„Volksrepublik Schweiz“ – von Stimmvolks Gnaden

Antikapitalistische Reflexe in vielen Volksabstimmungen

In der Weltwoche Nr. 8.22 beleuchtete Rainer Zitelmann anhand von Umfragedaten die kapitalismus- und marktkritische Haltung der Menschen in 14 Ländern.  Die Menschen sind zwar in der Schweiz etwas weniger kapitalismuskritisch als die Bevölkerungen in Deutschland, Grossbritannien, Italien, Österreich Spanien und Frankreich. Doch auch hier überwiegt eine antikapitalistische Einstellung.

Zitelmanns Befunde sollten uns nicht überraschend. Man braucht nur die Ergebnisse von wichtigen Abstimmungen der vergangenen Jahrzehnte zu betrachten. Gegen Reformen für Liberalisierungen, weniger Staat, weniger Umverteilung und mehr wirtschaftliche Freiheit spielt die Referendumsmacht der Linken, gelegentlich auch im Verbund mit Protektionisten aller Art, eine zentrale Rolle. Hier ein Blick auf fünf erfolgreiche Referenden auf den grössten wirtschafts- und sozialpolitischen Baustellen mit teils enormer Diskrepanz zwischen Parlament und Stimmvolk:

Abstimmung NationalratStänderatStimmvolk 
Beitritt zum EWR (1992)128 zu 5838 zu 249,7% zu 50,3%
Elektrizitätsmarktgesetz (2002)160 zu 2436 zu 247,4% zu 52,5%
11. AHV-Revision (2004)109 zu 7334 zu 932,1% zu 67,9%
BVG-Revision (2010)126 zu 6235 zu 127,3% zu 72,7%
KVG „Managed Care“-Vorlage (2012)133 zu 4628 zu 624,0% zu 76,0%
Unternehmenssteuerreform III (2017)139 zu 5529 zu 1040,9% zu 59,1%

EWR-Beitritt: Auch ein Nein der Protektionisten
Der Erfolg von Christoph Blochers SVP gegen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vom Dezember 1992 wäre ohne den Beitrag der Protektionisten jeglicher Couleur nicht zustande gekommen. Der pauschale Liberalisierungsschub, den der EWR-Beitritt der Schweiz gebracht hätte, war in den geschützten Branchen der Binnenwirtschaft nicht populär. Zwar spielten im Abstimmungskampf schon damals die „fremden Richter“ eine Rolle. Gerne wurden aber von EWR-Gegnern die institutionellen Nachteile von Souveränitätseinbussen in den Vordergrund geschoben, um protektionistische Motive nicht zugeben zu müssen. 

Beim Aushandeln der bilateralen sektoriellen Verträge mit der EU galt es stets, den Schutzinteressen der Binnenwirtschaft gerecht zu werden, die auch den bei der Linken geheiligten „Service Public“ umfasst. Auch beim Scheitern des institutionellen Rahmenabkommens spielte die Linke mit ihrem Arbeitsmarktprotektionismus eine entscheidende Rolle. Die flankierenden Massnahmen zum freien Personenverkehr und der Lohnschutz seien nicht verhandelbar, hiess es vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB), der mit dem Referendum drohte. Erst dieser späte kompromisslose Positionsbezug machte einen Absturz in einer Volksabstimmung praktisch sicher.

Liberalisierung des Strommarkts: Ein bis heute unbewältigtes Nein  
Das Elektrizitätsmarktgesetz zielte darauf ab, mit der Strommarktliberalisierung in der EU Schritt zu halten. Die Zustimmung in National- und Ständerat war überwältigend. Die drei grossen Schweizer Gewerkschaften und die Grünen ergriffen das Referendum und siegten. Danach erliess das Parlament ein Stromversorgungsgesetz. Seit 2009 ist nun der Strommarkt für Grossverbraucher liberalisiert. Die Ausweitung des freien Netzzugangs auf Haushalte und andere Kleinverbraucher war fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes vorgesehen, allerdings mit der Hürde des fakultativen Referendums. Lange hatten Bundesrat und Parlament diesen zweiten Schritt aus Angst vor einem erneuten linken Referendum nicht gewagt. Inzwischen liegt nun, verpackt in ein links-grünes Oxymoron namens „Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien“, eine Lösung vor, in der keine vollständige Liberalisierung vorgesehen ist. Haushalte und kleine Betriebe sollen weiterhin das Recht haben, in der Grundversorgung zu bleiben oder vom freien Markt wieder zur Grundversorgung zurückzukehren. 

Altersvorsorge: Der wahre Rentenklau 
Alle Reformversuche, AHV und BVG den demografischen Trends und den unvorhersehbaren Entwicklungen auf den Finanzmärkten anzupassen, scheiterten am Widerstand des Stimmvolks, sofern sie nicht schon im Parlament Schiffbruch erlitten. In den beiden Referenden in der Tabelle siegte die linke Opposition haushoch. Dabei waren die zur Abstimmung gelangenden Vorlagen keine langfristig soliden Lösungen, sondern enthielten unter den unvermeidlichen Referendumsrisiken bereits Kompromisse. Auch die AHV-Massnahmen im Paket mit der neuen Unternehmenssteuervorlage (STAF) ändern nichts an der nicht nachhaltigen Finanzierung der AHV. In der beruflichen Vorsorge verhinderte der Widerstand der Linken bis heute, den milliardenschweren Rentenklau durch die system- und gesetzeswidrige Umverteilung von den Aktiven zu den Rentnern endlich zu mildern. Das bereits seit Jahren andauernde politische Geschacher um die Erhöhung des Rentenalters der Frauen auf 65 Jahre zeigt erneut, welch massiven Einfluss die Referendumsmacht der Linken auf die Gesetzgebung ausübt.

Gesundheitswesen: Keine Aussicht auf Gesundung 
Im Jahr 2008 hatte das Stimmvolk bereits den Verfassungsartikel „Für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Krankenversicherung“ mit fast 70 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Darin sollten die Grundsätze des Krankenpflegesystems in der Verfassung verankert werden: Wettbewerb, Transparenz sowie Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungen. Noch nicht klar geregelt war die Frage der Vertragsfreiheit der Krankenversicherungen mit den Anbietern. Hier setzte die gegnerische Propaganda erfolgreich an. Gemäss VOX-Analyse entscheidend war das dramatisierende Argument, die freie Wahl des Arztes oder des Spitals sei in Gefahr, wenn der Vertragszwang aufgehoben werde. 2010 folgte die noch massivere Abfuhr für die Vorlage „Managed Care“. Der wichtigste Ablehnungsgrund gemäss VOX-Analyse war wiederum die Sorge um die freie Wahl des Arztes oder des Spitals. Hinzu kam die Begründung, die Macht der Krankenkassen würde zu gross werden. Dabei würde gerade die Aufhebung des Vertragszwangs die Macht der Krankenversicherer durch den Wettbewerb im freien Markt begrenzen. 

Unternehmenssteuern: Paradoxe Folgen der direkten Volksrechte 
„Nein zu undurchsichtigen Steuertricks. Nein zu neuen Milliardenlöchern. Nein zum erneuten Bschiss an der Bevölkerung. Ein paar Konzerne machen mit diesen Steuertricks Milliarden.“ Diese vier Hauptargumente für die Volkabstimmung vom 12. Februar 2017 brachte das linke Referendumskomitee gegen die Unternehmenssteuerreform III (USTR III) vor. Und mit diesen emotional aufgeladenen Schlagworten erreichten die Referendums-Initianten ihr Ziel: die mehrheitlich positive Einstellung zur Vorlage gemäss SRG-Umfragen wich einer deutlichen Ablehnung. 

Die VOTO-Nachbefragung bestätigte eine Überforderung des Stimmvolks: drei Viertel der Befragten sagten, die Vorlage sei schwierig zu verstehen gewesen. Der überforderte Stimmbürger wird immer mehr zum Normalfall. Nach der Abstimmungsniederlage wurde unter Zeitdruck das Kombipaket mit der AHV-Finanzierung nach linkem Gusto durchgeboxt, um die Unternehmenssteuervorlage referendumssicher zu machen. Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass die direkten Volksrechte die paradoxe Auswirkung haben, dass sie mit einem solchen Doppelpaket praktisch neutralisiert werden. Wie soll ein Referendum aussehen, wenn eine klare Willensäusserung zu den einzelnen Paketteilen gar nicht möglich ist?

Das Volksnein gegen die Abschaffung der Emissionsabgabe vom Februar 2022 ist nur das jüngste Beispiel für die Wirkung der direkten Volksrechte auf die Mobilisierungskraft linker Anliegen gegen volkswirtschaftlich sinnvolle Vorlagen.

Übergrosser staatlicher Fussabdruck 
Schweizerische Liberalisierungen und Privatisierungen sind auf halbem Weg stecken geblieben, immer unter dem Druck linker Interessen. Die staatliche Post hat immer noch ein Briefmonopol, und gegen die Privatisierung der Postfinance liegen schon Referendumsdrohungen in der Luft. An der Swisscom hält der Bund eine gesetzlich vorgeschriebene Mehrheit. Die Kanäle der öffentlich-rechtlichen SRG dominieren die elektronischen Medien und werden durch eine steuerähnliche Zwangsabgabe finanziert. Kantonalbanken und Stromkonzerne sind ganz oder überwiegend in staatlichem Eigentum. Economiesuisse hat in einer grossen Studie nachgewiesen, dass über die Hälfte der Preise in der Schweiz keine freien Marktpreise sind.

Die grosse Angst vor der institutionellen Frage 
Das Wirtschaftswunder Schweiz der vergangenen 50 bis 100 Jahre ist keine Garantie, dass unsere Institutionen in ihrer heutigen Gestalt und Anwendung auch in Zukunft eine erfolgreiche Entwicklung ermöglichen. So antwortete SECO-Chefökonom Eric Scheidegger in einem Interview mit der NZZ am Sonntag im August 2017 auf die Frage, was geschehe, wenn in Sachen Reformen nichts passiere: «Es droht eine schleichende Erosion des Wohlstandes. Schon heute ist die Produktivität unserer Wirtschaft im internationalen Vergleich eher schwach. Ohne Reformen verschenken wir Wirtschaftswachstum, das in der Schweiz eher bei 2 Prozent liegen könnte statt wie zuletzt bei 1,3 Prozent.» 

Wir profitieren bis heute von Pionierleistungen aus früheren Zeiten, als die Schweiz in Form oder Praxis noch eine mehrheitlich repräsentative Demokratie war und die direkten Volksrechte keine grosse Rolle spielten. Die Entwicklung zu einem immer grösseren Gewicht der direkten Volksrechte und zu einer schleichenden Abwertung des Parlaments ist jüngeren Datums. Die Schwierigkeiten, innerhalb nützlicher Frist zu volkswirtschaftlich vernünftigen Lösungen zu gelangen, haben fast immer mit den Volksrechten zu tun. 

Die Frage, ob es nicht auch ein Zuviel an direkter Demokratie geben könnte, muss erlaubt sein. Angeblich hat die Schweiz bisher mehr Volksabstimmungen durchgeführt als die ganze übrige Welt zusammen. Mit den neuen Online-Kanälen geht der Trend eher hin zu noch mehr Direktpartizipation. Der Glaube, dass mehr direkte Demokratie auch in einem Land, in dem ein Bürger jährlich über zehn Vorlagen auf Bundesebene und zig weitere auf kantonaler und kommunaler Ebene abstimmen soll, strikt besser ist, muss man als politischen Extremismus interpretieren.

Was für Auswege gibt es? Jenseits von auf der Hand liegenden aber politisch unbeliebten Massnahmen wie der Erhöhung der Unterschriftenzahlen (und ihrer Festlegung in Prozent der Anzahl Stimmberechtigten) oder der Kürzung der Sammelfristen wäre es zum Beispiel vorstellbar, dass Bundesvorlagen, die klare Parlamentsmehrheiten gewonnen haben, nicht mehr durch ein einfaches Mehr der Stimmbürger gekippt werden können, sondern dass gewisse Quoren oder qualifizierte Mehrheiten gefordert werden. Oder man könnte sich überlegen, bei Vorlagen, die ohne grossen Schaden reversibel sind, Referenden die aufschiebende Wirkung zu entziehen. So könnte die Bevölkerung mit einer Veränderung erst mal Erfahrungen mit der Neuerung sammeln.

Zweite Säule: Die jungen Ewiggestrigen von links

„Der Landbote“ (und der Tages-Anzeiger) berichtete(n) über die konzertierte Aktion der bürgerlichen Jungparteien von EVP, GLP, BDP, CVP, FDP und SVP für eine mutige und nachhaltige Reform der Zweiten Säule der Altersvorsorge. Diese ist in Schieflage und verteilt system- und gesetzteswidrig auf Kosten des Sparkapitals der Jungen jährlich rund 7 Mrd. Franken von den Aktiven zu den Rentnern um.

Die Reform enthält gemäss „Der Landbote“ folgende Punkte:
Rentenalter. Die Jungparteien wollen kein fixes Rentenalter festlegen, sondern dieses an die Lebenserwartung koppeln. 
Eintrittsalter. Junge sollen bereits mit 18 Jahren für das Alter zu sparen beginnen, sofern sie mehr als 21330 Franken pro Jahr verdienen. 
Umwandlungssatz. Die Jungparteien wollen den Umwandlungssatz nicht nur senken, sondern auch entpolitisieren. 
Koordinationsabzug. Die Jungparteien wollen den sogenannten Koordinationsabzug ganz streichen, der Bundesrat will ihn lediglich halbieren. 
Altersgutschriften. Die Jungparteien wollen, dass alle Arbeitnehmer, unabhängig vom Alter, denselben Prozentsatz ihres Lohns für das Alter beiseitelegen – wie hoch dieser sein soll, lassen sie offen. 
Rentenzuschlag. Die Jungparteien wollen nicht, dass eine Übergangsgeneration über eine weitere Umverteilung in der zweiten Säule für einen tieferen Umwandlungssatz entschädigt wird. 

Dieses Reformpaket orientiert sich vorbildlich an einem nach ökonomischen und versicherungstechnisch optimal gestalteten kapitalgedeckten Rentensystem. So wie man es vernünftigerweise gestalten würde, wenn man es neu einrichten müsste.

Das grosse Reformproblem der Schweiz hat damit zu tun, dass sich über die Zeit seit der Einführung der Zweiten Säule im Jahr 1985 um das System herum Interessengruppen etabliert haben, die ihre je eigene Agenda verfolgen. Zudem hat man es mit einem Stimmvolk zu tun, das mehrheitlich die Funktionsweise der Altersvorsorge gar nicht richtig versteht. Dies nicht zuletzt, weil die Politik den Leuten immer vollkommene Sicherheit der Renten vorgegaukelt hat, ohne das Volk darüber aufzuklären, dass die Kapitalentwicklung und die Renten von nicht kontrollierbaren äusseren Faktoren abhängen (Lebenserwartung, Demografie, Renditen an den Finanzmärkten). So gibt es heute kaum eine politisch massgebende Kraft, die sich für eine echte Reform der Zweiten Säule aus dem Fenster zu lehnen wagt.

Dagegen haben es die Gegner einer nachhaltigen Reform im Sinne der Entstehungsgeschichte der beruflichen Vorsorge leicht, das Stimmvolk gegen Vorschläge zu mobilisieren, wie sie nun von den bürgerlichen Jungparteien lanciert worden sind. Die Jungparteien der Linken (SP und Grüne) haben sich bereits gemeldet und gemäss „Der Landbote“ Folgendes verlauten lassen:
„Die Juso würde am liebsten die zweite Säule abschaffen und stattdessen die AHV zu einer Volkspension ausbauen. «Wir verschliessen uns der Diskussion um die Zukunft der beruflichen Vorsorge aber nicht», sagt Juso-Präsidentin Ronja Jansen. Grundsätzlich unterstützten sie alles, was den Versicherten Vorteile brächte – ein tieferer Koordinationsabzug oder eine Kompensation für die Übergangsgeneration. Und sie bekämpften, was für sie von Nachteil sei, tiefere Renten etwa oder ein höheres Rentenalter. Dieses müsste aufgrund der höheren Produktivität im Gegenteil sinken, sicher auf 60 Jahre.“

Voller daneben ist kaum möglich. Unsere ewiggestrigen jungen Linken träumen weiterhin von einer Volkspension, die bereits 1972 vom Stimmvolk zugunsten des heutigen Dreisäulen-Systems abgelehnt wurde. Und wenn heute ausgerechnet junge Parteivertreter fordern, das Rentenalter müsste auf 60 Jahre sinken, muss man sich verwundert fragen, warum politische Kräfte, die solche Realitätsverweigerung betreiben, heutzutage in der veröffentlichten Meinung immer noch als progressiv gelten. Unsere meinungsmachenden Leute in Medien, Wissenschaft, Kultur, Politik und Verwaltung sollten sich einmal vertieft zu Peter Sloterdijks nur scheinbar paradoxer Aussage Gedanken machen, die er in einem Interview mit Radio SRF1 vor einigen Monaten formuliert hatte: “
„Ich würde mir am liebsten eine Zukunft vorstellen, in der konservative Positionen mehr und mehr in ihrer progressiven Wirkung wahrgenommen werden.“

Das Reformprojekt der bürgerlichen Jungparteien hat diese progressive Qualität.

Altersvorsorge: Plebiszitäre Blockade

Aus dem NZZ-Bericht über eine jüngst erstellte Umfrage der Beratungsfirma Deloitte geht hervor, dass ausgerechnet die älteren Generationen weiterhin in einer Haltung der Reformverweigerung verharren – und dies trotz längst bekannten ungelösten Finanzierungsproblemen in der Altersvorsorge. Eine Erhöhung des Rentenalters (für Frauen oder für beide Geschlechter) lehnen klare Mehrheiten der 50- bis 70-Jährigen ab. Die Ablehnung ist in der Romandie viel stärker als in der Deutschschweiz. Und bei den Frauen ist der Widerstand durchwegs stärker als bei den Männern.

Dass die Reformblockade auf Kosten der Jüngeren geschieht, stört die Reformgegner offenbar überhaupt nicht. Man ist möglicherweise moralisch dadurch entlastet, als man immer behaupten kann, man habe Anrecht auf mindestens die gleichen Leistungen, wie sie bisher schon galten. Zudem haben wir es in der Schweiz aus politischem Opportunismus fertig gebracht, Rentenansprüche weitestgehend in gesetzliche Anrechte zu giessen. Dies geschah ohne Rücksicht darauf, dass nicht nur die Finanzierbarkeit der BVG-Leistungen von unbeeiflussbaren Variablen abhängt, sondern auch diejenige in der umlagefinanzierten AHV.

Die notorischen Reformblockaden in Sachen AHV und BVG sind in der schweizerischen Referendumsdemokratie nur institutionell zu verstehen. Das Problem beginnt jeweils schon im Stadium der Einführung. Da das allgemeine Verständnis für die technische Funktionsweise von Rentensystemen dürftig ist, muss man Vorlagen „referendumssicher“ machen, indem man die Leute davon überzeugt, dass alles sicher und unter Kontrolle ist. Also gaukelt man dem Stimmvolk vor, es könnten sichere Renten quasi per Dekret garantiert werden. Zudem ist jeder Reformversuch wieder Referendumsrisiken ausgesetzt. Das Ergebnis lässt sich an der ernüchternden Reformbilanz seit mehr als 20 Jahren ablesen. In internationalen Rankings der Nachhaltigkeit von Rentensystemen ist die Schweiz denn auch nicht ohne Grund von früheren Spitzenplätzen bereits ins Mittelfeld zurückgefallen, da die meisten anderen Länder bereits Reformen eingeleitet oder zumindest angekündigt haben. Was die besten Rentensysteme auszeichnet, ist die starke Anlehnung an versicherungstechnische Regeln. Mit einer Regelbindung werden Renten der tages- bzw. wahlpolitischen Einflussnahme und politischem Opportunismus entzogen.

Die Spätfolgen des politischen Opportunismus in der Altersvorsorge lassen sich am ungebrochenen Widerstand gegen die Anpassung des Frauenrentenalters an dasjenige der Männer demonstrieren. Zu Beginn galt für beide Geschlechter das Rentenalter 65. Wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck der Hochkonjunktur wurde das Rentenalter der Frauen 1957 auf 63 gesenkt, 1964 auf 62. Die spätere Erhöhung in zwei Schritten auf 64 Jahre musste jeweils angesichts der Referendumsrisiken durch Konzessionen mit Kostenfolgen erkauft werden. Das langwierige Gezerre um das Frauenrentenalter 65 wird absehbar damit enden, dass gegen drohende Referenden wiederum Kompensationen durchgesetzt werden, die den Reformeffekt in Bezug auf die langfristige finanzielle Nachhaltigkeit der Rentensysteme weitgehend zunichte machen.

Unsere Jugendlichen kümmern sich wenig darum, dass die Älteren mit den diskutierten „politisch machbaren“ Pseudoreformen auch künftig auf Kosten der eigenen Nachkommen ein angenehm gepolstertes Alter geniessen. Lieber gehen sie auf die Strasse, um den Planeten zu retten.