Mehr Richterstaat, weniger Demokratie

Das Klimaschutz-Gesetz fördert die Spaltung der Gesellschaft

Dieser Text erschien am 5. Juni 2023 in der Online-Zeitschrift „Nebelspalter“ (mit Zahlschranke).

Im Abstimmungsbüchlein des Bundesrats steht unter „Ausganslage“ zum Klimaschutz-Gesetz: „Die Schweiz hat sich 2017 im Übereinkommen von Paris gemeinsam mit 192 weiteren Staaten und der EU verpflichtet, den Ausstoss von Treibhausgasen zu reduzieren.“ Die Genehmigung und Ratifizierung des Pariser Übereinkommens erfolgte im Juni 2017 per Bundesbeschluss. Das Referendum wurde nicht ergriffen, was verständlich wird, wenn man den offenen Absatz 3 in Artikel 1 des Bundesbeschlusses liest: „Das übermittelte nationale Reduktionsziel unterliegt keinen Einschränkungen bei der Umsetzung; der Inland- und der Auslandanteil am Reduktionsziel werden im Rahmen des nationalen Rechts festgelegt.“

Bis dahin also keine Rede von „netto null 2050“. Die Idee von Bundesrat und Parlament, „netto null 2050“ als Ziel in ein Gesetz zu schreiben, entstand unter dem Druck der „Gletscher-Initiative“. In Kombination mit dem Atomausstieg und einem möglichst hohen Inlandanteil bei der CO2-Reduktion haben wir nun eine Konstellation, die weitestgehend mit links-grünen Parteiprogrammen übereinstimmt. Das Motto lautet: Alles, was wir wollen, ist auch machbar.

Anreize für Klagen steigen

Die Abstimmung vom 18. Juni bietet den Leuten die Möglichkeit, mit einem Ja zum Gesetz klimapolitische Korrektheit zu signalisieren und sich dabei gut zu fühlen. Was die möglichen Folgen betrifft, wirkt das Sedativ der behördlichen Propaganda. Doch wenn die Schweiz mit der Annahme des Klimaschutz-Gesetzes das Ziel „netto null bis 2050“ ins Gesetz geschrieben haben wird, sind zwei Folgen zu beachten, die in der öffentlichen Debatte bisher kaum Gewicht hatten.

Während man früher noch versuchte, die Kosten der CO2-Reduktion pro Tonne für die verschiedenen Massnahmen bei Gebäuden oder im Verkehr und in der Industrie zu schätzen, spielt das mit der Verpflichtung „netto null“ keine Rolle mehr. Man muss auf null kommen, koste es, was es wolle, auch wenn die Reduktion pro Tonne zehn mal teurer ist als der CO2-Preis im Emissionshandel, der angibt, wie viel die Reduktion einer Tonne im Raum des europäischen Emissionshandels (EU-ETS) kostet. Zudem gilt „netto null“ auch unabhängig davon, ob die Schweiz in 27 Jahren 20, 30, 40 oder 50 Prozent mehr Einwohner hat als heute.

Der zweite Effekt besteht darin, dass die Formulierung von konkreten Ziel- und Richtwerten im Gesetz die Möglichkeiten und Anreize für Klagen an Gerichten steigert, wenn Zwischenziele der CO2-Reduktion verfehlt werden. Der Klageweg ist im Klimaaktivismus nicht neu, aber steigerungsfähig. Im Gesetz sind auch für die einzelnen Sektoren (Gebäude, Verkehr, Industrie) Richtwerte als Mindest-Reduktionswerte vorgegeben, was die Klageopportunitäten wesentlich erhöht. Wie wohlwollend gewisse Richter gegenüber militanten Klimaaktivisten und -aktivistinnen urteilen, haben wir an einigen Fällen bereits sehen können. Und für juristische Gratisverteidigung steht heutzutage das ideologisch richtig gepolte Anwaltspersonal willig bereit. Im Notfall kann man auch auf höchster Ebene jenseits der Landesgrenzen klagen. Das Urteil des EGMR in Strassburg, an das sich unsere KlimaSeniorinnen über alle beträchtlich partizipativ ausgestalteten eidgenössischen Institutionen hinweg gewendet haben, steht noch aus. Für unentgeltliche professionelle Beratung im Hinblick auf maximales Medienecho steht etwa der globalisierte Umwelt-Multi Greenpeace stets zu Diensten.

Unrealistische Richtwerte sorgen für einklagbare Ziellücken

„Netto null 2050“ erfordert zwingend die kaum realistischen Richtwerte im Gesetz als Zwischenziele. Die absehbaren Ziellücken werden einschneidende Massnahmen verlangen. Diese Warnung steht ja schon im Gesetz. Doch Widerstände gegen hohe Kosten, massive Eingriffe in den Lebensalltag und gegen die Verschandelung der Umwelt durch Anlagen der sogenannt Erneuerbaren werden sich auch in regelmässigen Referenden gegen neue gesetzliche Verschärfungen ausdrücken. Gleichzeitig werden die aktivistischen Klimaretter vermehrt an Gerichte gelangen, um die Politik zur Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen zu zwingen.

Es bleibt die ungute Aussicht, dass die ideologisch aufgeladene Klima- und Energiepolitik die Spaltung der Gesellschaft in mehrfacher Weise fördert. Nicht zuletzt wächst auch die Kluft zwischen den gut gebetteten akademisch gebildeten Eliten in den meinungsmächtigen Institutionen, die die offizielle Politik prägen, und den gewöhnlichen Menschen. Diese haben ihren Alltag zu bewältigen, ohne auf dem moralischen Hochsitz stets auch noch die „Rettung des Planeten“ im Auge zu haben.

Sommarugas Oxymoron

Nach der CO2-Gesetz-Niederlage soll ein Mantelerlass der Unvereinbarkeiten die netto-null-Klimapolitik retten

Nach der verlorenen Volksabstimmung über ihr Prestigeprojekt des revidierten CO2-Gesetzes kündigte Energieministerin Simonetta Sommaruga einen Mantelerlass unter dem Namen «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien» an. Eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien ist eine in sich widersprüchliche Begriffskombination. Es gibt noch auf lange Zeit hinaus keine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien. Aber Sommaruga ist ihrem ideologischen Wertekostüm und ihrer politischen Kundschaft verpflichtet und kann nicht über den eigenen Schatten springen. Das Anhängsel „mit erneuerbaren Energien“ ist reines Signalling links-grüner politischer Korrektheit.

Doch wenn eine Energieministerin in ihrer ideologischen Zwangsjacke stecken bleibt, bezahlen wir alle dafür. Die Niederlage an der Urne wäre eigentlich ein Rücktrittsgrund. Nur haben wir in unserem politischen System keine Rücktrittskultur entwickelt. Jedenfalls müssten wir jetzt die Gelegenheit nutzen, um die von Sommarugas Vorgängerin Doris Leuthard eingeleitete „Energiewende“ neu zu überdenken. Mit dem Scheitern des Rahmenabkommens mit der EU und geplatzten Hoffnungen auf ein Stromabkommen sollte auch in der Gehirnwäsche-Anstalt UVEK die Einsicht gereift sein, dass es allein mit Sonne und Wind kaum je eine sichere Stromversorgung geben wird. Martin Schlumpf hat aufgrund einer EMPA-Studie hier gezeigt, in welchem Ausmass eine massive PV-Aufrüstung und Elektrifizierung von Mobilität und Gebäuden bei Abschaltung der AKW nach 2030 die Versorgungssicherheit gefährden würde.

Doch wir haben in der Schweiz ein grosses Problem in Sachen Aufklärung der Bevölkerung. Die wichtigen meinungsmachenden Institutionen sind staatlich oder vom Staat abhängig: die ganze staatliche Bürokratie, Schule, Bildung und Hochschulen, Radio und Fernsehen der SRG, zahlreiche Kulturinstitutionen. Dort bewegen sich die Leute in einer links-grünen staats- und regulierungsfreundlichen Blase. Von dort gibt es kaum vernehmbare kritische Stimmen zur „Energiewende“ oder zum Oxymoron einer „sicheren Stromversorgung mit erneuerbaren Energien“. So wäre es auch keine Überraschung, wenn wir, trotz dem Volks-Nein zum neuen CO2-Gesetz, bei den nächsten Wahlen wieder eine grüne Sympathiewelle erleben würden. Wer in Wahlen und Abstimmungen Konsistenz des Stimmverhaltens erwartet, hat die Essenz unseres Systems noch nicht erfasst.

Noch einmal zu „netto null CO2“

Grüne Wahlerfolge und die Illusion einer aufgeklärten Gesellschaft

Unter dem Titel „Bevorstehende Wahlen zeigen, wie sich die Grünen von der SP emanzipieren“ erschien in der NZZ online vom 6. Februar ein langer Artikel zu den jüngsten Wahlerfolgen der Grünen auf Bundesebene und in verschiedenen Kantonen. „Es war ein Erfolg, den sie in diesem Ausmass selbst nicht hatten erwarten können: Bei den eidgenössischen Wahlen 2019 verdoppelten die Grünen ihren Wähleranteil fast und wurden mit 13,2 Prozent auf einen Schlag zur viertstärksten Kraft im Land.“ stand dort zu lesen. 

Ich schrieb dazu folgenden Kommentar: „Es ist schon erstaunlich, dass eine Partei, die das „Klimaziel“ netto null CO2 bis 2030 vertritt, solche Wahlerfolge feiert. In einer aufgeklärten Gesellschaft müsste eine Partei, die solche Verrücktheiten propagiert, massiv abgestraft werden. Gut, aufgeklärt waren wir früher mal, aber jetzt regrediert der Zeitgeist.“

Die grünen Wahlerfolge sind nur zu verstehen, wenn man das Idealbild des informierten, rational entscheidenden Wählers über Bord wirft. Gefragt ist Einsicht in eine plausible Wahl- und Abstimmungspsychologie. Sehr viele Leute wählen oder stimmen in einem abgekürzten Meinungsbildungsprozess aufgrund von Vorurteilen nach Bauchgefühl und auch nicht unbedingt direkt zur Sache, sondern symbolisch, um daraus emotionalen Nutzen zu ziehen. Grün wählen vermittelt das angenehme Gefühl, man tue etwas „für das Klima“, weil die Grünen die rabiatesten Forderungen zur Reduktion der CO2-Emissionen vertreten. So offerieren die Grünen den Leuten Entlastung von persönlichen Opfern für den „Klimaschutz“. Es handelt sich somit um eine Art Ablasshandel. Das passt auch gut zur grünen Ideologie mit ihrer religiösen Aura. Wer uns wählt, steht auf der Seite des Guten.

In der „Weltwoche“ 05/21 warnte ich in einem Beitrag vor grünen klimapolitischen Rezepten: