärische Ausgaben keine Wahlen gewinnen lassen. Jetzt droht der grossartig verkündete Aufwuchs der Armee auf ein Ausgabenniveau von jährlich einem Prozent des BIP unter dem Druck wachsender Defizite schon wieder zurückgefahren und zeitlich gestreckt zu werden.

Das Crowding-out wirkt asymmetrisch zugunsten gebundener Konsumausgaben mit gesetzlichem Anspruch. Zurückgestellt werden primär Investitionen, also Ausgaben, deren Nutzen in der Zukunft anfällt. Hier gibt es meist weder gesetzliche Ansprüche noch fixe zeitliche Vorgaben. Nicht nur die Ausgaben für die militärische Sicherheit sind betroffen. Aus heutiger Warte ist auch klar, dass die grossen Infrastrukturprojekte in den Sektoren Verkehr und Energie nicht so wie zeitlich geplant realisiert werden können. Die Verdrängung von Vorhaben mit positiver Langzeitwirkung durch konsumtive Staatsausgaben nimmt der Schuldenbremse, so wie sie in der Praxis funktioniert, viel von ihrem Heiligenschein.

Die schiefen Analogien von Roger Köppel

Eine andere Sicht zur Rolle der USA im Ukraine-Krieg

In seinen «Weltwoche daily»-Podcasts verwendet Roger Köppel, der engagierte Gegenredner gegen den Medien-Mainstream (alle Medien ausser der Weltwoche), immer wieder schiefe Analogien. Er will damit unter anderem ausdrücken, dass die USA genauso skrupellos Machtpolitik betrieben oder noch betreiben wie die Russen oder die Chinesen.

Ganz schief ist zum Beispiel die regelmässig vorgebrachte rhetorische Frage, wie wohl die USA reagieren würden, wenn in mexikanischen Gewässern vor der Küste der USA chinesische oder russische Flottenverbände kreuzen würden – also genau so wie die Pazifik-Flotte der USA in den Gewässern vor China und Russland.

Welchem demokratisch verfassten Land in der Nachbarschaft der USA würde es wohl einfallen, die Chinesen oder die Russen zum Schutz vor den Machtgelüsten der USA einzuladen? Höchstens Diktaturen wie Venezuela oder Kuba (wie in den 1960er Jahren bereits gehabt) könnten versucht sein, einen solchen Machtpoker anzuzetteln.

Dagegen fühlen sich im Fernen Osten mehrere demokratische Länder von höchster weltwirtschaftlicher Bedeutung wie Japan, Südkorea und Taiwan völlig berechtigt von den latent aggressiven Ambitionen der chinesischen und russischen Autokratien bedroht und sind heilfroh über die militärische Präsenz der amerikanischen Schutzmacht. Und weshalb gehört auch Vietnam zu diesen Staaten, trotz Vietnamkrieg mit US-amerikanischen Kriegsverbrechen?

Eine andere Sichtweise, die noch zu begradigen wäre, betrifft die Kritik an der Dominanz der US-amerikanischen Interessen im Verhältnis Europas zu Russland.

Es ist hinlänglich bekannt und wurde von amerikanischen Regierungen auch immer wieder bemängelt, dass es sich die europäischen Wohlfahrtsstaaten nach dem Zerfall der Sowjetunion unter dem militärischen Schutzschirm der USA bequem eingerichtet und ihre Wohlfahrtsstaaten fleissig auf Kosten ihrer Militärbudgets ausgebaut haben – Merkel-Deutschland ganz zuvorderst.

Die Folge ist, dass die Schlagkraft der Nato weitestgehend von den Ressourcen der USA abhängig ist. Deshalb ist es völlig unangebracht und scheinheilig, sich als Europäer über die dominierende amerikanische Perspektive in der Auseinandersetzung mit Russland zu beklagen, einem Russland, das für die angrenzenden demokratischen Nachbarländer angesichts historischer Erfahrungen und bereits getätigter russischer Annexionen in jüngerer Zeit eine ständige Bedrohung darstellt.

Dieser Text erschien in einer leicht gekürzten Fassung am 12. November auf Weltwoche online und löste 236 Kommentare sowie zahlreiche „dislikes“ aus.

Risikobetrachtungen zu „Fukushima“ und Beznau

Im Dezember 2020 meldete eine Lokalzeitung aus der Region der KKW Beznau: „Die beiden KKW Beznau gingen diese Woche vom Netz, weil bei einer Nachweisprüfung für die Erdbebensicherheit festgestellt wurde, dass bei zwei Notstandsdieseln die Schockabsorber fehlten.“

Diese Meldung bildete den Ausgangspunkt eines Beitrags auf volldaneben.ch (hier) und einer nachfolgenden langen Kontroverse zwischen den Strahlen- und KKW-Experten Walter Rüegg („Atombefürworter“) und Markus Kühni („Atomgegner“). Auf den im Blog publizierten ersten polemischen Kommentar von Kühni antwortete Rüegg ausführlich, woraus dann eine teils sehr technische Auseinandersetzung entstand. Diese Debatte kann hier wegen ihrer Länge nicht wiedergegeben werden. Die beiden Hauptargumente von Markus Kühni habe ich so verstanden:

  1. Eine regulatorische Begrenzung des Unfallrisikos ist nicht akzeptabel, weil damit „Super-GAU“-Ereignisse nicht gedeckt sind. Es gibt praktisch keine Begrenzung nach oben (was die Regulierung zu gesellschaftlich akzeptierten Kosten natürlich erschwert bis verunmöglicht).
  2. Bei der radioaktiven Strahlung gilt für die Vorsorge das LNT-Prinzip (Linear No Threshold). Die Schädlichkeit der Strahlung beginnt ab null und steigt linear mit zunehmender Dosis. Es gibt deshalb keinen gesundheitlich unbedenklichen Grenzwert, sei er noch so tief.

Aufgrund dieser fundamentalistischen Voraussetzungen gemäss einem extremen Vorsorgeprinzip mit Risiko äusserst nahe null würde nicht nur die Kernenergie sondern jede nutzbare Form von Energie unbezahlbar. Und würden wir in allen gesellschaftlichen Bereichen der Regulierung ein Vorsorgeprinzip mit dieser Risikoabwägung zugrunde legen, wäre eine solche Gesellschaft gar nicht (über)lebensfähig.

Walter Rüegg, Dr.sc.nat. ETH und früherer Chef Strahlenschutz der Armee, hat seine wichtigsten Argumente der Debatte mit Markus Kühni, für ein Laienpublikum verständlich, nachstehend noch einmal zusammengefasst.

Sieben hintereinander geschaltete Sicherheitsbarrieren

Bei eine Katastrophe wie in Fukushima oder Tschernobyl muss immer eine ganze Reihe von Barrieren hintereinander versagen. Gerade weil eine Barriere versagen kann (z.B. ein zu niedriger Tsunami-Schutzwall), ist es wichtig, dass eine ganze Reihe von anderen Barrieren vorhanden ist. Grosse Mengen radioaktiver Substanzen wären in Fukushima nicht ausgetreten wenn eine oder mehrere der folgenden Barrieren existiert und gehalten hätten:

1. 20m-Tsumami-Schutzmauer (heute in Japan bei den gefährdeten KKW nachgerüstet). Oder Kraftwerk mindestens 20 m über Meer gebaut. Beznau: Entsprechender Schutz gegenüber einem Superhochwasser. Versagt diese Barriere, besteht die Gefahr, dass die normale Kühlung ausfällt. Tritt dies ein (auch aus anderen Gründen möglich), muss die nächste Barriere halten:

2. Zwei redundante, schwer verbunkerte, überflutungs- und flugzeugabsturzsichere Notstände mit Notstromdiesel, eigener Wasserfassung, eigene Kühlsysteme und eigener Stromverteilung. Versagt auch diese Barriere:

3. Sofort verfügbare zusätzliche erdbeben- und überflutungssichere Notgeneratoren (sog. SAM-Generatoren). Fallen auch diese aus, droht in wenigen Stunden eine Kernschmelze. Um dies zu verhindern, gilt es, mit normalen Feuerwehrpumpen zu kühlen, dazu muss der Druck im Reaktorgefäss reduziert werden:

4. Gut gefilterte Druckablassung (allfällige Radioaktivität wird zurückgehalten), auch rein manuell durchführbar und parallel mit Berstscheibe automatisch ausgelöst. Zu hoher Druck kann auch mechanische Strukturen beschädigen und so Lecks erzeugen (wie in Fukushima).

5. Anschliessend kann mit Feuerwehrpumpen an verschiedenen vorbereiteten Anschlüssen Wasser eingeleitet werden, aus einem Wasserreservoir, aus dem Grundwasser, aus einem Fluss (Aare) oder im Notfall aus dem Meer (Fukushima). 10 l/s genügen um eine Kernschmelze zu verhindern, und jede Feuerwehrpumpe kann das. Nach einem Tag genügen 2 l/s. Zur Not kann auch das gesamte Containment unter Wasser gesetzt werden.
Falls dies auch nicht funktioniert (z.B. erschiesst eine Terroristenarmee alle Schutz- und Einsatzkräfte und holt die Helikopter mit zusätzlichem Notmaterial vom Himmel), kann es zu einer Kernschmelze mit Wasserstofferzeugung kommen. Dies ist immer noch nicht gefährlich für die Umgebung. Erst bei einer Wasserstoffexplosion könnte es kritisch werden. Explosionen können Strukturen undicht machen. In Fukushima sind nach den Wasserstoffexplosionen grosse Mengen radioaktiven Fallouts ausgetreten.

6. Um eine Wasserstoffexplosion zu verhindern, müssen passive Wasserstoffrekombinatoren und/oder aktive Zünder vorhanden sein. Falls diese Mittel versagen (nicht so einfach, ohne die Naturgesetze zu verletzen):

7. Ein modernes Containment (die äusserste Hülle aus meterdickem Stahlbeton) hält eine Wasserstoffexplosion aus (wie 1979 geschehen, nach der Kernschmelze in Three Mile Island), falls nicht, kann das Containment undicht werden, und grössere Mengen Radioaktivität können in die Umwelt entweichen.

Zusätzliche redundante, schwer verbunkerte Notkontrollräume mit eigener Instrumentierung und Batterien verhindern bei einem «Station Blackout» einen Blindflug. Dieser erwies sich in Fukushima als tragisch und trug massgeblich zur Verzögerung der Einleitung von Meerwasser bei (TEPCO verdrängte die Gefahr einer Kernschmelze). Eine solche Prozedur benötigt auch klare Pläne, Kompetenzen und muss geübt werden. Übrigens: In Fukushima mussten sich zwei Reaktoren einen normalen Kontrollraum teilen.

Folgen eines „Fukushima»-Falls in Beznau

Im Gegensatz zu Fukushima ist Beznau dank Nachrüstungen in Milliardenhöhe mit all diesen oben erwähnten Barrieren ausgerüstet, grösstenteils schon seit den 90er-Jahren.

Erst wenn bei einer Katastrophe sämtliche Barrieren hintereinander versagen (vor allem auch das massive Stahlbeton-Containment), kann es zu einer grösseren Abgabe von Radioaktivität in die Umgebung kommen. Wie würde sich eine betreffend Verstrahlung Fukushima-ähnliche Katastrophe am Standort Beznau auswirken? Wird die Bevölkerung nicht evakuiert, müsste man im verstrahlten Gebiet, pessimistisch gerechnet, in den nachfolgenden 100 Jahren mit insgesamt rund 1000 Todesopfern rechnen, die meisten davon durch ein leichtes Ansteigen der Krebsrate im Alter um einige %. Allerdings wird man einen solchen Anstieg statistisch kaum nachweisen können, er geht in den natürlichen Schwankungen der Krebsrate unter.

Im Schnitt sind dies 10 Todesopfer pro Jahr. Jeder Todesfall ist einer einer zu viel, doch es gilt die Relationen zu wahren. Erstens ist dieses Risiko sehr hypothetisch. Es müsste zuerst ein Mega-Ereignis stattfinden, z.B. ein gewaltiges Erdbeben oder eine noch nie dagewesene Überschwemmung. Danach müssten nacheinander sämtliche oben beschriebenen Sicherheitsbarrieren und Katastrophenmassnahmen versagen. Alles in allem ist dies extrem unwahrscheinlich. Absolut sicher ist hingegen, dass bei einem solchen Mega-Ereignis grössere Teile der Schweiz zerstört wären, mit 4- bis 5-stelligen Opferzahlen. Sind wir darauf vorbereitet?

Zweitens wären die Folgen – 10 Todesfälle pro Jahr bei einer Verstrahlung wie in Fukushima – im Vergleich zu den alltäglichen, “todsicheren” Risiken in unserem Land winzig: 2000 Todesfälle/Jahr wegen Luftverschmutzung, 2500 Todesfälle/Jahr aufgrund vermeidbarer Fehler in Spitälern, 3900 Todesfälle/Jahr aufgrund von Unfällen und Gewalteinwirkungen.

Entsprechend dem Risikoverhältnis erwarte ich bei diesen realen Risiken eine mindestens 100-mal aufwändigere und aggressivere Kampagne verglichen mit dem Kampf gegen Radioaktivität und Kernenergie. Allerdings ist mir klar, dass eine solch absurde Sicherheits-Strategie, die sich am Sicherheitswahn im Bereich der Kernenergie orientiert, unbezahlbar wäre. Denn jede zusätzliche Einheit an Sicherheit verursacht progressiv steigende Kosten.

Konzentrieren wir uns zuerst auf die grossen, real existieren Risiken! 

Die heute weit verbreitete, extreme Verzerrung der Risikowahrnehmung bei radioaktiver Strahlung – ohne Vergleich mit anderen Risiken – hat zu unsinnig tiefen Grenzwerten geführt, tiefer als die natürliche Strahlung! Diese Grenzwerte zwangen die zuständigen Behörden nach den Unfällen von Fukushima und auch Tschernobyl zu so unnötigen, geradezu menschenverachtenden Massnahmen wie die Evakuierung von Menschen aus ländlichen Gebieten in städtische Regionen mit hoher Luftverschmutzung. Die Luftverschmutzung, gerechnet mit den allgemein anerkannten offiziellen Risikofaktoren, wirkt schlimmer als die Strahlung. Dieses Problem ist den Wissenschaftlern schon lange bekannt.

Und schliesslich ist zu fragen: Könnten auch bei intaktem Containment grössere Mengen radioaktiver Stoffe austreten? Natürlich nicht, denn dies ist ja der Zweck der massiven äusseren Stahlbeton-Hülle. Ohne grössere Lecks im Containment können wir die kleinen Mengen von abgegebenen radioaktiven Substanzen schlicht vergessen. Tatsache ist, dass alles um uns herum ordentlich radioaktiv ist (auch wir), mit starken Variationen. Erst wenn die zusätzlichen Mengen aus einem KKW die natürlichen Mengen/Variationen/Dosen stark überschreiten, sollten wir uns Sorgen machen. Und dies ist erst bei einem Bruch des Containments möglich.

10 Jahre „Fukushima“: Haben wir daraus gelernt?

Von Walter Rüegg und Hans Rentsch*

Vor fast genau zehn Jahren, am 11. März 2011, ereignete sich nach einem selbst für Japan gewaltigen Erdbeben mit nachfolgendem Tsunami der Reaktorunfall von Fukushima. In Europa löste die Reaktor-Explosion einen wahren Medien-Tsunami aus. In der Schweiz wurde aber nicht einfach über die Ereignisse in Japan berichtet, sondern diese wurden vielfach zum Anlass genommen, um die Risiken der eigenen AKW und die Wünschbarkeit eines „Atom-Ausstiegs“ in den Vordergrund zu rücken.

Im Mai 2011, also kaum zwei Monate nach dem Reaktorunfall, beschloss der schweizerische Bundesrat, schrittweise aus der Kernenergie auszusteigen. Die Bevölkerung stand noch voll unter dem Eindruck der Bilder der Reaktor-Explosion. Auch waren die Leute durch die ausstiegsgeneigten Berichte in den hiesigen Medien konditioniert. Der Zeitpunkt für eine Abkehr von der Kernenergie war somit günstig, hatte man doch mit Sicherheit eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Für die CVP, die im Abwärtstrend befindliche Partei der zuständigen Bundesrätin und Energieministerin Doris Leuthard, spielten wohl auch noch die im Herbst anstehenden Wahlen ins Kalkül hinein.

Die eidgenössischen Räte sanktionierten später den Ausstiegsentscheid des Bundesrats. Im Referendum vom Mai 2017 stimmte auch das Stimmvolk dem neuen Energiegesetz zu. Dort steht im Anhang der Passus „Rahmenbewilligungen für die Erstellung von Kernkraftwerken dürfen nicht erteilt werden.“, also ein Verbot zum Bau neuer AKW. Gemäss VOTO-Analyse war der endgültige Ausstieg aus der Kernenergie das wichtigste Abstimmungsmotiv der Befürworter des Energiegesetzes.

Eine alternative Politik: Aus dem „worst case“ lernen

Statt überstürzt die „Energiewende“ mit dem Ausstieg aus der Kernenergie auszurufen, hätte man aus „Fukushima“ erst einmal viel lernen können. Der Fall steht für einen „worst case“ wie er sich kaum irgendwo auf der Welt wiederholen könnte. Auslöser war ein Erdbeben der Stärke 9 bis 9,1 auf der Momenten-Magnituden-Skala (Mw). Diese heute gebräuchliche Skala ist logarithmisch, was bedeutet, dass die Stärke des Bebens exponentiell mit dem Skalenwert steigt. Dieses Tōhoku-Erdbeben gilt gemäss Wikipedia als das stärkstes Beben in Japan seit Beginn der Erdbebenaufzeichnungen. Schon vor dem Tsunami blieb praktisch kein Gebäude im betroffenen Gebiet stehen. Dazu kommt, dass das von einer 14 Meter hohen Tsunamiwelle beschädigte AKW eine der ältesten und nicht nachgerüsteten Anlagen aus den 1960er-Jahren ist. Diese war auch noch weniger gut gegen Tsunamis geschützt als ein zweites, etwas neueres AKW in wenigen Kilometern Entfernung, das unbeschädigt blieb.

Es braucht schon viel Phantasie, um aus diesen spezifischen Ausgangsbedingungen eines japanischen „worst case“ Folgerungen für vergleichbare Risiken in schweizerischen AKW abzuleiten. Noch aufschlussreicher für eine überlegte und sachlich abwägende Energiepolitik wäre es aber gewesen, man hätte vor politischem Aktivismus die Folgen der Reaktor-Explosion (Strahlenopfer) und der Massnahmen (Evakuation) analysiert.

Wie gefährlich sind radioaktive Strahlen?

Die biologische Wirkung eines Giftstoffes hängt von der Dosis ab. Bei radioaktiven Strahlen wird diese in Sievert (Sv) gemessen. 5 Sv auf einen Schlag sind meistens tödlich, doch was bewirken kleinere Dosen? Die gründlichen Untersuchungen der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki sind unsere beste Wissensquelle: Ab etwa 0.1 Sv scheinen die ersten Langzeiteffekte aufzutreten (1 Prozent Erhöhung der Krebstodesrate im Alter). Ab rund 1 Sv leidet man unter der Strahlenkrankheit, mit Symptomen ähnlich wie bei einer starken Chemotherapie.

Wird die gleiche Dosis über eine längere Zeitspanne verteilt, sind die Effekte wesentlich kleiner, um wie viel, ist umstritten. Auf jeden Fall erfreuen sich die Bewohner des beliebten Kurortes Ramsar im Iran einer völlig normalen Gesundheit, obwohl sie einer Lebensdosis von teilweise weit über 5 Sv (der tödlichen Schockdosis) ausgesetzt sind. Der Boden von Ramsar ist reich an Natururan und Radium und bestrahlt die Bewohner ein Leben lang. Auch in der Schweiz hat es – besonders im Granit der Alpen – überdurchschnittlich viel Uran im Boden. Entsprechend ist die Lebensdosis wesentlich höher als in Gegenden mit wenig Uran. Sie beträgt gemäss BAG 0.35 Sv, im Mittelland meist um 0.3 Sv, in den Alpen oft über 0.4 Sv, mit Spitzen von gegen 1 Sv.

Verursacht diese Strahlung mehr Krebsfälle? Dies zu bestimmen ist praktisch unmöglich. Solche Dosen haben nur einen schwachen oder gar keinen Einfluss auf die Krebsrate. Die Krebsentwicklung wird von zahlreichen Faktoren beeinflusst: Lebensstil, Nahrung, Umwelt, Bewegung und Gene. Jeder vierte stirbt deshalb an Krebs. Und selbst in der kleinen Schweiz variiert die Krebsrate zwischen den verschiedenen Regionen um typisch 10-30 Prozent; bei den einzelnen Krebstypen sind die Unterschiede noch viel grösser. Entsprechend widersprüchlich sind die unzähligen Studien, welche versuchen, die Wirkung von kleinen bis mittleren, zeitlich verteilten Strahlendosen zu bestimmen. Was klar ist: Solche Dosen sind, wenn überhaupt, nur schwach krebsfördernd.

In Anwendung eines extrem strengen Vorsorgeprinzips vertreten die Strahlenschutzbehörden die Hypothese, dass auch die kleinste Dosis schädlich sein kann. Dies erleichtert die Regulierung, ist aber auch ein Blankoscheck für beliebig tiefe Grenzwerte und ausufernde Bürokratie. Und die Hypothese mutiert schnell zur Meinung, dass auch die kleinste Dosis tödlich ist. So kommt es, dass die gesetzliche Limite auf 0.001 Sv pro Jahr gesunken ist, oder bei 80 Jahren Lebensdauer auf 0.08 Sv Lebensdosis. Die natürliche Strahlung, die genau gleich wirkt wie die vom Menschen verursachte, ist heute strenggenommen illegal.

Strahlenphobie“ und das Evakuationsdilemma der Behörden

Die WHO hat nach den Ereignissen in Tschernobyl eine Lebensdosis von 0.35 Sv als Evakuationslimite empfohlen. Pikanterweise ist dies gerade die durchschnittliche Lebensdosis eines Bewohners der Schweiz, verursacht durch die natürliche radioaktive Strahlung. Die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) empfiehlt heute eine Evakuation ab einer Lebensdosis zwischen 0.04 Sv und 0.06 Sv (berechnet aus der Forderung von weniger als 0.02 Sv im ersten Katastrophenjahr). Solche Dosen sind nur ein Bruchteil der natürlichen Dosis. Viele Fachleute halten Evakuationen bei solchen Dosiswerten für völlig unsinnig: Prof. Zbigniew Jaworowski, ehemaliger Präsident der UNSCEAR, sagte zu den Evakuationen von Tschernobyl: “The most nonsensical action, however, was the evacuation of 336’000 people.“

In Japan hat Prof. Shunichi Yamashita, einer der führenden Experten, eine Dosis von 0.1 Sv für unbedenklich erklärt. Die Folge war ein Shitstorm mit Beschimpfungen als Professor Mengele. Spiegel online berichtete damals unter dem Titel „Es herrscht Strahlenphobie“: „Der Mediziner Yamashita soll den Menschen im Katastrophengebiet die Wahrheit über die Strahlenrisiken erklären – und löst damit neue Ängste aus…. Yamashita hat viel zum Wissen über die Wirkung radioaktiver Strahlung beigetragen. Er wirkte an Studien über die Überlebenden des Atombombenabwurfs auf Nagasaki mit. Und als Abgesandter Japans hat er die Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl untersucht; rund hundertmal war er dort. Jetzt soll er die Folgen der japanischen Reaktorkatastrophe erforschen – muss aber erleben, dass ihm in der Bevölkerung heftiger Widerstand begegnet.“

Dieser Vorfall illustriert das Evakuationsdilemma der Behörden. Um die Bevölkerung zu beruhigen, orientiert man sich an den sachlich nicht begründbaren Gefahrenempfindungen der Leute, was in Bezug auf die Evakuation zu einer weit überschiessenden Reaktion mit schädlichen Folgen führt. Versuche sachgerechter Aufklärung sind nicht nur unwirksam, sondern oft kontraproduktiv. Sie erhöhen die Ängste und den Widerstand in der Bevölkerung – ein Phänomen, das auch der prominente US-amerikanische Rechtswissenschaftler Cass R. Sunstein in seinem Buch „Gesetze der Angst“ überzeugend beschrieben hat.

Müssen wir die Alpen evakuieren?

Die am stärksten vom radioaktiven Fallout betroffene Zone von Fukushima umfasst etwa 100 km2. Ohne Evakuation mussten die Bewohner mit einer durchschnittlichen Lebensdosis von rund 0.4 Sv rechnen, mit Spitzen bis gegen 1 Sv. In der restlichen Evakuationszone (gut 1000 km2, heute noch 371 km2) wurde bereits bei viel kleineren Lebensdosen evakuiert. In weiten Teilen der Alpen sind die Lebensdosen höher. Konsequenterweise müsste man diese Gegenden evakuieren und absperren. Und zwar für ewige Zeiten, denn die natürliche Strahlung nimmt nicht ab. Zumindest nicht in menschlichen Zeiträumen, Uran hat eine Halbwertszeit von über 4 Milliarden Jahren.

Die gleichen Überlegungen gelten für viele andere Gebiete mit erhöhter natürlicher Strahlung. Diese findet man im Schwarzwald, im Erzgebirge, im Piemont, aber auch in Städten wie Rom oder Hongkong. Ganz zu schweigen vom bereits erwähnten Kurort Ramsar oder der Stadt Guarapari/Brasilien mit dem Beinahmen «die gesunde Stadt». Überhaupt fällt auf, dass die meisten Kurorte eine deutlich erhöhte Strahlung aufweisen. Könnte gar am Ende eine sanfte Bestrahlung der Gesundheit förderlich sein?

Interessant ist schliesslich dieser Vergleich: Fliehen die Bewohner der Fukushima-Evakuationszone – ein Gebiet mit relativ guter Luftqualität – nach Tokio oder in eine andere Grossstadt, kommen sie vom Regen in die Traufe. Die Luftverschmutzung in solchen Städten ist gesundheitlich wesentlich schlimmer als die Strahlung. Auf diesen Umstand wurde – im Zusammenhang mit Tschernobyl – bereits 2007 in einer wissenschaftlich fundierten Arbeit (peer-reviewed) von einem der führenden Umweltwissenschaftler hingewiesen. In der Schweiz müssten mehrere Dutzend Fukushima-Katastrophen gleichzeitig geschehen, um vergleichbare gesundheitliche Schäden zu verursachen wie durch die aktuelle Luftverschmutzung.

Ausstieg aus dem Ausstieg?

Kritik an der „Energiewende“ mit dem Verbot neuer AKW wird auch hierzulande allmählich salonfähig, weil die Einsicht wächst, dass

  • ein massiver Ausbau der Solarenergie mit der Abschaltung der AKW das Problem der Winterstromlücke gemäss einer EMPA-Studie massiv verschärfen würde;
  • Speicherlösungen technisch und wirtschaftlich in weiter Ferne liegen;
  • auf Stromimporte im Winter angesichts der grossen Unsicherheit betreffend Integration in den europäischen Strommarkt (Stichwort „market coupling“) kein Verlass ist;
  • die Versorgungssicherheit also nicht gewährleistet werden kann.

Da das Verbot neuer AKW im Gesetz und nicht in der Verfassung steht, kann das Parlament, wenn einmal bessere Einsicht einkehren sollte, im Prinzip das Gesetz jederzeit ändern. Ein Referendum wäre dann allerdings sicher, es sei denn, die Anti-AKW-Fundamentalisten würden über ihren eigenen Schatten springen – ganz nach dem Vorbild der finnischen Grünen, die sich jüngst zugunsten der Kernenergie ausgesprochen haben. Dafür stehen die Aussichten in unserem politischen System allerdings schlecht. Denn solange man mit einer Anti-AKW-Politik mehr als die Hälfte der Bevölkerung hinter sich weiss, gibt es in der Referendumsdemokratie keinen Anreiz für einen Richtungswechsel.

* Autoren:
Walter Rüegg, Dr.sc.nat. ETH, früherer Chef Strahlenschutz der Armee
Hans Rentsch, Dr.rer.pol.

Feuer im iranischen Parlament!

Heute wieder einmal etwas Anderes, also etwas, das nicht direkt von ökonomischem Interesse ist. Ein Foto aus der NZZaS vom 13. Mai. Was geht hier wohl vor? (Zum Vergrössern das Bild anklicken)

Richtig: Abgeordnete verbrennen im iranischen Parlament eine US-amerikanische Flagge aus Papier als Reaktion auf den Ausstieg der USA aus dem Atom-Abkommen. Man stelle sich einmal das Umgekehrte vor: Amerikanische Parlamentarier verbrennen im Repräsentantenhaus eine iranische Flagge! Diese Parlamentarier verhalten sich gleich wie der massenhysterisch aufgeheizte palestinensische Mob, wo das Verbrennen israelischer Flaggen längst zum Ritual des Protests gehört.

Frage: Wie soll man mit so einem Staat und so einer Regierung vernünftig umgehen können?

Luftverteidigung vors Volk? Riskantes Präjudiz

Bundesrat Guy Parmelin will die beiden grossen Rüstungsprojekte der Luftverteidigung – Nachrüstung der veralteten Luftwaffe durch neue Kampfjets und bodengestütztes Luftabwehr-System – kombiniert vom Volk bestätigen lassen, ohne dass dies durch die Verfassung vorgesehen ist. Es geht um ein 8-Milliarden-Projekt. In den Räten sind die Meinungen dazu noch nicht überall gemacht. Im linken armeekritischen Spektrum hofft man auf eine Volksmehrheit gegen das Rüstungsgeschäft, und damit auch auf ein Präjudiz für künftige Rüstungsgeschäfte, Stichwort Rüstungsreferendum. Bei der SVP geht es darum, für die alte Forderung nach einem Finanzreferendum mithilfe einer Abstimmung über dieses grosse Nachrüstungsgeschäft einen Pflock einzuschlagen. Im politischen Zentrum ist die Lage undurchsichtig. Typisch ist aber die Haltung des Zuger FDP-Ständerats Joachim Eder, der eine Volksabstimmung über neue Kampfjets befürwortet, jedoch gemäss Bericht in der NZZ „nicht aus sicherheitspolitischen, sondern aus demokratiepolitischen Gründen: Man habe das Volk 2014 über die Beschaffung des Gripen abstimmen lassen, da könne man nicht plötzlich eine Kehrtwende machen.“

Eders ziemlich waghalsige Begründung mit dem unpassenden Rückgriff auf das Gripen-Referendum liesse sich auch umkehren: Demokratiepolitisch wäre gerade der Verzicht auf die freiwillige Unterstellung des Rüstungsgeschäfts unter das (fakultative) Referendum angezeigt. Dafür gibt es sowohl formale als auch materielle Gründe. Zuerst zu den formalen: Wir kennen gemäss Verfassung weder ein Rüstungs-, noch ein Finanzreferendum. Hier wider die Verfassungsregeln Präjudizien zu schaffen, ist demokratiepolitisch äusserst fragwürdig. Für die militärische Sicherheit gibt es einen vom Volk abgesegneten Verfassungsauftrag, den der Gesetzgeber umzusetzen hat. Gegnern des Projekts steht immer noch die Möglichkeit einer Volksinitiative offen. Allerdings ist dort aus guten Gründen auch die Hürde des Ständemehrs zu überspringen. Ebenfalls zu den formalen Einwänden zählt der Hinweis auf die Gefahr, das Gleichgewicht der Institutionen – konkret zwischen Parlament und Stimmvolk – noch weiter in Richtung des Stimmvolks zu verschieben. Auch für die direkten Volksrechte muss es eine Beschränkung geben. Der verbreitete Glaube, je mehr direkte Partizipation, desto besser für die Demokratie und für die Qualität der Politik, erscheint in einem Land, dessen Stimmvolk fast permanent mit Urnengängen konfrontiert ist, geradezu als eine besondere Form des politischen Extremismus.

Die materiellen Einwände wiegen ebenso schwer. Die militärische Sicherheit gehört als klassisches öffentliches Gut zu den wenigen wirklich legitimen Staatsaufgaben. Diese Aufgabe hat einen ausgesprochen langfristigen Charakter und erfordert kohärentes strategisches Denken und Entscheiden. Es ist einfach absurd, bei jedem Rüstungsprojekt wieder punktuelle Volksentscheide zuzulassen, die die ganze Sicherheitsstrategie in Frage stellen. Was der dauernde plebiszitäre Druck gegen Militärausgaben und der grassierende Opportunismus in den Räten bereits angestellt hat, kann man an den Vorgängen der letzten Jahrzehnte gut beobachten. Die Schweiz hat nach dem Ende des Kalten Krieges wie kaum ein anderes Land – unter dem Schutzschild der NATO, ohne Mitglied zu sein – eine Friedensdividende in x-facher Milliardenhöhe eingestrichen. Unser Militärbudget gehört selbst nach gewissen Korrekturen zur Herstellung der Vergleichbarkeit, gemessen am BIP, zu den niedrigsten unter vergleichbaren Ländern – sehr weit unter den zwei Prozent, welche die NATO als Ziel für ihre Mitglieder vorgegeben hat. Die Modernisierung der grossen Rüstungsbereiche wurde derart vernachlässigt, dass jetzt eine Modernisierung und Ersatzbeschaffung im Umfang von rund CHF 8 Milliarden nötig ist. Dabei sind diese 8 Milliarden nicht das sicherheitspolitisch Notwendige, sondern bereits ein kostenmässig nach unten angepasster Kompromiss, um die Chancen in einer möglichen Volksabstimmung zu wahren. Ein Land, dessen Bevölkerung nicht mehr willens ist, für seine militärische Sicherheit die notwendigen Mittel aufzubringen, wird von den massgebenden Mächten auf dieser Welt nicht ernst genommen.

(Dieser Text erschien in der „Weltwoche“ Nr. 21/18 unter dem Titel „Fundamentale Staatsaufgabe“ in leicht redigierter Form)