Wer stoppt Maillard?

Dieser Text erschien auf „Nebelspalter online“ vom 21. April 2024.

Das Debakel der beiden AHV-Abstimmungen vom 3. März wird weitherum nicht als solches wahrgenommen. Lieber feiert man den triumphierenden Gewerkschaftspräsidenten Maillard als den neuen „Blocher der Linken“. Christoph Blocher hatte im Referendum über den Beitritt zum EWR im Dezember 1992 das ganze politische und wirtschaftliche Establishment besiegt. Beim EWR gab es im Nationalrat eine Mehrheit von 128 zu 58 für den Beitritt, im Ständerat sogar 38 zu 2.

Seither gab es immer wieder Referenden, bei denen das Parlament mit klaren Mehrheiten für gewichtige Reformen votierte, die aber, mit der politischen Linken in einer Hauptrolle, vom Volk teils mit erdrückenden Mehrheiten abgelehnt wurden.

  • Es begann im Jahr 2002 mit dem Elektrizitätsmarkt-Gesetz. Der Nationalrat hatte diesem mit 160 Ja zu 24 Nein überdeutlich zugestimmt, der Ständerat mit 36 zu 2. Das Stimmvolk lehnte das Gesetz mit 53 Prozent Nein-Stimmen ab.
  • Bei der Volksabstimmung über die 11. AHV-Revision von 2004 waren die Ja-Mehrheiten in den Räten geringer, die Ablehnung durch das Stimmvolk mit nur 32 Prozent Ja-Stimmen dafür umso deutlicher.
  • Noch massiver verloren Bundesrat und Parlament im Jahr 2010 das Referendum gegen die BVG-Revision mit Senkung des Umwandlungssatze mit nur 27 Prozent Ja-Stimmen sowie im Jahr 2012 das Referendum gegen die KVG-Managed Care-Vorlage mit bloss 24 Prozent Ja-Stimmen.
  • Die Unternehmenssteuer-Reform III wurde im Referendum von 2017 mit 59 Prozent Nein-Stimmen verworfen. Im Parlament lauteten die Ja-Mehrheiten 139 zu 55 im Nationalrat und 29 zu 10 im Ständerat.
  • Als jüngstes Beispiel eines linken Abstimmungssiegs gegen Bundesrat und Parlament haben wir nun den Fall der 13. AHV-Rente. Der Nationalrat hatte die Initiative der Gewerkschaften mit 126 zu 69 abgelehnt. Im Ständerat gab es 31 Nein zu 10 Ja.

Quoren für Volksabstimmungen?

Bei Volksinitiativen und Referenden geht es nie einfach nur um die konkrete Sache an sich. Die direkte Demokratie erlaubt besondere Machtspiele. Gewinnt eine Partei oder ein Interessenverband eine Volksabstimmung, steigert dies immer auch die Verhandlungs- und Referendumsmacht, und zwar mit beträchtlicher Vorauswirkung auf die Gesetzgebung. Der oft gehörte Satz „das ist politisch nicht machbar“ ist symptomatisch. Nicht zufällig bereicherte auch der frühere Bundesrat Berset mit dieser Floskel die Diskussion um eine Erhöhung des Rentenalters. Eine unbefangene Sichtung der wichtigsten Volksabstimmungen seit der Jahrtausendwende stützt die These einer schleichenden Sozialdemokratisierung der Schweiz. Und dieser Prozess läuft weiter.

Eine ideologiefreie Analyse führt zum Schluss, dass mit der Häufung von Volksinitiativen das Gleichgewicht zwischen den repräsentativen Organen Bundesrat und Parlament einerseits und den Volksrechten der stimmberechtigten Bevölkerung anderseits aus den Fugen geraten ist. Als eine unter vielen denkbaren Reformansätzen könnte man Quoren für Volksabstimmungen einführen. Der Vorteil von kruden Mehrheitsabstimmungen nach heutigen Regeln – 50 Prozent plus eine Stimme – ist deren Einfachheit. Sonst spricht wenig dafür. Als Diskussionsbeitrag folgt ein Vorschlag.

Wenn eine Vorlage im Parlament eine bestimmte Ja-Mehrheit (bei Referenden) oder Nein-Mehrheit (bei Volksinitiativen) überschreitet, braucht es in der Volksabstimmung für einen Abstimmungssieg auch höhere Mehrheiten als 50 Prozent plus eine Stimme. Eine krude Regel wäre „gleiche Mehrheiten wie im Parlament, einfach umgekehrt“. Natürlich sind auch mildere Quoren denkbar.

Eine Lösung für das Ständemehr wäre noch zu finden. Mehrheitsregeln zu ändern ist ein möglicher Ansatz. Doch auch die Regeln für das Zustandekommen von Volksinitiativen müssten heutigen Verhältnissen angepasst werden. Eigentlich lautet die Grundfrage: Sind Reformen der direkten Volksrecht überhaupt noch diskutierbar oder haben wir inzwischen ein derart religiöses Verhältnis zur direkten Demokratie, dass jeder Versuch, eine Reformdiskussion anzustossen, als Sakrileg gilt?

Volksabstimmung als symbolischer Akt

Zum Stempelsteuer-Referendum vom 13. Februar

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Es wäre langweilig, der Leserschaft all die bereits x-fach diskutierten Argumente zugunsten dieser volkswirtschaftlich vernünftigen Vorlage ein weiteres Mal vorzusetzen. Es gibt auf der institutionenkritischen Ebene einen interessanteren, weil vernachlässigten Zugang zum Thema. Abstimmungspropaganda hält uns selbsternannten Demokratieweltmeistern mehrmals jährlich den Spiegel vor. Aber wir wollen nicht reinschauen. Sonst könnte der Mythos vom klug entscheidenden Stimmvolk Schaden nehmen. Allerdings gibt es gelegentlich doch gewisse Zweifel an den Segnungen einer exzessiv partizipativen Demokratie.

Das Phänomen des «expressive voting»

Nationalrat Balthasar Glättli, Präsident der Grünen, beklagte sich über die Schwierigkeit, rechtzeitig genügend Unterschriften für das Referendum vom Mai 2019 gegen die STAF-Vorlage AHV-Unternehmenssteuern zu sammeln. Man müsse den Leuten auf der Strasse das Thema zuerst lange erklären. «Sie wissen nicht, um was es geht», sagte Glättli gemäss der »NZZ am Sonntag». Als wäre dieser Kombi-Deal in den Medien nicht schon ausführlich behandelt worden! Zudem waren sowohl die AHV wie auch die Unternehmenssteuern seit langem öffentlich-mediale Dauerthemen. Und beide waren erst 2017 Gegenstand von Volksabstimmungen, so dass man ein Vorwissen hätte erwarten können.

Im November 2018 kommentierte der Berner Politologe Klaus Armingeon in der »Neuen Zürcher Zeitung» eine Umfrage des Schweizer Datenarchivs Fors zu widersprüchlichen Meinungen zum Thema Bilaterale/EU-Rahmenabkommen in der Bevölkerung. Die Annahme, der Abstimmungsentscheid bei Integrationsfragen sei weitgehend vernunftgeleitet, beruhe auf Informationen und sei Folge eines Abwägens von Vor- und Nachteilen der konkreten Vorlage, sei sehr zu bezweifeln. Armingeon vermutete, dass die Leute Widersprüche gar nicht als solche empfinden, weil es ihnen nicht um die konkrete Vorlage gehe, sondern um grundsätzliche Ziele und Werte. Dafür spreche auch das bescheidene Wissen über die Vorlagen.

«Expressive voting» nennt man dieses Wahlverhalten in den USA. Dazu ein schweizerisches Muster: Vor der Abstimmung über das Energiegesetz vom Mai 2017 erklärte mir mein alter Schulfreund Hugo, weshalb er für das Gesetz stimme, gegen das die SVP als einzige Partei die Nein-Parole gefasst hatte: «Ich werde doch nicht Blocher helfen, eine Abstimmung zu gewinnen.» In jeder Abstimmung gibt es viele Hugos. Man stimmt nicht zum Thema ab, sondern man will aus der Abstimmung in einer Art symbolischem Akt emotionalen Gewinn ziehen.

«Polemik auf sehr tiefem Niveau»

Abstimmungen zu fiskalpolitischen Vorlagen, bei denen es, oberflächlich gesehen, um Steuersenkungen geht, sind besonders geeignet für «expressive voting». Das Referendum über die Abschaffung der Stempelsteuer steht ganz in dieser Tradition. So wiederholen sich die gegnerischen Schlagwort-Argumente jeweils wortwörtlich. Beim erfolgreichen Referendum vom Februar 2017 gegen die Unternehmenssteuerreform III hiess es: «Nein zum Unternehmenssteuer-Bschiss! Nein zu undurchsichtigen Steuertricks! Nein zu neuen Milliardenlöchern! Konzerne machen mit diesen Steuertricks Milliarden! Nein zum Bschiss an der Bevölkerung!» Der Freiburger Finanzwissenschafter Bernard Dafflon meinte dazu in einem Zeitungsinterview: «Der Text der Gegner ist reine Polemik auf sehr tiefem Niveau.»Gegen die Abschaffung der Stempelsteuer tönt es jetzt so: «….profitieren grösstenteils international tätige Grosskonzerne, Banken und Versicherungen. Nein zu diesem Stempelsteuer-Bschiss! Grosskonzerne, speziell aus der Finanzbranche, werden bereits heute stark bevorzugt… zahlen Finanzkonzerne bald gar keine Steuern mehr… unehrliche Verschleierungstaktik der Konzernlobby. Weitere Privilegien für Grosskonzerne sind bereits in der Pipeline.»

149 Lakaien von Grosskonzernen in der Bundesversammlung?

Referenden sind nicht bloss eine taktische Waffe, um eine Vorlage zu verhindern, sondern auch ein strategisches Mittel, um Referendumsmacht zu bestätigen. Die Linke demonstriert dies regelmässig auf ihren Lieblingsgebieten der Altersvorsorge, des Gesundheitswesens oder bei militärischen Rüstungsgeschäften. Und jetzt gerade wieder in der Steuerpolitik.

120 von 195 an der Abstimmung teilnehmenden Nationalräten und 29 von 44 Ständeräten haben der Stempelsteuervorlage zugestimmt. Das sind 62,3 Prozent Zustimmung. Sitzen in unserem Parlament 149 Lakaien von Finanz- und Grosskonzernen? Oder ebenso viele, die die Bevölkerung «bescheissen» wollen?Wenn wir institutionelle Hintergründe von Reformblockaden weiterhin tabuisieren, droht unserem Land auf wichtigen Gebieten der Stillstand. Selbst auf hohem Niveau ist Stillstand keine Option. Eine Verwesentlichung der direkten Volksrechte könnte darin bestehen, dass ein Referendum gegen eine Vorlage nur dann erfolgreich ist, wenn die prozentuale Ablehnung mindestens so hoch ausfällt wie die prozentuale Zustimmung im Parlament. Das ist natürlich nur mal eine spontane Idee. Diese könnte aber eine Debatte über das durch verschiedene Entwicklungen gestörte Gleichgewicht der Institutionen anstossen.

Der geheiligte diffuse Volkswille

Spontane Nachbetrachtung zum erfolgreichen Referendum gegen das revidierte CO2-Gesetz

Mit 51,6 Prozent Nein-Stimmen wurde am 13. Juni das neue CO2-Gesetz abgelehnt. Ein knappes Nein. In Kommentaren hörte und las man, der Bundesrat hätte die Abstimmung nicht am gleichen Datum wie die beiden Agrar-Initiativen ansetzen sollen. Diese Initiativen hätten die überwiegend nicht-linke ländliche Bevölkerung auch gegen das CO2-Gesetz mobilisiert, was sich auch in der sehr hohen Stimmbeteiligung von fast 60 Prozent ausdrückt.

Diese Argumentation klingt durchaus plausibel. Die Zusammenstellung des Abstimmungspakets für ein bestimmtes Datum hat schon immer eine Rolle für die Abstimmungsergebnisse gespielt. Das ist in der politischen Forschung längst bekannt. Worüber aber weniger gesprochen wird, ist die Konsequenz für die Interpretation des sakralisierten Volkswillens. Wenn die Zusammenstellung der Vorlagen ohne weiteres ein (knappes) Abstimmungsergebnis umkehren könnte, sollte man vielleicht mit dem „Volkswillen“ etwas vorsichtiger umgehen, was angesichts des simplen Ja-Nein-Schemas ohnehin angezeigt wäre.

Was auch noch auffällt: In Kommentaren wird jetzt wieder stereotyp auf den Stadt-Land-Graben verwiesen. Dieser ist aber nur ein Abbild der demografisch-politischen Verschiebungen zwischen Stadt und Land. Heute dominiert Rot-grün in Exekutiven und Legislativen praktisch alle grösseren Städte der Schweiz, ein Abbild der politischen Einstellungen der städtischen Bevölkerung. Stadt-Land ist heute schlicht und einfach die oberflächliche Sicht des Gegensatzes von links versus nicht-links.

Hugo und das Energiegesetz

In ihrem neuen Video-Podcast sprechen schlumpf&rentsch über die Meinungsbildung beim gescheiterten Referendum gegen das Energiegesetz (EnG) vom Mai 2017. Zuerst wird gezeigt, wie die politischen Behörden unter Ausnützung der verstärkten Anti-AKW-Stimmung nach dem Unfall von Fukushima die 58 Prozent Ja-Stimmen zur Vorlage „organisierten“. Wichtig war ein simples, für den Durchschnittsbürger plausibles Narrativ: Wir ersetzen die „bösen“ AKW durch die „guten“ Erneuerbaren Sonne und Wind. Ganz nach dem Merkel’schen Motto „Wir schaffen das“ – technische, ökonomische und politische Grenzen des politischen Wünschens hin oder her.

Danach erläutert Hans Rentsch auf Fragen von Martin Schlumpf, wie sogenanntes „expressive voting“ in dieser Volksabstimmung eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat. Die Anekdote mit seinem Jugendfreund Hugo illustriert dies, schildert aber keinen Einzelfall. Es gab in dieser Abstimmung viele „Hugos“. Ins Kapitel „expressive voting“ gehört auch das Ergebnis der VOTO-Nachbefragung zur Abstimmung, dass die Hochgebildeten mit akademischem Abschluss mit 70 Prozent JA-Stimmen die höchste Zustimmungsrate zum EnG erzielten. Viele unter diesen Eliten halten sich für politisch besonders gut informiert, pflegen aber ein fest gefügtes Weltbild. „Having opinions“ gehört für sie zur persönlichen Ausstattung. Diese Meinungen gelten auch als Ausdruck moralisch höherer Werte und werden gegen Sachargumente und neue Information mit aller Kraft verteidigt.

„Werte muss man sich leisten können“, schrieb der Kulturwissenschafter Wolfgang Ullrich in einem Beitrag in der NZZ vom 3. Januar 2018. Werte zur Geltung zu bringen, sei an Ressourcen und Aufwand gebunden. Deshalb sei die Lebensorientierung an Werten „die Seligkeit nur von Eliten“. Der „neue Moraladel“ könne es sich dank seiner privilegierten sozialen Stellung leisten, einen wertebewussten Lebensstil zu verwirklichen und sich damit auch über andere Menschen zu erheben. Zentral sei dabei das Empfinden eines guten Gewissens. Dass solche Befriedigungen in materiell gesättigten Gesellschaften bis in die Mittelschichten überhandnehmen können, lässt sich anhand der berühmten Bedürfnispyramide von Maslow erklären.