«Lechts und rinks» vereint gegen das institutionelle Abkommen mit der EU

Dieser Text erschien auf „Nebelspalter online“ vom 17. April 2024.

Unter dem Eindruck jüngerer politischer Ereignisse und Positionsbezüge in der Schweiz denkt man spontan an den berühmten Vierzeiler „Lichtung“ des österreichischen experimentellen Lyrikers Ernst Jandl: «manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein illtum». Das aktuellste Muster bietet die Abstimmung vom 3. März über die 13. AHV-Rente. Sympathisanten der Polparteien links und rechts verhalfen der Volksinitiative der Gewerkschaften vereint zum Erfolg.

Auch in der heisser werdenden Phase der Europapolitik sehen wir die Linke und die Rechte vereint in der lautstarken Gegnerschaft zu einem institutionellen Abkommen mit der EU. Es gibt aber wichtige Unterschiede, was die Motive betrifft, und das könnte durchaus politische Folgen haben.

Die Rechte, am lautesten die SVP-Prominenz, warnt vor einer geradezu existenziellen Schädigung der Sonderfall-Institutionen, also der direkten Volksrechte, des Föderalismus und einer strikt traditionell interpretierten Neutralität. Es geht für sie dabei um die besonderen Formate und Prozesse der politischen Willensbildung, die nach Auffassung der Rechten die Identität der Schweiz ausmachen. Es herrscht auf dieser fundamentalistisch geprägten Seite grosse Sorge um die Standfestigkeit der Linken.

Verteidigung der Steckenpferde

Denn die Linke hat die Institutionen nur in zweiter Linie im Sinn, anders gesagt als Mittel zum Zweck, um ihre politischen Steckenpferde zu reiten. Im Vordergrund steht für sie das Inhaltliche, wo konkrete Forderungen vorliegen und rote Linien verkündet wurden:

  • Lohnschutz bis hinunter in kleinste Details (Spesenregelungen, Voranmeldefristen),
  • Ausbau der flankierenden Massnahmen,
  • Schutz des Service Public,
  • das heisst keine Strommarktliberalisierung,
  • keine Zulassung ausländischer Bahnunternehmen im Schienenverkehr,
  • keine Marktöffnungen oder Privatisierungen bei Post/Postfinance,
  • Erhalt der Mehrheit des Bundes an der Swisscom,
  • Schutz der diversen, vor allem kantonalen Subventionsregimes zugunsten des Service Public inklusive Energiesektor mit all den kommunalen und regionalen Versorgern.

Für die Linke spielen die Institutionen nur deshalb eine Rolle, weil die politische Praxis gezeigt hat, dass die direkten Volksrechte es den Gegnern von Liberalisierungen und Privatisierungen auf dem breiten Feld des von der Linken definierten Service Public ermöglicht haben, das Parlament bei solchen Projekten mithilfe des Stimmvolks auszubremsen. Die Referendums- und Initiativmacht der Linken steigt mit jedem Abstimmungserfolg. Dies wiederum erhöht die Wirkung von Referendumsdrohungen, was das Parlament präventiv diszipliniert.

Die Linke ist nicht fundamental gegen ein institutionelles Abkommen. Sie möchte aber den Arbeitsmarkt und den Service Public von der Unterstellung unter ein institutionelles Abkommen mindestens teilweise ausschliessen,.

Schlüsselrolle der Linken

Die Konstellation «lechts und rinks vereint» vermittelt für die eben begonnenen Verhandlungen mit der EU wenig Hoffnung auf ein beidseitig zufriedenstellendes Ergebnis. Das könnte sich ändern, wenn die schweizerische Verhandlungsdiplomatie in Bezug auf die linken Forderungen derart viele Zugeständnisse der EU herausholen könnte, dass die Linke aus dem Boot, in dem sie vorderhand mit der Rechten sitzt, aussteigen würde – ein ziemlich unrealistisches Szenario.

Denselben Effekt auf die Auflösung der Vereinigung «lechts und rinks» hätte es, wenn die schweizerische Linke ihre roten Linien so weit zurück nehmen würde, dass die EU mit den schweizerischen Konzessionen leben könnte. Eine solche Entwicklung erscheint wahrscheinlicher als grosszügige Konzessionen der EU-Seite.

Sollte die Linke aus dem Boot mit den rechten Gegnern eines institutionellen Abkommens aussteigen, hätten wir parteipolitisch eine Stärkung der schädlichen Konstellation «alle gegen die SVP», die schon die Referenden zur Energie- und Klimapolitik belastete. Sie verleitet nämlich in Referenden viele Leute dazu, gar nicht zur Sache selbst abzustimmen, sondern das wohlige Gefühl zu geniessen, der ungeliebten SVP eins auswischen zu können. Und ein Referendum gegen ein vom Parlament verabschiedetes Abkommen mit der EU wäre unvermeidlich.

Wer stoppt Maillard?

Dieser Text erschien auf „Nebelspalter online“ vom 21. April 2024.

Das Debakel der beiden AHV-Abstimmungen vom 3. März wird weitherum nicht als solches wahrgenommen. Lieber feiert man den triumphierenden Gewerkschaftspräsidenten Maillard als den neuen „Blocher der Linken“. Christoph Blocher hatte im Referendum über den Beitritt zum EWR im Dezember 1992 das ganze politische und wirtschaftliche Establishment besiegt. Beim EWR gab es im Nationalrat eine Mehrheit von 128 zu 58 für den Beitritt, im Ständerat sogar 38 zu 2.

Seither gab es immer wieder Referenden, bei denen das Parlament mit klaren Mehrheiten für gewichtige Reformen votierte, die aber, mit der politischen Linken in einer Hauptrolle, vom Volk teils mit erdrückenden Mehrheiten abgelehnt wurden.

  • Es begann im Jahr 2002 mit dem Elektrizitätsmarkt-Gesetz. Der Nationalrat hatte diesem mit 160 Ja zu 24 Nein überdeutlich zugestimmt, der Ständerat mit 36 zu 2. Das Stimmvolk lehnte das Gesetz mit 53 Prozent Nein-Stimmen ab.
  • Bei der Volksabstimmung über die 11. AHV-Revision von 2004 waren die Ja-Mehrheiten in den Räten geringer, die Ablehnung durch das Stimmvolk mit nur 32 Prozent Ja-Stimmen dafür umso deutlicher.
  • Noch massiver verloren Bundesrat und Parlament im Jahr 2010 das Referendum gegen die BVG-Revision mit Senkung des Umwandlungssatze mit nur 27 Prozent Ja-Stimmen sowie im Jahr 2012 das Referendum gegen die KVG-Managed Care-Vorlage mit bloss 24 Prozent Ja-Stimmen.
  • Die Unternehmenssteuer-Reform III wurde im Referendum von 2017 mit 59 Prozent Nein-Stimmen verworfen. Im Parlament lauteten die Ja-Mehrheiten 139 zu 55 im Nationalrat und 29 zu 10 im Ständerat.
  • Als jüngstes Beispiel eines linken Abstimmungssiegs gegen Bundesrat und Parlament haben wir nun den Fall der 13. AHV-Rente. Der Nationalrat hatte die Initiative der Gewerkschaften mit 126 zu 69 abgelehnt. Im Ständerat gab es 31 Nein zu 10 Ja.

Quoren für Volksabstimmungen?

Bei Volksinitiativen und Referenden geht es nie einfach nur um die konkrete Sache an sich. Die direkte Demokratie erlaubt besondere Machtspiele. Gewinnt eine Partei oder ein Interessenverband eine Volksabstimmung, steigert dies immer auch die Verhandlungs- und Referendumsmacht, und zwar mit beträchtlicher Vorauswirkung auf die Gesetzgebung. Der oft gehörte Satz „das ist politisch nicht machbar“ ist symptomatisch. Nicht zufällig bereicherte auch der frühere Bundesrat Berset mit dieser Floskel die Diskussion um eine Erhöhung des Rentenalters. Eine unbefangene Sichtung der wichtigsten Volksabstimmungen seit der Jahrtausendwende stützt die These einer schleichenden Sozialdemokratisierung der Schweiz. Und dieser Prozess läuft weiter.

Eine ideologiefreie Analyse führt zum Schluss, dass mit der Häufung von Volksinitiativen das Gleichgewicht zwischen den repräsentativen Organen Bundesrat und Parlament einerseits und den Volksrechten der stimmberechtigten Bevölkerung anderseits aus den Fugen geraten ist. Als eine unter vielen denkbaren Reformansätzen könnte man Quoren für Volksabstimmungen einführen. Der Vorteil von kruden Mehrheitsabstimmungen nach heutigen Regeln – 50 Prozent plus eine Stimme – ist deren Einfachheit. Sonst spricht wenig dafür. Als Diskussionsbeitrag folgt ein Vorschlag.

Wenn eine Vorlage im Parlament eine bestimmte Ja-Mehrheit (bei Referenden) oder Nein-Mehrheit (bei Volksinitiativen) überschreitet, braucht es in der Volksabstimmung für einen Abstimmungssieg auch höhere Mehrheiten als 50 Prozent plus eine Stimme. Eine krude Regel wäre „gleiche Mehrheiten wie im Parlament, einfach umgekehrt“. Natürlich sind auch mildere Quoren denkbar.

Eine Lösung für das Ständemehr wäre noch zu finden. Mehrheitsregeln zu ändern ist ein möglicher Ansatz. Doch auch die Regeln für das Zustandekommen von Volksinitiativen müssten heutigen Verhältnissen angepasst werden. Eigentlich lautet die Grundfrage: Sind Reformen der direkten Volksrecht überhaupt noch diskutierbar oder haben wir inzwischen ein derart religiöses Verhältnis zur direkten Demokratie, dass jeder Versuch, eine Reformdiskussion anzustossen, als Sakrileg gilt?

Es geht nicht mehr primär um die Sache

Machtspiele mit den direkten Volksrechten

In der Schweiz fühlen sich die meisten als Demokratie-Weltmeister. Auch Angehörige der verschiedenen Eliten in Politik, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft werden nicht müde, immer wieder die direkten Volksrechte und den Föderalismus als Hauptgrund für unseren hohen Wohlstand zu loben. Empirisch Gesinnte verweisen dann gerne noch auf statistische Vergleiche zwischen Teilstaaten mit mehr oder weniger direkter Demokratie aus den frühen 1990er-Jahren. Dort kam heraus, dass Gemeinwesen mit mehr direkten Volksrechten tiefere Steuern, eine niedrigere Staatsquote und mehr Wohlstand aufwiesen. Seither sind rund 30 Jahre vergangen, und neuere Vergleichsstudien sind mir nicht bekannt. Aber die Welt hat sich in dieser Zeit verändert, und die anstehenden Probleme auch.

Es gibt immerhin einen Grossvergleich, der keine aufwendigen Analysen benötigt und den Sonderfall Schweiz edelt. Ganz hinten im britischen „Economist“ sind jeweils die wichtigsten makroökonomischen Daten vieler Volkswirtschaften abgedruckt. Es ist leicht zu erkennen, dass die Schweiz dort seit Jahren einen Spitzenplatz einnimmt. Fragen stellen sich trotzdem: Mit wem will man sich vergleichen? Mit absteigenden europäischen Wohlfahrtsstaaten oder mit den besten der Welt? Oder ebenso wichtig: Können wir den Spitzenplatz auch in Zukunft halten oder schieben wir Grossprobleme mit hohen Kostenrisiken vor uns her, weil uns nachhaltige Reformen einfach nicht gelingen wollen?

Ernüchterndes aus den Niederungen der praktischen Politik
Begibt man sich von hoher Warte allgemeiner Lobpreisungen des Sonderfalls Schweiz in die Niederungen der praktischen Politik, muss man doch eines feststellen: Der Glanz der Sonderfall-Institutionen kriegt Kratzer. Es gibt kaum ein wichtiges Reformthema, bei dem die Schweiz nicht durch Widerstände gebremst oder blockiert ist, die mit drohenden Referenden oder Volksinitiativen oder föderalistischen Interessen zusammenhängen: Altersvorsorge, Gesundheitswesen, Europapolitik, Strommarkt-Liberalisierung. In der fundamental wichtigen Energiepolitik hat ein durch behördliche Manipulation und Desinformation zustande gekommenes Ja zum Energiegesetz ein unsinniges Neubauverbot für Kernkraftwerke demokratisch höchstlegitimiert – bei einer Stimmbeteiligung von nur 43 Prozent. Jetzt bastelt das Parlament aufgrund illusionärer Annahmen an einem „Mantelerlass“, der dieses Neubauverbot zu zementieren droht.

Seit Jahren wird auch gerne stereotyp und floskelhaft die Langsamkeit der politischen Prozesse als Vorteil herausgestrichen. Dies unter anderem, weil damit verhindert werde, dass falsche Politik bei uns später eingeführt werde als im Ausland – ein intellektuell bescheidenes Argument. Zudem sehen wir ja auch, dass es bei uns viel länger dauert, bis falsche Politik oder überholte Gesetze wieder korrigiert werden können, weil sich inzwischen Interessengruppen gebildet haben, welche eine „Rückkehr zur Vernunft“ bekämpfen. Ein schönes Beispiel dazu ist der vollkommen gescheiterte Versuch des früheren Finanzministers Hans-Rudolf Merz, die unter Referendumsdruck zustande gekommene komplizierte Mehrwertsteuer mit mehreren Sätzen und vielen Ausnahmen radikal zu vereinfachen. Noch ein Muster institutioneller Bedächtigkeit: Das revidierte Aktienrecht ist Anfang dieses Jahres in Kraft getreten. Der Anstoss dazu erfolgte im Jahr 2005!

Auch die verantwortungslose Vernachlässigung der militärischen Sicherheit hat mit Initiativrisiken zu tun. Schliesslich haben wir eine Gruppe für eine Schweiz ohne Armee GSoA, die als initiativfähige Macht die Rüstungspolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen vermochte. Auf der GSoA-Webseite liest man, sprachlich verbesserungsbedürftig wörtlich: „Die GSoA bedient verwendet direktdemokratischer Instrumente und hat seit ihrer Gründung 1982 sieben Volksinitiativen und zwei Referenden gesammelt. Bei weiteren fünf Initiativen hat die GSoA massgeblich zur Unterschriftensammlung beigetragen.“

Grosse Angst vor der institutionellen Frage
Wir hören und lesen aus sogenannt bürgerlich-liberalen Kreisen seit Jahren immer wieder dieselben kritischen Aufrufe, das erfolgreiche Modell Schweiz nicht verkommen zu lassen. Gefolgt von den immer gleichen Reformvorschlägen, die längst bekannt sind, jedoch in der Politik keine Mehrheiten finden. Niemand wagt, die institutionelle Frage zum Thema zu machen. Volksrechte und Föderalismus werden auch in ihrer real existierenden Form durch alle Böden verteidigt. Wer auch nur leise Skepsis anmeldet, wird gerne als Abschaffer unserer Institutionen diffamiert.

Dabei wird etwas Entscheidendes stets ausgeklammert. Der Gebrauch der direkten Volksrechte durch deren hauptsächliche Nutzer hat mit der Sache an sich oft wenig zu tun. Es geht um die Demonstration von genereller Referendumsmacht für alle Fälle, jedoch auch mit dem Ziel, schon im Vorfeld der Gesetzestätigkeiten präventiv Inhalte in Richtung der eigenen Interessen zu beeinflussen. Initiativ-mächtige Organisationen und Lobbies können mit Volksinitiativen auch Gegendruck zu laufenden Reformprojekten aufbauen. Damit werden die Grenzzäune für anstehende Reformprojekte angedeutet. So ist in Reformdebatten gegen den Vorwurf, es sei in Gesetzesreformen wenig erreicht worden, das stereotype Argument so populär, es sei halt unter Referendumsrisiken politisch nicht mehr möglich gewesen. Die endlosen Reformversuche für die erste und zweite Säule der Altersvorsorge und die resultierenden faulen Kompromisse, die nur dazu dienen, etwas Zeit bis zum nächsten Reformversuch zu gewinnen, sollten eigentlich deutlich genug zeigen, wie Referendums- und Initiativmacht als strategische Waffe zum Schaden des Gesamtinteresses eingesetzt wird.

Die Schweiz auf Platz 47

Was Taiwan (nicht nur) in der Corona-Bekämpfung besser macht

Ein Bericht in der NZZ online vom 1. März zur Anti-Corona-Strategie von Taiwan nennt nun für den chaotischen Kampf des schweizerischen politisch-bürokratischen Systems gegen Corona endlich auch einen Erklärungsfaktor, der hierzulande bisher kaum thematisiert worden ist:

„Mit der Rationierung (der knappen Masken) schlug die Stunde von Taiwans charismatischer Digitalministerin Audrey Tang und vielen Programmierern… Die taiwanischen Behörden pflegen seit Jahren das Prinzip Open Data: Viele öffentliche Daten erhalten Bürger nicht erst auf Nachfrage in Papierform, sondern sie sind für jeden jederzeit online einsehbar und nutzbar. In der jüngsten Rangliste der Open Knowledge Foundation von 2017 zur weltweiten Verfügbarkeit von Regierungsdaten belegt Taiwan den ersten Platz. Die Schweiz liegt auf Platz 47, zwischen Albanien und El Salvador.“

Zur Kompensation dieses schon fast peinlichen staatlichen Digital-Rückstands haben wir etwas, das Taiwan nicht hat: Den eidgenössischen Föderalismus, der ja dank dem interkantonalen Wettbewerb nach Expertenmeinungen so viele kreative Lösungen und Innovationen hervorbringen soll. Weder die föderalistische Corona-Konfusion, noch Platz 47 in der Rangliste der Open Knowledge Foundation können unsere ungetrübte Begeisterung für unsere staatlichen Institutionen auch nur im Geringsten erschüttern.

Wenn Initiativen wichtige Reformen verdrängen

Nachlese zur Konzernverantwortungsinitiative

(Eine gekürzte Fassung erschien als Gastkommentar in der NZZ vom 7. Dezember)

Wenn jetzt nach einer kaum je erlebten aufwendigen Kampagne die orangefarbenen Aushänge und die getürkten Bilder leidender Drittweltkinder im öffentlichen Raum wieder verschwinden, stellt sich im Rückblick die Frage: Wozu das alles? Sehen wir dank der Initiative irgend einen Fortschritt bei der Bewältigung der grossen Reformthemen, welche die schweizerische Bevölkerung beschäftigen?

Die Antwort lautet nein. Das Anliegen der „Konzernverantwortungsinitiative“ (KVI) ist im Sorgenbarometer der Grossbank Credit Suisse noch nie vorgekommen. Die zehn Themen, welche die Befragten im KVI-Jahr 2020 als wichtigste Sorge für die Schweiz angaben, waren absteigend nach Anzahl Nennungen: Corona-Pandemie, AHV/Altersvorsorge, Arbeitslosigkeit, Umweltschutz/Klimawandel, Ausländer/Ausländerinnen, Gesundheit/Krankenkassen, EU/Bilaterale/Integration, Flüchtlinge/Asylfragen, Soziale Sicherheit, (Kern-)Energie.

Die direkten Volksrechte ermöglichen es somit mobilisierungsfähigen Interessengruppen, die politische Agenda des Landes mit einem Anliegen zu belasten, das auf der Sorgenliste der Bevölkerung nicht existiert. Gleichzeitig schiebt unser politisches System, diszipliniert durch ständig drohende Initiativ- und Referendumsrisiken, die wichtigsten Reformvorhaben in der Altersvorsorge, im Gesundheitswesen, in der Europapolitik oder im Strommarkt seit Jahren oder gar Jahrzehnten vor sich her. Was an Reformen noch gelingt, verdient diesen Namen nicht, denn es handelt sich um mühsame Kompromisse des Durchwurstelns, oft bloss um Zeit für den ersehnten grossen Wurf zu gewinnen. Weshalb dieser unter den gegebenen institutionellen Bedingungen mit all den organisierten und spontanen Vetospielern später plötzlich gelingen sollte, lässt sich logisch nicht begründen. Die verlorene Zeit reduziert auch den Spielraum für nachhaltige Reformen.

Oft wird behauptet, unser System mit den direkten Volksrechten habe den Vorteil, dass die Bevölkerung politisch besser informiert sei als in anderen Ländern. Diese Behauptung geht von einer idealistischen Sicht der deliberativen Demokratie aus. Was heisst „besser informiert“? Es ist ja nicht so, dass die Leute, bevor ein Abstimmungsthema aufkommt, unbeschriebene Blätter sind. Ein Teil der Menschen verfügt über fest gebildete, nicht selten auch ideologisch fundierte Meinungen zu politischen Themen. Für neue Sachinformationen, die den gefestigten Positionen entgegenstehen, haben diese Leute kein Gehör. Und die Personen, die in den Umfragen vor Abstimmungen angeben, sich noch nicht entschieden zu haben, lassen sich auch nicht einfach als „unbeschriebene Blätter“ charakterisieren. Die Art und Weise, wie sich die betreffenden Personen informieren, entscheidet über die Qualität der Information.

Nun ist es ja kein Geheimnis, dass die Beschäftigung mit Politik bei den meisten Menschen nicht die  oberste Priorität einnimmt, ganz im Gegenteil. Bei der Allokation knapper Zeitressourcen kommt Politik nach Familie, Beruf, Freunden, Hobby und Freizeit erst ganz am Schluss. Als Folge dieser Prioritäten beachtet die überwiegende Mehrheit im Bereich des Politischen zeitsparend die grossen Lettern der Schlagzeilen und nicht das Kleingedruckte, wie es Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahneman in einem NZZ-Interview ausdrückte.

Die emotionsgeladene Abstimmungspropaganda der KVI-Initianten illustrierte eindrücklich, welche Art von Information in solchen „der Zweck-heiligt-die-Mittel-Initiativen“ eingesetzt wird: Polemik auf beängstigend tiefem Niveau mit gestellten Fotos und massiven Pauschalvorwürfen ohne wirklichen Faktennachweis. Mit der irreführenden Kurzbezeichnung  „Konzernverantwortungsinitiative“ zählten die Initianten darauf, dass der belastete Begriff „Konzern“ bei Vielen spontane Abneigungsreaktionen auslöst. Bezeichnend ist zudem, dass in der Anprangerungs-Propaganda fast ausschliesslich die beiden ganz bösen Konzerne, nämlich Glencore und Syngenta, aufgetischt wurden. Man hätte die Initiative aufgrund der Kampagne auch „Glencore-Syngenta“-Verantwortungs-Initiative nennen können.

Es ist im Nachgang zu dieser Volksabstimmung zu befürchten, dass die Nichtregierungsorganisationen (NGO), die als Haupttreiber hinter dieser Initiative standen, weiterhin als glaubwürdige Interessenwahrer der Bevölkerungen armer Drittweltländer gelten. Dabei liefert gerade diese Volksinitiative den Beweis, dass die NGO nicht mit der Zeit gehen und offenbar die Wende in den UNO-Entwicklungszielen nicht nachvollziehen wollen. Die antikapitalistisch-ideologische Grundhaltung der Organisationen hinter der KVI verhindert diesen Schritt. Dabei zielen die UNO-Entwicklungsziele stärker als früher auf wirtschaftliche Entwicklung über die Stärkung der Bedingungen für privatwirtschaftlich-unternehmerische Aktivitäten. Gerade ausländische Unternehmen, speziell die bösen grossen Konzerne, spielen dabei mit Investitionen, Arbeitsplätzen, Know-how-Transfer und Inklusion lokaler Unternehmen eine Schlüsselrolle.

Es hat lange gedauert und x Hunderte Milliarden gekostet, bis man auch in politischen Kreisen zur Kenntnis nimmt, dass die frühere Art von Entwicklungspolitik nichts taugt. Der britisch-amerikanische Princeton-Ökonom und Nobelpreisträger Angus Deaton sagte schon vor Jahren in einem NZZ-Interview, die traditionelle Entwicklungspolitik von aussen sei nichts anderes als Kolonialismus. Ausländische Hilfe habe die afrikanischen Länder ärmer gemacht, nicht reicher. In der Schweiz hat Bundesrat Ignazio Cassis, ganz im Sinne der UNO-Entwicklungsziele, eine Wende hin zu einer mehr auf Unternehmertum und Marktwirtschaft zielende Entwicklungspolitik eingeleitet. Es ist bezeichnend, dass Kritik und Widerstand an dieser Neuausrichtung aus den gleichen Kreisen kamen, die hinter der KVI stehen. Es ist zu hoffen, dass die Entwicklungs-NGO nach dieser Abstimmungsniederlage ihr Geschäftsmodell überdenken. Statt wichtige privatwirtschaftliche Akteure mit aggressiven Kampagnen der öffentlichen Anprangerung gegen sich in Stellung zu bringen, sollten sie künftig eine für beide Seiten und für die betroffenen Länder fruchtbare Partnerschaft ins Auge fassen.

Dieser Text erschien, leicht gekürzt, in der NZZ vom 7. Dezember 2020.

Tragödie Venezuela: Vernebelte Begründungen

Immer wieder liest man in Agenturmeldungen und Medienberichten völlig oberflächliche Begründungen für den unglaublichen Niedergang des ölreichen und einst wohlhabenden Landes. Die Rede ist fast immer nur von einer Versorgungskrise wegen dem tiefen Ölpreis und den gesunkenen Einnahmen aus dem Erdölexport. Gelegentlich steht da vielleicht mal noch etwas von einer sozialistischen Regierung. Aber dass das ganze heutige Elend allein der linkspopulistischen Politik des verstorbenen Präsidenten Hugo Chavez und seines diktatorischen Nachfolgers Maduro anzulasten ist, davon liest oder hört man nichts. Der geradezu exemplarische Niedergang eines mit sozialistischen Rezepten heruntergewirtschafteten Landes hat rein institutionell-politische Gründe. Dass der Ölpreis jetzt eine so entscheidende Rolle spielt, ist auch nur die Folge einer völlig inkompetenten, ja zerstörerischen Wirtschaftspolitik. Mit einer vernünftigen Politik wäre das Land natürlich niemals dermassen von den Öleinnahmen abhängig geworden.

Man fragt sich, wie es kommt, dass im März 2013 an der Beerdigung von Hugo Chavez, des Hautpverantwortlichen für das Desaster, Dutzende von ausländischen Staatsoberhäuptern dem Verstorbenen die Ehre erwiesen. Heute ruht Chavez in Caracas in einem pompösen Mausoleum. Und Maduro, der sich als legitimen Nachfolger von Chavez bezeichnet, um sich an der Macht zu halten, ist daran, mit seiner Clique das Land endgültig zu ruinieren. Und die internationale Gemeinschaft (inklusive die lateinamerikanischen „Bruderländer“) schaut ungerührt zu.