Volksabstimmung als symbolischer Akt

Zum Stempelsteuer-Referendum vom 13. Februar

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Es wäre langweilig, der Leserschaft all die bereits x-fach diskutierten Argumente zugunsten dieser volkswirtschaftlich vernünftigen Vorlage ein weiteres Mal vorzusetzen. Es gibt auf der institutionenkritischen Ebene einen interessanteren, weil vernachlässigten Zugang zum Thema. Abstimmungspropaganda hält uns selbsternannten Demokratieweltmeistern mehrmals jährlich den Spiegel vor. Aber wir wollen nicht reinschauen. Sonst könnte der Mythos vom klug entscheidenden Stimmvolk Schaden nehmen. Allerdings gibt es gelegentlich doch gewisse Zweifel an den Segnungen einer exzessiv partizipativen Demokratie.

Das Phänomen des «expressive voting»

Nationalrat Balthasar Glättli, Präsident der Grünen, beklagte sich über die Schwierigkeit, rechtzeitig genügend Unterschriften für das Referendum vom Mai 2019 gegen die STAF-Vorlage AHV-Unternehmenssteuern zu sammeln. Man müsse den Leuten auf der Strasse das Thema zuerst lange erklären. «Sie wissen nicht, um was es geht», sagte Glättli gemäss der »NZZ am Sonntag». Als wäre dieser Kombi-Deal in den Medien nicht schon ausführlich behandelt worden! Zudem waren sowohl die AHV wie auch die Unternehmenssteuern seit langem öffentlich-mediale Dauerthemen. Und beide waren erst 2017 Gegenstand von Volksabstimmungen, so dass man ein Vorwissen hätte erwarten können.

Im November 2018 kommentierte der Berner Politologe Klaus Armingeon in der »Neuen Zürcher Zeitung» eine Umfrage des Schweizer Datenarchivs Fors zu widersprüchlichen Meinungen zum Thema Bilaterale/EU-Rahmenabkommen in der Bevölkerung. Die Annahme, der Abstimmungsentscheid bei Integrationsfragen sei weitgehend vernunftgeleitet, beruhe auf Informationen und sei Folge eines Abwägens von Vor- und Nachteilen der konkreten Vorlage, sei sehr zu bezweifeln. Armingeon vermutete, dass die Leute Widersprüche gar nicht als solche empfinden, weil es ihnen nicht um die konkrete Vorlage gehe, sondern um grundsätzliche Ziele und Werte. Dafür spreche auch das bescheidene Wissen über die Vorlagen.

«Expressive voting» nennt man dieses Wahlverhalten in den USA. Dazu ein schweizerisches Muster: Vor der Abstimmung über das Energiegesetz vom Mai 2017 erklärte mir mein alter Schulfreund Hugo, weshalb er für das Gesetz stimme, gegen das die SVP als einzige Partei die Nein-Parole gefasst hatte: «Ich werde doch nicht Blocher helfen, eine Abstimmung zu gewinnen.» In jeder Abstimmung gibt es viele Hugos. Man stimmt nicht zum Thema ab, sondern man will aus der Abstimmung in einer Art symbolischem Akt emotionalen Gewinn ziehen.

«Polemik auf sehr tiefem Niveau»

Abstimmungen zu fiskalpolitischen Vorlagen, bei denen es, oberflächlich gesehen, um Steuersenkungen geht, sind besonders geeignet für «expressive voting». Das Referendum über die Abschaffung der Stempelsteuer steht ganz in dieser Tradition. So wiederholen sich die gegnerischen Schlagwort-Argumente jeweils wortwörtlich. Beim erfolgreichen Referendum vom Februar 2017 gegen die Unternehmenssteuerreform III hiess es: «Nein zum Unternehmenssteuer-Bschiss! Nein zu undurchsichtigen Steuertricks! Nein zu neuen Milliardenlöchern! Konzerne machen mit diesen Steuertricks Milliarden! Nein zum Bschiss an der Bevölkerung!» Der Freiburger Finanzwissenschafter Bernard Dafflon meinte dazu in einem Zeitungsinterview: «Der Text der Gegner ist reine Polemik auf sehr tiefem Niveau.»Gegen die Abschaffung der Stempelsteuer tönt es jetzt so: «….profitieren grösstenteils international tätige Grosskonzerne, Banken und Versicherungen. Nein zu diesem Stempelsteuer-Bschiss! Grosskonzerne, speziell aus der Finanzbranche, werden bereits heute stark bevorzugt… zahlen Finanzkonzerne bald gar keine Steuern mehr… unehrliche Verschleierungstaktik der Konzernlobby. Weitere Privilegien für Grosskonzerne sind bereits in der Pipeline.»

149 Lakaien von Grosskonzernen in der Bundesversammlung?

Referenden sind nicht bloss eine taktische Waffe, um eine Vorlage zu verhindern, sondern auch ein strategisches Mittel, um Referendumsmacht zu bestätigen. Die Linke demonstriert dies regelmässig auf ihren Lieblingsgebieten der Altersvorsorge, des Gesundheitswesens oder bei militärischen Rüstungsgeschäften. Und jetzt gerade wieder in der Steuerpolitik.

120 von 195 an der Abstimmung teilnehmenden Nationalräten und 29 von 44 Ständeräten haben der Stempelsteuervorlage zugestimmt. Das sind 62,3 Prozent Zustimmung. Sitzen in unserem Parlament 149 Lakaien von Finanz- und Grosskonzernen? Oder ebenso viele, die die Bevölkerung «bescheissen» wollen?Wenn wir institutionelle Hintergründe von Reformblockaden weiterhin tabuisieren, droht unserem Land auf wichtigen Gebieten der Stillstand. Selbst auf hohem Niveau ist Stillstand keine Option. Eine Verwesentlichung der direkten Volksrechte könnte darin bestehen, dass ein Referendum gegen eine Vorlage nur dann erfolgreich ist, wenn die prozentuale Ablehnung mindestens so hoch ausfällt wie die prozentuale Zustimmung im Parlament. Das ist natürlich nur mal eine spontane Idee. Diese könnte aber eine Debatte über das durch verschiedene Entwicklungen gestörte Gleichgewicht der Institutionen anstossen.

Alternativlose Politik auch bei uns?

Gedanken zur Abstimmung vom 13. Juni über das revidierte CO2-Gesetz

Unsere UVEK-Bundesrätin Simonetta Sommaruga wird nicht müde, vor einem Nein zum neuen CO2-Gesetz zu warnen und den Teufel an die Wand zu malen. Sie spricht von einem grossen Rückschlag im Kampf gegen den Klimawandel und warnt, die Schweiz könnte dann ihre CO2-Reduktionsziele aus dem Klimaabkommen von Paris („Paris 2015“) nicht mehr einhalten. Zunehmend scheinen wir aufgrund solcher Aussagen vor alternativlosen Situationen zu stehen. Meisterin der alternativlosen Politik ist bekanntlich Bundeskanzlerin Angela Merkel. Für sie ist der Euro alternativlos, die Energiewende und der Atomausstieg sind es auch, und irgendwann entstand der Eindruck, sie selbst sei es auch.

Für BR Sommaruga droht mit einem Scheitern des CO2-Gesetzes an der Urne der grosse Scherbenhaufen. Doch in der Politik ist nie etwas alternativlos, selbst nach so überstürzten Fehlentscheiden wie der deutschen und der schweizerischen Energiewende. Man kann durch Einsicht und praktische Erfahrung immer noch schlauer werden und frühere Entscheidungen korrigieren. Oder man könnte auch vorausschauend über Plan B und C nachdenken. Von Churchill stammt der Ausspruch, Sicherheit liege in der Vielzahl der Variablen, die einem als Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden.

In ihrem Gespräch über das neue CO2-Gesetz steigen Martin Schlumpf und Hans Rentsch in ihrem neuen schlumpf&rentsch-Podcast quasi hinunter in die Niederungen der Tagespolitik. Allerdings dreht sich das Gespräch nicht um die Pro- und Kontra-Aussagen im bereits tobenden Zahlenkrieg um die Belastung der Haushalte durch die Verteuerung fossiler Energie. Vielmehr versuchen s&r, ihr eigenes Dilemma zu klären: Kann man diesem Gesetz positive Seiten abgewinnen – weil es über den CO2-Preis durchaus eine CO2-senkende Wirkung verspricht, – wenn man im Grunde die schweizerische Energiewende als illusionäres Projekt betrachtet?

Zuerst zeigen s&r die marginalen Proportionen schweizerischer Klimapolitik im internationalen Kontext. Zum Gesetz positiv vermerkt wird die Tatsache, dass die nachteiligen Folgen des weltrekordverdächtigen CO2-Preises gemäss Gesetz durch die mehrheitliche Zurückerstattung an die Haushalte wenigstens teilweise abgedämpft werden. Dass im Rahmen der schweizerischen Institutionen ein Gesetz nicht ökonomischer, sondern politischer Rationalität genügen muss, also ein Referendum überstehen sollte, zeigt sich auch beim CO2-Gesetz mit seinem breit angelegten Instrumentenkasten inklusive Klimafonds mit Fördermitteln zugunsten zahlreicher hoffender Nutzniesser in bester Tradition.

Alle Podcasts von Hans Rentsch und Martin Schlumpf sind auf ihrem YouTube-Kanal schlumpf&rentsch zu sehen. Kommentare sind willkommen.

Hugo und das Energiegesetz

In ihrem neuen Video-Podcast sprechen schlumpf&rentsch über die Meinungsbildung beim gescheiterten Referendum gegen das Energiegesetz (EnG) vom Mai 2017. Zuerst wird gezeigt, wie die politischen Behörden unter Ausnützung der verstärkten Anti-AKW-Stimmung nach dem Unfall von Fukushima die 58 Prozent Ja-Stimmen zur Vorlage „organisierten“. Wichtig war ein simples, für den Durchschnittsbürger plausibles Narrativ: Wir ersetzen die „bösen“ AKW durch die „guten“ Erneuerbaren Sonne und Wind. Ganz nach dem Merkel’schen Motto „Wir schaffen das“ – technische, ökonomische und politische Grenzen des politischen Wünschens hin oder her.

Danach erläutert Hans Rentsch auf Fragen von Martin Schlumpf, wie sogenanntes „expressive voting“ in dieser Volksabstimmung eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat. Die Anekdote mit seinem Jugendfreund Hugo illustriert dies, schildert aber keinen Einzelfall. Es gab in dieser Abstimmung viele „Hugos“. Ins Kapitel „expressive voting“ gehört auch das Ergebnis der VOTO-Nachbefragung zur Abstimmung, dass die Hochgebildeten mit akademischem Abschluss mit 70 Prozent JA-Stimmen die höchste Zustimmungsrate zum EnG erzielten. Viele unter diesen Eliten halten sich für politisch besonders gut informiert, pflegen aber ein fest gefügtes Weltbild. „Having opinions“ gehört für sie zur persönlichen Ausstattung. Diese Meinungen gelten auch als Ausdruck moralisch höherer Werte und werden gegen Sachargumente und neue Information mit aller Kraft verteidigt.

„Werte muss man sich leisten können“, schrieb der Kulturwissenschafter Wolfgang Ullrich in einem Beitrag in der NZZ vom 3. Januar 2018. Werte zur Geltung zu bringen, sei an Ressourcen und Aufwand gebunden. Deshalb sei die Lebensorientierung an Werten „die Seligkeit nur von Eliten“. Der „neue Moraladel“ könne es sich dank seiner privilegierten sozialen Stellung leisten, einen wertebewussten Lebensstil zu verwirklichen und sich damit auch über andere Menschen zu erheben. Zentral sei dabei das Empfinden eines guten Gewissens. Dass solche Befriedigungen in materiell gesättigten Gesellschaften bis in die Mittelschichten überhandnehmen können, lässt sich anhand der berühmten Bedürfnispyramide von Maslow erklären.